August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):

Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.


X. Homiletik.

 

Die Homiletik der Universitäten nicht allein, sondern auch die Predigtweise, wie sie bei uns noch überwiegend herrschend ist, trägt noch immer den Charakter einer überwiegend rhetorischen Zeit; einer Zeit, in welcher nicht nur als unerschütterliches Axiom feststand, dass die Predigt der alleinige Inhalt des Gottesdienstes sei, sondern in welcher auch die ästhetische Darstellung, somit die Rhetorik im eigentlichsten Verstande, die ausschließliche Norm der Homiletik und der Predigt war. Dem Stoffe stand man fern, und zog denselben nur von außen her in seinen Bereich; von einer Gemeinde, welche man vor sich haben müsse, wusste man nichts, sondern nur von einem Publikum, und von einer „Wirkung“ auf dieses „zuhörende Publikum“ wusste man nur in so fern, als man sich stritt, ob man „durch den Kopf auf das Herz, oder durch das Herz (S.102) auf den Kopf wirken solle“, wie ich das noch selbst erlebt habe. Der Erfolg war, dass weder für das „Herz“ noch für den „Kopf“, aber wohl an den Herzen vorbei und über die Köpfe hinweg, zuweilen für die Schnupftücher, gewiss aber und allezeit das „Publikum“ zur Kirche hinaus gepredigt wurde. Diese Zeit ist noch nicht gänzlich überwunden; die rhetorische Theologie, welche allerdings wieder darauf hält, dass „biblisch“ gepredigt werden müsse, stellt doch noch immer in erster Linie die alte, wenn schon hin und wieder etwas modifizierte Forderung auf, dass die Predigt ein Kunstprodukt sein müsse, und gibt für das Disponieren noch immer Regeln, welche nicht allein aus der Kantischen, sondern sogar noch aus der Wolfischen Formelphilosopie stammen – wo nicht gar hin und wieder in der Homiletik sogar Hegelsche Kategorien spuken. Daher denn das Zugeknöpfte, Steife, Trockene, Hölzerne, Gedrechselte, was unsere Kandidaten von den Universitäten auf die Kanzeln mitbringen, das ihnen oft gar ernstlich und mit leider nur zu gutem Erfolge eingeprägte Vermeiden aller „Entschiedenheit“, was, wie ich mehr als einmal mich überzeugt habe, zu einem ganz offenbaren Ja und Nein in einer und derselben Predigt führen kann, zu einem versteckten Ja und Nein, mithin zu gänzlicher Ohnmacht und Leere der Predigt führen muss; daher das Flaue und Dünne der Darstellung, weil vor den „Bildern“ des alten Testaments, vor den „Spitzen und Ecken“ gewarnt worden ist, daher endlich die Sprache, welche dem Volke seit langer Zeit eine gänzlich unverständliche geworden ist, so dass mit Fug behauptet werden kann, das Volk würde sich an einer lateinischen Liturgie vollkommen so gut wo nicht besser erbauen, als an vielen unserer modernen, die Sprache der Katheder, Bücher und Salons redenden deutschen Predigten. Dazu fehlt es dann an aller Bibelkenntnis; die herkömmlichen Zitate kommen zwar wohl in den Predigten vor, aber nur zu oft sind diese Zitate gerade die allgemeinsten Stellen, während die konkreteren, direkt einschlagenden, mitunter geflissentlich gemieden, mitunter gar nicht gekannt werden, und die Geschichte der heiligen Schrift, als unbekannt oder als „allzu bekannt“ wie mir einst ein Kandidat als Entgegnung auf meinen Tadel seiner aller Geschichte entbehrenden Predigt ganz treuherzig sagte, vorbei gelassen wird. Von solchen Predigten, auch (S.103) denen die in bester Meinung gehalten werden, lässt sich kaum noch sagen, dass sie Gottes Wort wären, ja kaum, dass sie Gottes Wort enthielten. Jedenfalls sind diese Predigten wie eigens dazu eingerichtet, dass das Volk Gottes Wort aus denselben nicht soll kennen lernen. Wenn auch über die Perikopen gepredigt wird, so verlauft doch die Auslegung derselben so sehr außerhalb der Anschauungsweise und Ausdrucksweise der heiligen Schrift, dass man reines Menschenwort, und nicht mehr das Wort der Offenbarung zu hören bekommt: Schrift mit Schrift auszulegen, diese Kunst ist ungemein selten und wird von den Universitäten fast niemals mitgebracht. Dagegen wird in den Predigten ein lästiger Fleiß auf die Exegese d. h. die biblische Literatur verwendet: in Predigten über Texte aus den Briefen an die Korinther habe ich ganze Viertelstunden über die Zustände der Gemeinde von Korinth, in einer Predigt über einen Text aus der ersten Hälfte des Römerbriefs eine noch längere Abhandlung über die Disposition dieser ersten Hälfte, in einer Predigt über Joh. 14,6 eine Exposition über die „von Johannes gebrauchten allgemeinen Begriffe“ Wahrheit und Leben mit angehört, welche kein Ende finden zu können schien. Alles dies von Männern der besten Meinung, unter ihnen von einigen, welche wirklich gläubig waren. Dazu kommt denn das leidige Streben, welches übrigens nicht bloß von der rhetorischen Theologie, sondern von dem „gebildeten Publikum“ hervorgerufen, ja gefordert und begünstigt wird, allezeit etwas „Neues“ zu sagen: eine Wiederkehr der schlagenden Stellen der h. Schrift von Predigt zu Predigt, aus welcher das christliche Volk ehedem einen großen Teil seiner Bibelkenntnis schöpfte und welche ihm allein das Verständnis der Predigt vermittelte, in welcher es auch von schwachen Pfarrern allezeit Gottes Wort gepredigt erhielt – eine solche Wiederkehr und Repetition wird von der rhetorischen Theologie als trivial und geschmacklos verboten, und von dem „Publikum“ selbst dem „gläubigen“, für unerträglich langweilig erklärt. Wer Homiletik lehren und Evangelisten erziehen will, der muss den Mut haben, an die Spitze seiner Lehre den Satz zu stellen: die Predigt muss ein Zeugnis sein, und zwar ein durch Gebet vermitteltes Zeugnis. Dazu gehört, dass der Prediger Christum eine Gestalt in der Rede gewinnen lasse, wie Er im (S.104) Denken und Wollen, im Leben eine Gestalt gewinnen soll, und dazu wieder, dass in dem Prediger Christus eine Gestalt gewonnen habe, sei es auch vorerst noch eine dunkle – nur eine wirkliche Gestalt: dass der Prediger etwas von Christus dem Herrn, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, erfahren, nicht bloß gehört, gelernt und sich anempfunden habe. Das „Ich bin dein und du bist mein, uns soll der Feind nicht scheiden“ muss der Grundton jeder evangelischen Predigt sein; jede Predigt soll, wo nicht ganz und gar, doch wenigstens an einer Stelle, das ganz, wahr und tief empfundene Heil in Christo enthalten: einmal wenigstens in jeder Predigt, wo nicht in jeder ganzen Predigt, soll der Prediger in demselben Zustande geistlich sein, in welchem der wahre Dichter weltlich sich befindet, wenn er dichtet: dass seine ganze Seele von einem Gegenstande erfüllt ist. Wenn dies an die Spitze der Homiletik gestellt, dies von allen geistlichen Autoritäten, zumal von den Ephoren, von allen erfahrenen Pfarrern, deren Obhut, Fürsorge oder Einwirkung irgendwie ein Kandidat des Pfarramts unterzogen ist, auf das Eindringlichste gelehrt und eingeschärft, und dann Anweisung erteilt wird, auf welche Weise man zu der Fähigkeit jenes Zeugnisses gelange – dann muss aufhören das doktrinäre und moralisierende, schematisierende und rhetorisierende Predigen, an welchem unsere jüngere theologische Welt noch über Gebühr krank liegt, und welches in manchen Schichten einen fast bedenklichen Charakter anzunehmen scheint: man bildet sich ein, Christentum zu predigen, und predigt – Wörter, Phrasen, gleich als wären sie aus einer biblischen Konkordanz nach dem Alphabet zusammengelesen. Das ist denn auch der Punkt, an welchem sich unsere evangelische Predigt von der katholischen Kanzelberedsamkeit bestimmt scheidet, ein Unterschied, auf den nicht mit aller Entschiedenheit hingewiesen zu haben, vielen Homileten unserer Tage zum herben Vorwurf gemacht werden muss. Dem katholischen Priester ist es verwehrt, ein Zeugnis abzulegen, verwehrt durch seine ganze Stellung in seiner Kirche und zu seiner Kirche; er kann nur zweierlei: demonstrieren und moralisieren, Beides aber meist mit weit größerer Virtuosität als wir. Auch ist es eben unsere Aufgabe, nicht zu demonstrieren und nicht zu moralisieren. (S.105) Das ist aber sodann auch der Punkt, an welchem sich dereinst noch ohne Frage ein großes Erlebnis in unserer Kirche anknüpfen wird, welches dann auch mit siegender Macht in die katholische Kirche eindringen muss. Wird das geistliche Amt wieder in seiner wahren Gestalt, als unmittelbares göttliches Mandat erfasst und geltend gemacht sein, so wird sich sofort daran die, einst einseitig und darum unfruchtbar behandelte, von den Pietisten bereits aufgeworfene Frage knüpfen, ob nicht jeder Pfarrer ein Bekehrter sein müsse? Und diese Frage wird alsdann, aber auch alsdann erst, wenn die Lehre vom Amt als einer direkten und unbedingten Mandatsvollstreckung Christi wieder fest bei uns steht, vollständig beantwortet werden können, damit aber die ganze Lehre vom geistlichen Amt und vom geistlichen Stand eine Umgestaltung erfahren, und zwar nicht allein in der evangelischen Kirche. Dieses neue Erlebnis muss in unserer Mitte ein Licht anzünden, bei welchem wir das Angesicht des zu seiner Wiederkunft sich rüstenden Herrn so deutlich sehen, wie es die Christenheit bis daher noch nicht gesehen hat, und eben darum wird dieses Licht wie ein Blitzstrahl von uns aus durch die ganze occidentalische Kirche leuchten. Dieses Erlebnis werden wir machen, nicht die katholische Kirche, welche überhaupt alles, was im Leben der Christenheit noch zu erleben ist, durch uns erleben wird. Noch sollte es sich von selbst verstehen, aber es versteht sich leider nicht von selbst, dass in der Homiletik auch die Charismen für die Predigt aus der h. Schrift und der Erfahrung der Kirche heraus charakterisiert und unterschieden würden – es pflegt gemeiniglich nur von “natürlichen Anlagen“, und oft noch dazu äußerst oberflächlich, die Rede zu sein; es fehlt dazu freilich denjenigen Homiletikern, welche rhetorische Theologen sind, an allem Boden der Tatsachen und der Erfahrung. Es sollte auch nachdrücklicher und umständlicher davon die Rede sein, dass der Prediger sich als geistlichen Mittelpunkt der Gemeinde, dass er sich als im Amte der Sündenvergebung stehend, dass er sich als Ausleger der Geheimnisse Gottes, zumal der Sakramente fühlen und wissen, dass er mithin nicht über etwas reden, sondern dass er etwas geben, dass er lebendiges Brot, Seelenspeise, geben müsse. Es sollte auch davon in der entschiedensten Weise die Rede sein, oder vielmehr nicht die Rede sein sondern ein starkes (S.106) und herzdurchdringendes Zeugnis davon abgelegt werden, dass vor allem von der Predigt der Geruch des Lebens zum Leben und der Geruch des Todes zum Tode ausgehe, ausgehen müsse; dass, so lange die Phrase, auch die christlichst klingende, von der Kanzel vernommen werde, die Welt einen Widerspruch nicht erheben werde, dass aber der Widerspruch, dass der Hass der Welt notwendig sei, und dies – die Scheidung – nur durch die Predigt vom gekreuzigten Christus, wie dieselbe den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit ist, erreicht werden könne. Eine solche Scheidung durch eine weltlich törichte Predigt zu bewirken, sei jedes rechten Predigers Pflicht, und nur daran werde der rechte Prediger erkannt. – Alle diese Dinge, als Tatsachen, passen freilich nicht in die Rhetorik. Beklagt aber kann werden, dass nicht – so weit ich mich umzusehen Gelegenheit gehabt habe, von fast allen homiletischen Kathedern herab und in den meisten Predigerseminaren Deutschlands – den Anfängern eine gehörige Anweisung gegeben wird, wie sie, denen die Erfahrung naturgemäß abgeht, es möglich machen sollen, ein Zeugnis, als den Charakter der Predigt, in ihren Predigten niederzulegen? wie sie sich dagegen zu schützen haben, dass sie nicht ihre Schranken überspringen, Fremdes, ihnen noch nicht Gehöriges, anrühren, eingebildete, anempfundene Zeugnisse produzieren und damit am Ende sich in christliche Phrasen, in fromme Unwahrheiten und zuletzt in geistliche Lügen hineinreden? Es gibt hier nur ein Mittel, so viel ich weiß, die Anfänger vor dieser sehr großen Gefahr zu bewahren. Sie müssen sich an den objektiven Tatbestand der Zeugnisse unmittelbar anschließen d. h. historisch predigen. Man lasse sie zunächst nur die einfachen Geschichten des alten Testaments, und zwar in der allereinfachsten Weise, auslegen oder selbst nur erzählen – und es ist kein geringer Ruhm, eine Geschichte des alten Testaments im rechten Stil von der Kanzel zu erzählen; daran lernen sie nicht nach menschlicher Logik wohl aber nach göttlicher Logik disponieren, zusammenhängend, nicht im Sinne irgend einer menschlichen Philosophie oder Historik, denken, an Tatsachen sich zurechtfinden und in Tatsachen sich hineinleben. Eines solchen Stoffes muss auch (S.107) der ausgehende Studierende und angehende Kandidat vollkommen mächtig sein. Aber wessen er nicht mächtig ist, und was ihm doch gerade für den Anfang empfohlen wird, das sind die sogenannten „leichten Texte“, wie denn z. B. Stellen aus dem hohenpriesterlichen Gebet des Herrn, oder die acht Seligkeiten, oder Stellen aus den Pastoralbriefen z. B. 1. Tim. 4,8 als solche „Kandidatentexte“ von unverständigen Rhetorikern noch heute wie vor vierzig Jahren empfohlen werden, an welchen die Jünglinge, weil dieselben weit über ihren Erfahrungskreis hinausgehen, nichts anderes lernen, als Phrasen machen. Ich weiß von sehr Vielen, welche eben an solcher Kraftüberschätzung, an leichtsinniger, vorzeitiger Behandlung schwieriger Predigtgegenstände als fade Schwätzer zu Grunde gegangen sind, wiewohl sie nach Naturanlage und Gesinnung nicht für diese Art geistigen Verderbens bestimmt schienen. Ich danke es einem, in unserm Lande viel genannten und als plumper Rationalist nicht ganz mit Unrecht verachteten Kirchenbeamten – demselben, von welchem schon einmal in diesen Blättern die Rede war – dass er mich auf diesen Punkt zeitig aufmerksam und mir an Jesaja 49,15 nachdrücklich begreiflich machte, dass solche scheinbar leichte Texte „für ein Kandidatchen nicht passten und viel zu schwer wären“. Mir hat die Warnung geholfen, und das sei dem Warner im Grabe verdankt. Möchte sie auch Anderen helfen! Nötig ist sie noch in gleichem Grade wie vor fünf und dreißig Jahren.

 

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