August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):
Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.
(S.1)
Einleitung
Als ich einst, vor acht und dreißig Jahren, am Fuße des akademischen Katheders saß, des Willens, „Theologie zu studieren“, machte keins der vielen Worte, welche ich von jenem Katheder vernahm, einen stärkeren – im Anfange erschreckenden, bald verlockenden – Eindruck auf mich, als die Erinnerung, mit welcher ein Lehrer der Dogmatik gar manche Abschnitte dieser Disziplin zu begleiten und zu schließen pflegte: „in futuram oblivionem, meine Herrn!“ Es waren das vorzugsweise die Abschnitte vom Glauben, von der Rechtfertigung durch den Glauben, von der Person Christi, von den Sakramenten und von den Gnadengaben des heiligen Geistes. Damit war es also nichts; nur für die Feder und das Papier, höchstens für das Examen zum Lernen und Wiedervergessen bestimmte Worte und Formeln, Schemata und Schemen waren alle diese Dinge, höchstens dazu gut genug, um eine theologische chria aphthoniana daraus und darnach anzufertigen. Aber mit den andern Dingen, welche jene Dogmatik enthielt, war es nicht anders bestellt, wenn auch der Beisatz „in futuram oblivionem“ sie nicht begleitete: dass ein Gott sei, wurde uns nicht offenbar, sondern dunkel und immer dunkler in dieser Dogmatik, die „Unsterblichkeit“ wurde uns mehr als zweifelhaft, die Sündenvergebung vergeblich – ein modus loquendi für das „sittliche Streben“ – und das Opfer auf Golgatha zu nichte gemacht. Waren jene Dinge Worte und Formeln, warum nicht auch diese? Von den Seelen, welche demnächst auf unsere Seelen gelegt werden sollten, damit wir für ihre Seligkeit einstehen sollten vor dem Herzog unserer Seligkeit, war keine Rede. Getreulich habe ich alle jene Dinge gelernt, die in futuram oblivionem gelehrten, wie die andern, doch beide nicht in futuram (S.2) oblivionem. Ich suchte nach Gewissheit, nach einem festen Boden, auf dem ich in der Welt stehen und von welchem aus ich mit fester Hand die Welt anfassen konnte, und so schlug ich geduldig mehrere Jahre lang Blatt für Blatt in meiner geschriebenen und in gar mancher gedruckten Dogmatik um und wieder um, vorwärts, wieder zurück und abermals vorwärts, um zwischen diesen Blättern die Speise des Lebens zu finden, wie Eulenspiegels Esel Blatt um Blatt in seinem Folianten unermüdet umschlug, um zwischen den Blättern die gehofften Haferkörner zu entdecken. Ich fand diese Speise des Lebens nicht; aber Gewissheit – ja, die fand ich. Die Theologie, wie sie war, bestand nur im Blattumschlagen; darüber blieb mir kein Zweifel. Ich unterließ das Blattumschlagen und unterließ es, nach Worten zu suchen. Die Worte gewährten keine Gewissheit und keine Nahrung des Lebens. Ich verwarf die Worte und – Sachen hatte die Theologie nicht. In diesem Nichts liegt auch eine Gewissheit. Ich habe sie kennen gelernt; die Theologie der Worte drängte mich unaufhaltsam dieser Gewissheit entgegen, und fiel „wie mürber Zunder“ ab, als ich zu dieser Gewissheit des Nichts gelangt war, für welche es mir nicht eingefallen wäre, die Theologie der Ungewissheit, die Worte, wieder einzutauschen – Lumpen für das Königsgewand des Fürsten dieser Welt, Schuldispute für ein Herrscherwort, Rechenpfennige und Landkarten für die Herrlichkeiten dieser Welt und die Herrschaft über ihre Reiche weit und breit. Wie sollte mir dieser Tausch zu Sinne gekommen sein? Ich verachtete die Theologie der ungewissen Worte von Grund des Herzens und diese Verachtung hat mich nicht wieder verlassen. Aber die Gewissheit des Nichts verließ mich, verließ mich bald; an ihr lernte ich erkennen, dass es in der Tat eine Gewissheit, dass es noch eine andere Gewissheit gebe, als die Gewissheit des Nichts und des Teufels: eine Gewissheit des lebendigen, persönlichen, gegenwärtigen, im Fleische erschienenen barmherzigen Gottes, eine Gewissheit der ewigen Seligkeit. Zudem nahm dieser barmherzige Gott eben damals Sein zweischneidiges Schwert zur Hand, und schnitt zu wiederholten Malen kurz nach einander mir zwischen Mark und Bein und Seel und Geist hindurch, also dass ich der Lebendigkeit und Kräftigkeit und unzweifelhaften Gewissheit Seines Wortes inne ward. (S.3) Heute, nach fast vierzig Jahren, stehe ich selbst auf dem theologischen Katheder und sehe von diesem Katheder und von meinem Schreibtisch aus hinein in dasselbe Zimmer, in welchem mir einst die Theologie der futura oblivio verkündigt wurde: ich erkenne die Stätte, wo der Lehrer stand, und die Stelle wo ich selbst gesessen habe. Nicht ohne tiefe Bewegung schaue ich durch die Fenster jenes Zimmers: Bist Du, fragen mich jene Räume, bist Du im Stande, eine Theologie zu lehren, die nicht in futuram oblivionem ist, wie jene es sein sollte und für Viele auch war? eine Theologie, welche nicht bloß in Worten, Formeln und Schematismen besteht? eine Theologie, von welcher sich dereinst nicht mit Verachtung abgewendet wird? Bist Du, am Abend des Lebens, ohne Dein Zutun und wider Deinen Willen an diese Lehrstätte gesetzt, im Stande, eine Theologie zu lehren, welche das gibt, was Du einst umsonst gesucht, auf langen Umwegen und Irrwegen gesucht, und zwar gefunden, aber nicht in der akademischen Theologie noch durch die akademische Theologie gefunden hast? eine Theologie der unzweifelhaften göttlichen Gewissheit, zur Seelenpflege und zur Speise des ewigen Lebens, denen mitgegeben, welche hören, damit sie gleiche Gewissheit, gleiches Brot des Lebens hinaustragen können zu den Seelen, welche ihnen dereinst werden anvertraut werden? Überflüssig sind diese Fragen weder für mich noch für irgend einen im theologischen Lehramt Stehenden; eben so wenig, ja noch weit weniger überflüssig, als sie es vor vierzig Jahren gewesen wären, wo nicht leicht Jemand darauf verfallen sein würde, sich dieselben vorzulegen. Wohl ist es in diesen vierzig Jahren anders und besser geworden in gar manchem Betracht: ansehnliche Strecken des öden Feldes der Theologie sind wieder saatengrün geworden, und die zerstreuten Beine auf dem Kirchengefilde haben sich wieder gesammelt und mit Adern und lebendigem Fleisch sich überzogen. Die Theologie der Worte von damals ist aber dennoch nicht nur noch immer vorhanden, sondern sie ist in weit höherer Ausbildung und mit weit größerer Verführungskunst noch heute vorhanden. Aus der noch halb kindischen Theologie der Buchstaben und Worte vor vierzig bis fünfzig Jahren, aus der elementaren Theologie der Abecedarier, Vokabulisten und Grammatisten jener Zeit ist (S. 4) eine Theologie der Rhetorik erwachsen, sich selbst und Andere täuschend, gleich jener, aber mit weit größerer Kunst täuschend; jene hatte gar oft kein Hehl, dass sie nichts wisse und nichts zu geben vermöge: diese weiß alles und vermag Alles zu geben, denn sie ist Wissenschaft und gibt Wissenschaft, – ein Wort, welches damals fast nur noch in dem einfachen römischen Sinn von scientia, doctrina, ars gebraucht wurde, und keine sonderlichen Ansprüche in sich schloss, während es heut zu Tage das Bannwort auf fast allen Gebieten des menschlichen Lebens, auf vielen, und vorzugsweise auf dem Gebiete der Theologie ein Fluchwort geworden ist. Die Theologie der Rhetorik hat übrigens dieses ihr Bannwort erst von einer andern Theologie geborgt: von der Theologie der Dialektik und der Naturkunde, die man geradezu als die Theologie des Abfalls bezeichnen kann. Mit dieser Theologie der Dialektik und Physik habe ich es für jetzt nicht zu tun, wohl aber wird das von derselben entlehnte Bannwort „Wissenschaft“, durch welches die Theologie der Rhetorik erst geworden ist was sie ist, mehr als einmal Gegenstand der Betrachtung werden müssen. Wie ich mir jene Fragen beantworte, und wie ich dieselben Tatsächlich zu lösen versuchen will, so viel dies am Eingange des Greisenalters noch möglich ist, davon sollen diese Blätter Rechenschaft geben; dass sie zu gleicher Zeit eine Abwehr gegen Angriffe enthalten, welche die Theologie der Rhetorik gegen die Vertreter der Tatsachen des göttlichen Lebens in der Kirche, insbesondere gegen mich gerichtet hat, wird sich bei den einzelnen Abschnitten ausweisen.