Kapitel 46 - Von dem Vertrauen auf Gott bei Lästerungen.


1. Sohn! steh fest und hoffe auf mich. Denn was sind Worte anders als Worte? Sie fliegen durch die Luft, aber sie verletzen keinen Stein. Hast du gefehlt, so denke: du wollest dich gern bessern; bist du dir keines Fehlers bewußt, so stelle dir vor: du wollest das um Gottes willen gerne dulden. Es ist wenig genug, daß du bisweilen wenigstens Worte erträgst, da du starke Schläge noch nicht auszu-halten vermagst. Und warum geht dir so Kleines zu Herzen? – Weil du noch fleischlich bist und auf die Menschen mehr Rücksicht nimmst, als du solltest! Denn weil du noch fürchtest, verachtet zu werden, so willst du dich deiner Vergehungen wegen nicht tadeln lassen, und versteckst dich hinter Entschul-digungen.

2. Aber erforsche dich genauer und du wirst finden, daß die Welt noch in dir lebt und die eitle Sucht, den Menschen zu gefallen. Denn da du es fliehst, dich erniedrigen und für deine Fehler beschämen zu lassen, so ist es offenbar, daß du weder wahrhaft demüthig, noch der Welt wahrhaft abgestorben bist, noch die Welt dir gekreuzigt ist. Aber höre mein Wort, und du wirst dich nicht kümmern um zehntausend Worte der Menschen. Siehe, wenn Alles gegen dich gesagt würde, was auf die boshafteste Weise je ersonnen werden könnte: was würde es dir schaden, wenn du es nur ganz vorübergehen ließest und nicht mehr als einen Halm achtetest? Könnte dir dadurch auch nur ein Haar gekrümmt werden?

3. Aber wer das Herz nicht inwendig, noch Gott vor Augen hat, der wird durch ein Wort des Tadels leicht aufgeregt. Wer jedoch auf mich vertraut, und nicht auf seinem eigenen Urtheile bestehen will, der wird ohne Menschenfurcht sein. Denn ich bin der Richter, dem alles Verborgene bekannt ist; ich weiß, wie die Sache geschah; ich kenne Beide, den Verläumder und den Verläumdeten. Von mir ging jenes Wort aus, mit meiner Zulassung geschah dieß, damit vieler Herzen Gedanken offenbar würden. Ich werde den Schuldigen und den Unschuldigen richten; aber ich wollte Beide zuvor im geheimen Gerichte prüfen.

4. Das Zeugniß der Menschen trügt oft; mein Gericht ist wahr, wird bestehen und nicht umgestoßen werden. Es ist meist verborgen und nur Wenigen im Einzelnen offenbar; aber es irrt nicht und kann nicht irren, wenn es auch den Augen der Thoren nicht recht scheint. Mir also muß man alles Gericht anheimstellen, und darf nicht nach eigenem Gutdünken richten. Denn der Gerechte läßt sich nicht irre machen, was ihm immer von Gott geschieht. Und wenn es ihn auch etwas ungerecht trifft, so wird er sich nicht viel kümmern. Eben so wenig wird er thöricht frohlocken, wenn ihn Andere rechtmäßig entschuldigen. Denn er erwägt, daß ich es bin, der Herzen und Nieren prüft, der nicht nach äußerem Schein und menschlichem Ansehen richtet; denn oft wird in meinen Augen als strafbar erfunden, was nach der Menschen Urtheil für löblich gilt.

5. O mein Gott und Herr, du gerechter Richter, der du eben so langmüthig und mächtig bist, du kennest die Gebrechlichkeit und Bosheit der Menschen, sei du meine Stärke und all’ meine Zuversicht; denn mein eigenes Gewissen schafft mir kein Genüge. Du weißt, was ich nicht weiß, und darum hätte ich bei allem Tadel mich demüthigen und sanftmüthig dulden sollen. Vergib mir nach deiner Huld, wenn ich das nicht immer gethan habe, und stärke mich durch deine Gnade zu größerer Geduld. Denn leichter hilft mir deine unergründliche Barmherzigkeit zur Vergebung der Sünde als meine vermeintliche Gerechtigkeit zur Rechtfertigung meines versteckten Gewissens. Und ob ich mir auch nichts bewußt bin, so kann ich mich damit doch nicht rechtfertigen; denn ohne deine Barmherzigkeit ist kein Lebendiger gerecht vor deinem Angesicht.


Kapitel 47 - Daß man alle Beschwerden um des ewigen Lebens willen ertragen muß.


1. Sohn! laß dich nicht beugen die Mühseligkeiten, die du meinetwegen auf dich genommen hast, noch die Trübsale dich zu Boden schlagen; sondern meine Verheißung stärke und tröste dich in jedem Geschick. Ich habe die Macht, zu vergelten über jegliches Maß und Ziel. Nicht lange wirst du hier dich mühen, noch immer von Schmerzen gequält werden. Harre ein wenig, und du wirst schnell das Ende deiner Uebel sehen. Es wird die Stunde kommen, wo all deine Mühe und Unruhe aufhören wird. Gering und kurz ist Alles, was mit der Zeit vergeht. Thue, was du thust; arbeite treu in meinem Weinberge, ich werde dein Lohn sein. Schreibe, lies, singe, seufze, schweige, bete, trage männlich Widerwärtigkeiten: aller dieser und noch größerer Kämpfe ist das ewige Leben wert.

2. An einem Tage, der dem Herrn bekannt ist, wird der Friede kommen, und dann wird nicht mehr Tag noch Nacht sein, wie in dieser Zeit, sondern immer-währendes Licht, unendliche Klarheit, dauerhafter Friede und sichere Ruhe. Alsdann wirst du nicht sagen: „Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ noch wirst du rufen: „Weh mir, daß die Tage meiner Pilgerschaft verlängert sind!“ denn der Tod wird in den Abgrund geworfen, und es wird sein unvergängliches Heil, und keine Angst mehr, sondern seliges Entzücken, liebliche und herrliche Gemeinschaft.

3. Könntest du schauen die unvergänglichen Kronen der Heiligen im Himmel, schauen die Herrlichkeit, in welcher die nun frohlocken, die in dieser Welt aller Ehre, ja des Lebens selbst unwerth geachtet wurden! fürwahr, dann würdest du alsbald bis zur Erde dich demüthigen, und begehren, lieber Allen unterthänig, als einem Einzigen vorgesetzt zu sein. Auch würde es dich nicht nach dieses Lebens fröhlichen Tagen gelüsten, sondern vielmehr freuen, um Gottes willen Trübsal zu leiden, und dir für den größten Gewinn gelten, unter den Menschen für nichts geachtet zu werden.

4. O wenn du daran Geschmack fändest und es dir tief zu Herzen ginge; wie würdest du es wagen, dich auch nur einmal zu beschweren? Muß man nicht um des ewigen Lebens willen alle Mühsale tragen? Es ist nichts Geringes, das Reich Gottes zu verlieren oder zu gewinnen! Darum erhebe dein Angesicht zum Himmel. Siehe, ich und mit mir alle meine Heiligen, die in dieser Zeitlichkeit großen Kampf hatten, freuen sich nun, werden nun getröstet, sind nun sicher, ruhen nun und werden ohne Ende bei mir in dem Reiche meines Vaters bleiben.


Kapitel 48 - Von dem Tage der Ewigkeit und den Bedrängnissen des Lebens.


1. O du seligste Wohnung in der himmlischen Stadt! O klarster Tag der Ewigkeit, den keine Nacht verdunkelt, sondern die höchste Wahrheit immerdar erleuchtet! O immer fröhlicher, immer sicherer Tag, der nie sich wandelt in’s Gegentheil! O möchte doch dieser Tag schon angebrochen sein und all’ dieses Zeitliche ein Ende erreicht haben! Zwar leuchtet er den Heiligen schon jetzt in ungetrübter Klarheit; aber den Pilgern auf Erden nur von ferne und wie im Spiegel.

2. Die Bürger des Himmels wissen, wie freudenreich jener Tag ist; die ver-bannten Kinder Eva’s aber seufzen, daß ihr Lebenstag so bitter und widerwärtig ist. Die Tage dieser Zeit sind kurz und böse, voller Schmerzen und Aengsten. Da wird der Mensch von vielen Sünden befleckt, von vielen Leidenschaften um-strickt, von vielen Befürchtungen geängstigt, von vielen Sorgen gedrückt, von vieler Neugier zerstreut, in viel eitle Dinge verwickelt, von vielen Irrthümern umdrängt, durch viele Anstrengungen erschöpft, von Versuchungen beschwert, durch Lüste entkräftet, von Mangel gepeinigt.

3. O wann werden sie endigen, diese Uebel? Wann werde ich frei werden von der kläglichen Dienstbarkeit der Sünde? Wann, o Herr! werde ich allein an dich gedenken? Wann werde ich vollkommen in dir mich erfreuen? Wann werde ich ohne alles Hinderniß in wahrer Freiheit, wann ohne alle Beschwerniß des Leibes und der Seele sein? Wann werde ich des festen, des unzerstörbaren und sichern Friedens theilhaftig werden, des Friedens von innen und außen, des Friedens, der nach allen Seiten feststeht? Gütiger Jesus! wann werde ich stehen, dich zu sehen? Wann werde ich schauen die Herrlichkeit deines Reichs? Wann wirst du mir Alles in Allem sein? O wann werde ich mit dir sein in deinem Reiche, das du bereitet hast deinen Geliebten von Anbeginn? Verlassen bin ich, ein Armer und Verbannter im feindlichen Lande, inmitten täglicher Kämpfe und nicht über-sehbaren Unheils!

4. Tröste mich, den Verbannten, mildere meinen Schmerz; denn zu dir seufzt all’ mein Sehnen. Schwer drückt mich Alles, was diese Welt zum Troste beut. Mich verlangt, dich innigst zu genießen; aber ich kann dich nicht erfassen. – Ich wünsche dem Himmlischen anzuhängen, aber die zeitlichen Dinge und die ungetödteten Leidenschaften drücken mich nieder. Mit dem Geiste will ich über alle Dinge sein, das Fleisch aber zwingt mich, ihnen wider willen unterthan zu sein. So kämpfe ich unseliger Mensch mit mir und bin mir selbst zur Last, indem der Geist nach dem, was droben, das Fleisch nach dem, was drunten ist, ver-langt.

5. O was leide ich innerlich, wenn ich im Geiste Himmlisches betrachte und flugs ein Schwarm von fleischlichen Gedanken den Betenden überfällt! Mein Gott! sei nicht ferne von mir und wende dich nicht ab im Zorne von deinem Knecht. Schleudre herab deine Blitze und zerstreue sie; wirf deine Pfeile und es werden zerstäuben alle Gaukeleien des Feindes. Sammle meine Sinne zu dir; laß mich vergessen aller weltlichen Dinge; gib, daß ich schnell wegwerfe und verachte alle Trugbilder der Sünde. Eile mir zu Hülfe, ewige Wahrheit, daß keine Eitelkeit mich berücke. Komm, himmlische Süßigkeit und es wird fliehen vor deinem Angesicht alle Unlauterkeit. Verzeihe mir auch und vergieb mir nach deiner Barmherzigkeit, so oft ich im Gebete an etwas Anderes, als an dich denke. Denn ich bekenne in Wahrheit, daß ich sehr zerstreut zu sein pflege. Ach, wie oft bin ich nicht da, wo ich dem Leibe nach stehe oder sitze; sondern mehr dort, wohin mich meine Gedanken tragen. Da bin ich, wo mein Gedanke ist. Da ist meist mein Gedanke, wo das ist, was ich liebe. Schnell stellt sich das mir dar, was mich von Natur aus ergötzt, oder mir aus Gewohnheit gefällt. Daher hast du, o Wahrheit, deutlich gesagt: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“ (Matth. 6,21.) Liebe ich den Himmel, so denke ich gern an himmlische Dinge. Liebe ich die Welt, so freue ich mich mit an den Genüssen der Welt und traure über ihre Widerwärtigkeiten. Liebe ich das Fleisch, so stelle ich mir oft vor, was des Fleisches ist. Liebe ich den Geist, so ergötzt es mich, an Geistliches zu denken. Kurz, was ich liebe, davon spreche und höre ich gern und trage dergleichen Bilder auch mit mir nach Hause. Aber selig ist der Mensch, der um deinetwillen, o Herr, allen Kreaturen Urlaub zum Abzuge gibt; welcher der Natur Gewalt anthut und die Lüste des Fleisches durch die Inbrunst des Geistes kreuzigt, daß er mit heiterm Gewissen ein reines Gebet dir darbringe und würdig sei, alles Irdischen von außen und von innen entledigt, sich in die Chöre der Engel zu mischen.


Kapitel 49 - Von dem Verlangen nach dem ewigen Leben und den großen Gütern, die den Kämpfern verheißen sind!


1. Sohn! wenn du fühlst, daß dir ein Verlangen nach der ewigen Seligkeit von oben her eingeflößt wird und du aus der Hülle des Lebens zu gehen wünschest, um meine Klarheit ohne einen Schatten von Wechsel schauen zu können; so erweitere dein Herz und nimm mit aller Begierde diese heilige Anregung auf. Sage innigsten Dank der höchsten Güte, die so huldreich mit die verfährt, dich so gnädig heimsucht, so brünstig erweckt, so mächtig erhebt, damit du nicht durch eigene Schwere in das Irdische versinkest. Denn solches empfängst du nicht durch dein eigenes Denken oder Streben, sondern blos durch die Huld der höchsten Gnade, die sich zu dir herabläßt, damit du an Tugenden und größerer Demuth zunehmest und dich zu künftigen Kämpfen rüstest und mir mit ganzer Inbrunst des Herzens anhangest und mit glühendem Eifer zu dienen strebest.

2. Sohn! oft brennt das Feuer, aber ohne Rauch steiget die Flamme nicht empor. So brennt auch einiger Menschen Verlangen nach dem Himmlischen und doch sind sie nicht frei von der Versuchung fleischlicher Begier. Daher thun sich auch nicht ganz rein zur Ehre Gottes, was sie so sehnsüchtig von ihm bitten. Der Art ist auch oft dein Verlangen, das du für so überaus brünstig ausgibst. Denn das ist nicht rein und vollkommen, was durch Eigennutz befleckt ist.

3. Bitte nicht um das, was dir Vergnügen und Vortheil bringt, sondern was mir wohlgefällt und zur Ehre gereicht; denn wenn du recht urtheilst, so mußt du meine Anordnung deinem Verlangen und allen deinen Wünschen vorziehen und ihr folgen. Ich kenne dein Verlangen wohl und habe deine vielen Seufzer gehört. Du möchtest schon jetzt in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes sein, schon jetzt reizt dich das ewige Haus und das himmlische Vaterland mit seiner Freu-denfülle; aber diese Stunde ist noch nicht gekommen, sondern gegenwärtig ist eine andere Zeit, nämlich die Zeit des Kampfes, die Zeit der Arbeit und der Prüfung. Du wünschest von dem höchsten Gut erfüllt zu werden, aber jetzt kannst du das noch nicht erlangen. Ich bin’s; harre meiner, spricht der Herr, bis das Reich Gottes kommt.

4. Du mußt noch auf Erden geprüft und in Vielem geübt werden. Du wirst dabei von Zeit zu Zeit Trost empfangen; aber viele Sättigung wird hier nicht gewährt. Darum ermanne dich und sei rüstig zu Allem, was dir der Natur zuwider zu thun oder zu leiden obliegt. Du mußt einen neuen Menschen anziehen und in einen ganz andern Mann verwandelt werden. Du mußt oft thun, was du nicht willst; und was du willst, mußt du unterlassen. Was andern gefällt, wird Fortgang haben; was dir gefällt, wird nicht geschehen. Was Andere sagen, darauf wird man hören; was du sagst, wird für nichts geachtet werden. Andere werden bitten und empfangen: du wirst bitten und nichts erlangen. Andere werden groß sein im Munde der Menschen, von dir aber wird man schweigen. Andern wird man dieses und jenes auftragen; dich aber wird man für untauglich zu Allem halten. Darüber wird deine Natur sich manchmal betrüben und wird es viel sein, wenn du es mit Stillschweigen erträgst. In diesen und in viel ähnlichen Dingen pflegt der getreue Knecht des Herrn geprüft zu werden, damit er sich selbst verläugnen und den Eigenwillen brechen lerne.

5. Kaum ist irgend etwas, worin du es so nöthig hast, dir abzusterben, als wenn du sehen und dir gefallen lassen mußt, was deinem Willen widerstrebt; zumal aber, wenn man Unschickliches und was dir minder nützlich scheint, dich thun heißt. Und bist du als Untergebener einem Vorgesetzten Gehorsam schuldig, den du nicht zu verweigern wagst; weil du dich der Gewalt unterwerfen mußt: so scheint es dir hart, auf den Wink eines Andern zu gehen und deine eigene Meinung aufgeben zu müssen. Aber bedenke, mein Sohn! die Frucht dieser Mühseligkeiten, ihr baldiges Ende und den überschwenglichen Lohn; so wirst du dich nicht darüber beschweren, sondern den kräftigsten Trost für deine Geduld darin finden. Denn für das Wenige, was du von deinem Willen jetzt aus freien Stücken aufgibst, wirst du für immer deinen Willen im Himmel haben.

6. Dort nämlich wirst du Alles finden, was du willst, Alles, was du nur wünschen kannst. Dort wirst du Kraft zu allem Guten haben, ohne Furcht, sie wieder zu verlieren. Dort wird dein Wille immerdar eins mit mir, nichts Aeußeres oder Eigenes begehren. Dort wird dir Niemand Widerstand leisten, Niemand sich über dich beschweren, Niemand dich hindern, Nichts in den Weg dir treten; vielmehr wird Alles, was du wünschest, sogleich da sein und all dein Verlangen befrie-digen und vollkommen erfüllen. Dort werde ich dir als Ersatz geben Herrlichkeit für erlittene Schmach, den Ehrenschmuck für Traurigkeit, für den niedrigsten Platz einen Sitz in meinem Reiche ewiglich. Dort wird zum Vorschein kommen die Frucht des Gehorsams, die Bußarbeit sich freuen, und die demüthige Unter-werfung herrlich gekrönt werden.

7. So beuge dich nun demüthig unter Aller Hände und kümmere dich nicht darum, wer das gesagt oder befohlen hat. Aber dafür sorge angelegentlich, daß du Alles, was ein Vorgesetzter oder ein Jüngerer oder einer deines Gleichen von dir fordern oder dir bedeutet haben mag, gut aufnehmest und mit aufrichtigem Willen zu vollbringen suchst. Der Eine mag dieß, der Andere jenes suchen; jener möge in jenem, dieser in diesem gerühmt und tausendfach gelobt werden: du aber habe deine Lust weder an diesem, noch an jenem, sondern freue dich der Verachtung deiner selbst und meines Wohlgefallens und meiner Ehre allein. Das ist dein einziger Wunsch, daß Gott allezeit in dir verherrlicht werde, sei es durch Leben oder durch Sterben!


Kapitel 50 - Wie der Trostlose sich in Gottes Hand ergeben soll.


1. Herr Gott, heiliger Vater! gepriesen seiest du jetzt in Ewigkeit! Denn wie du wolltest, so geschah es, und was du thust, ist gut. Es freue sich in dir dein Knecht, nicht in sich, noch in irgend einem Andern; denn du allein bist die wahre Freude, du meine Hoffnung und meine Krone, du meine Lust und meine Ehre, o Herr! Was hat dein Knecht, das er nicht von dir empfing, auch ohne sein Ver-dienst? Dein ist Alles, was du gegeben und was du gemacht hast. Ich bin arm und voll Mühsal von meiner Jugend an, und meine Seele wird manchmal bis zu Thränen betrübt und zuweilen auch in sich beunruhigt durch Leiden, die ihr drohen.

2. Ich sehne mich nach der Erquickung des Friedens; ja um den Frieden deiner Kinder flehe ich, die im Lichte des Trostes von dir geweidet werden. Wenn du Frieden gibst, wenn du heilige Freude in’s Herz gießest, so wird die Seele deines Knechtes lauter Jubelgesang und deine Lobes voll sein! Entziehest du dich aber, wie du oft thust: so wird er den Weg deiner Gebote nicht wandeln können, sondern muß vielmehr die Kniee beugen und an die Brust schlagen, weil es ihm nicht mehr ist wie gestern und ehegestern, da dein Licht über seinem Haupte strahlte und er unter dem Schatten deiner Flügel gegen hereinbrechende Ver-suchungen Schutz fand.

3. Gerechter und allzeit preiswürdiger Vater! die Stunde ist da, daß dein Knecht erprobt werde. Liebenswürdiger Vater! es ist billig, daß in dieser Stunde etwas für dich leide dein Knecht. Ewig verehrungswürdiger Vater! die Stunde ist da, deren Ankunft du von Ewigkeit voraussahest, daß dein Knecht auf kurze Zeit äußerlich erliege, innerlich aber stets bei dir lebe. Eine kleine Weile soll er gering ge-schätzt, gedemüthiget und zurückgesetzt sein vor den Menschen, von Leiden und Aengsten niedergedrückt werden, damit er wieder mit dir in der Morgenröthe des neuen Lichtes aufstehe und himmlisch verklärt werde. Heiliger Vater! du hast es so geordnet und so gewollt und das ist geschehen, was du selbst geboten hast.

4. Denn das ist eine Gnade für deinen Freund, zu leiden und geängstiget zu werden in der Welt um deiner Liebe willen, so oft und von wem du es geschehen lässest. Ohne deinen Rathschluß und deine Vorsehung und ohne Grund ge-schieht nichts auf Erden. Herr! es ist gut, daß du mich gedemüthiget hast, damit ich lerne deine Gerichte und allen Hochmuth und Dünkel des Herzens ablege. Es ist mir heilsam, daß Schmach mein Antlitz bedeckt, damit ich vielmehr dich, als die Menschen zu meinem Trost suche. Ich habe auch dadurch gelernt, dein unerforschliches Gericht zu scheuen, der du den Gerechten wie den Gottlosen züchtigest, aber nicht ohne Gerechtigkeit und Billigkeit.

5. Ich sage dir Dank, daß du meine Missethaten nicht geschont, sondern mich mit herben Streichen, mit Schmerzen und Bedrängnissen von innen und außen gezüchtiget hast. Es ist nichts, was mich trösten könnte von Allem, was unter dem Himmel ist, denn du allein, Herr, mein Gott, du himmlischer Seelenarzt, der du schlägst und heilest, zur Hölle hinab und wieder heraus führest. – Deine Zuflucht ist über mir und deine Ruthe selbst wird mich lehren.

6. Siehe, geliebter Vater! in deinen Händen bin ich, der Ruthe deiner Züchtigung unterwerfe ich mich. Schlage meinen Rücken und Nacken, daß sich meine Halsstarrigkeit unter deinen Willen beuge. Mache mich zu einem frommen und demüthigen Schüler, wie du gewohnt bist, wohlzuthun, damit ich ganz nach deinem Wink wandle. Dir befehle ich mich und Alles, was ich bin und habe, zur Züchtigung; denn es ist besser, hier gezüchtigt zu werden, als dort. Du weißt Alles und Jedes, und nichts ist dir verborgen im menschlichen Gewissen. Ehe es geschieht, weißt du, was kommen wird und hast nicht vonnöthen, daß man dich lehre oder erinnere an das, was auf Erden geschieht. Du weißt, was im Guten fördert, und wie viel die Trübsal beitrage, den Rost der Sünden abzufegen. Thue mit mir nach deinem Wohlgefallen und verwirf mich nicht meines sündhaften Lebens halber, das Niemandem besser und genauer bekannt ist, als dir allein.

7. Herr! laß mich erkennen, was ich wissen; lieben, was ich lieben soll; loben, was dir wohlgefällt; hochachten, was vor dir köstlich; tadeln, was in deinen Augen ein Gräuel ist. Laß mich nicht nach dem äußern Augenschein urtheilen, noch nach dem Hörensagen unerfahrener Menschen absprechen, sondern laß mich das Sichtbare und das Geistliche wohl und richtig unterscheiden und vor Allem stets nach dem Wohlgefallen deines Willens forschen.

8. Getäuscht werden oft der Menschen Sinne in ihrem Urtheile, getäuscht werden die Liebhaber dieser Welt, die nur das Sichtbare lieben. Was ist der Mensch denn darum besser, daß er von einem Andern höher geachtet wird? Der Falsche betrügt den Falschen, der Eitle den Eitlen, der Blinde den Blinden, der Schwache den Schwachen, indem er ihn erhebt; ja er schändet ihn in Wahrheit mehr, indem er ihn thöricht lobt. Denn so viel der Mensch in deinen Augen ist, nur so viel ist er, und nicht mehr, sagt der demüthige heilige Franziskus.


Kapitel 51 - Daß man geringere Werke verrichten muß, wenn man zu schwach ist für die höchsten.


1. Sohn! du vermagst nicht immer in gleich brünstigem Verlangen nach Tugen-den zu stehen, noch dich auf immer höherer Stufe der Beschauung zu erhalten, sondern du mußt manchmal wegen des angebornen Verderbens zu niedrigen Dingen herabsteigen, und die Last des hinfälligen Lebens auch wider Willen und mit Ueberdruß tragen. So lange du den sterblichen Leib trägst, wirst du Ueber-druß empfinden und Beschwerniß des Herzens. Du mußt also im Fleische oft über des Fleisches Last seufzen, weil dir die Kraft fehlt, den geistlichen Uebun-gen und der Betrachtung des Göttlichen unausgesetzt dich hinzugeben.

2. Dann ist es dir gut, geringere und äußere Werke vorzunehmen und in guten Werken dich zu erquicken, meine Ankunft und die Heimsuchung von oben mit festem Vertrauen zu erwarten, deine Verbannung und die Dürre deines Herzens geduldig zu ertragen, bis du wieder von mir heimgesucht und von allen Aengsten befreit wirst. Denn ich werde machen, daß du der Mühe vergissest und innern Frieden genießest. Ich werde ausbreiten vor dir die Weisen der heiligen Schrift, auf daß du mit erweitertem Herzen anhebest zu laufen den Weg meiner Gebote. Und du wirst sprechen: „Die Leiden dieser Zeit sind nicht werth der Herrlichkeit, die an uns soll geoffenbaret werden.“ (Röm. 8,18.)


Kapitel 52 - Daß der Mensch sich nicht des Trostes würdig, sondern vielmehr der Schläge schuldig achten soll.


1. Herr! ich bin nicht würdig deines Trostes, noch irgend einer geistlichen Heim-suchung; und darum handelst du gerecht mit mir, wenn du mich auch ohne Hilfe und Trost lässest. Denn wenn ich auch so viel Thränen als Tropfen im Meer vergießen könnte: so wäre ich doch deines Trostes noch nicht würdig. Darum verdiene ich nichts, als Züchtigung und Strafe, weil ich dich schwer und oft beleidigt und Vieles verschuldet habe. Wenn ich daher alles recht überlege, so bin ich nicht des geringsten Trostes würdig. Aber du, gnädiger und barmherziger Gott, der du deine Werke nicht willst verderben lassen, um den Gefäßen deiner Erbarmung den Reichthum deiner Güte zu zeigen, du würdigest deinen Knecht, daß er auch ohne all sein Verdienst über alle menschliche Weise getröstet wird. Denn deine Tröstungen sind nicht wie Menschengerede.

2. Was habe ich gethan, Herr, daß du mir einigen himmlischen Trost brachtest? Ich erinnere mich nichts Guten, das ich gethan, sondern daß ich immer zu Sünde geneigt und zur Besserung träge gewesen bin. So ist’s, und ich kann es nicht läugnen. Wenn ich anders redete, so trätest du gegen mich auf und es wäre Niemand, der mich vertheidigte. Was habe ich verdient für meine Sünden, als die Hölle und das ewige Feuer? Ich bekenne es in Wahrheit, daß ich werth bin aller Schmach und Verachtung und daß es mir nicht gebührt, unter deinen Frommen zu verweilen. Und obgleich ich dieß ungern hören mag: so will ich doch wider mich selbst, der Wahrheit gemäß, meine Sünden bekennen, damit ich um so leichter deine Barmherzigkeit erlangen möge.

3. Was soll ich, schuldig und aller Schmach voll, sagen? Nichts, als das Einzige: Ich habe gesündigt, Herr! Ich habe gesündigt! Erbarme dich meiner, vergib mir! Laß mich noch ein wenig, daß ich ausweine meinen Schmerz, ehe ich hinabgehe in das finstere Land, das mit Todesschatten bedeckt ist. Was forderst du mehr von dem schuldigen und elenden Sünder, denn daß er zerknirscht sei und sich demüthige um seiner Vergehungen willen? In wahrer Zerknirschung und Demüthigung des Herzens wird die Hoffnung der Vergebung geboren, das beunruhigte Gewissen wird versöhnt, die verlorne Gnade wieder gefunden, der Mensch vor dem zukünftigen Zorne geschützt und es begegnen einander im heiligen Kuß Gott und die reuige Seele.

4. Demüthige Zerknirschung der Sünder ist dir, Herr, ein angenehmes Opfer, das vor deinem Angesicht weit lieblicher duftet, als angezündeter Weihrauch. Das ist auch die angenehme Salbe, die du auf deine heiligen Füße gießen lassen wolltest, weil du ein zerknirschtes und gedemüthigtes Herz nie verschmäht hast. Da ist die Stätte der Zuflucht vor dem Angesicht des zornigen Feindes. Da wird verbessert und abgewaschen, was sonstwo verdorben und befleckt worden ist.


Kapitel 53 - Daß die Gnade Gottes den Irdischgesinnten sich nicht mittheilt.


1. Sohn! kostbar ist meine Gnade; doch läßt sie sich nicht mit äußeren Dingen, noch mit irdischen Tröstungen vermischen. Darum mußt du alle Hindernisse der Gnade hinwegräumen, wenn du ihren Einfluß aufnehmen willst. Suche dir ein geheimes Kämmerlein, kehre gern bei dir ein, verlange nach keines Menschen Unterhaltung, sondern schütte vor Gott dein Herz andächtig im Gebete aus, damit du ein zerknirschtes Gemüth bewahrest und ein reines Gewissen. Die ganze Welt achte für nichts; den Umgang mit Gott aber ziehe allen äußern Dingen vor. – Denn du kannst nicht mit mir umgehen, und zugleich an vergäng-lichen Dingen dich ergötzen. Von Bekannten und Freunden mußt du dich entfernen und das Gemüth von allem zeitlichen Trost frei halten. Also ermahnt der heilige Apostel Petrus, daß die Gläubigen Christi sich als Fremdlinge und Pilger in dieser Welt verhalten sollen. (1 Petri 2,11.)

2. O wie groß wird die Zuversicht des Sterbenden sein, den keine irdische Neigung an die Welt fesselt! Aber ein von Allem so abgeschiedenes Herz zu haben, das faßt der kranke Geist noch nicht, noch kennt der natürliche Mensche die Freiheit des innern Menschen. Wenn er jedoch in der That geistlich sein will, muß er dem Fernen, wie dem Nahen entsagen und vor Niemanden mehr sich hüten, als vor sich selbst. Hast du dich selbst vollkommen überwunden, so wirst du das Uebrige leichter unterwerfen. Vollständiger Sieg ist der Sieg über sich selbst – Denn wer sich selbst so in Unterwürfigkeit hält, daß die Sinnlichkeit der Vernunft und die Vernunft in Allem mir gehorcht, der ist in der That Sieger über sich selbst und Herr der Welt.

3. Begehrest du, bis zu diesem Gipfel hinaufzusteigen, so mußt du mit männli-cher Entschlossenheit den Anfang machen, und die Axt an die Wurzel legen, damit du ausrottest und zerstörest die verborgene, unordentliche Neigung zu dir selbst und zu jedem eigenen und irdischen Gut. Aus diesem Fehler – daß der Mensch sich selbst allzu unordentlich liebt, kommt beinahe Alles her, was von Grund aus besiegt werden muß. Ist jedes Uebel überwunden und unterdrückt, so wird Friede und Ruhe fortwährend groß sein. Weil aber wenige bemüht sind, sich selbst vollkommen abzusterben und völlig aus sich herauszugehen: darum bleiben sie in sich verwickelt und können sich nicht im Geiste über sich erheben. Wer aber frei mit mir zu wandeln wünscht, der muß alle seine bösen und unordentlichen Neigungen tödten und darf an keiner Kreatur aus Eigenliebe lüstern hangen.


Kapitel 54 - Von den verschiedenen Regungen der Natur und der Gnade.


1. Sohn! merke genau auf die Regungen der Natur und der Gnade; denn sie regen sich sehr entgegengesetzt und fein, und können kaum und dann nur von einem geistlichen und innigst erleuchteten Menschen unterschieden werden. Alle begehren zwar das Gute und wenden in ihren Reden und Handlungen etwas Gutes vor; dennoch werden Viele unter dem Scheine des Guten getäuscht.

2. Die Natur ist schlau und zieht Viele an, umgarnt und betrübt sie, und hat stets sich selbst zum Zwecke. Die Gnade dagegen wandelt einfältig, meidet allen bösen Schein, geht nicht auf Täuschung aus und thut Alles rein um Gottes willen, in welchem auch ihr Ruhepunkt ist.

3. Die Natur will ungern sterben, sich nicht drücken, nicht bezwingen lassen, will nicht unterthan sein, noch sich freiwillig unterwerfen. Die Gnade aber befleißigt sich der eigenen Ertödtung, widersteht der Sinnlichkeit, sucht unterjocht, begehrt überwunden zu werden und will der eigenen Freiheit nicht gebrauchen; sie liebt es, unter Zucht gehalten zu werden und will Niemandem gebieten, sondern stets unter Gott leben, stehen und sein, und ist bereit, um Gottes willen jeder mensch-lichen Kreatur sich demüthig zu unterwerfen. Die Natur arbeitet für ihren Vortheil und ist darauf bedacht, was für Gewinn ihr von einem Andern erwachse; die Gnade aber erwägt nicht, was ihr nützlich und vortheilhaft sei, sondern vielmehr, was Vielen frommt. Die Natur nimmt gern Ehre und Auszeichnung an; die Gnade aber gibt treulich Gott alle Ehre und allen Ruhm.

4. Die Natur scheut Schmach und Verachtung; die Gnade aber freut sich, um des Namens Jesu Schmach zu leiden. Die Natur liebt Müßiggang und sinnliche Ruhe; die Gnade aber kann nicht müßig sein, sondern greift gerne zur Arbeit. Die Natur sucht seltsame und schöne Dinge zu haben und verabscheut das Geringe und Grobe; die Gnade aber ergötzt sich am Einfachen und Gewöhnlichen, ver-schmäht das Rauhe nicht und trägt kein Bedenken, in alten Kleidern zu er-scheinen. Die Natur sieht auf das Zeitliche, freut sich bei irdischem Gewinn, betrübt sich über Schaden und wird durch ein leichtes, beleidigendes Wort aufgebracht; die Gnade aber strebt nach dem Ewigen, hanget nicht an dem Zeitlichen und wird durch den Verlust von Gütern nicht betrübt, noch durch zu harte Worte erbittert; weil sie ihren Schatz und ihre Freude im Himmel hat, wo nichts verloren geht.

5. Die Natur ist gierig und nimmt lieber, als sie gibt; sie liebt das Eigene und Besondere; die Gnade aber ist aufopfernd und mittheilend, meidet das Besondere, begnügt sich mit Wenigem und hält Geben für seliger, denn Nehmen. Die Natur neigt zu den Kreaturen, zum eigenen Fleische, zu Eitelkeiten und Zerstreuungen; die Gnade aber ziehet zu Gott und zur Tugend, entsagt den Kreaturen, flieht die Welt, haßt des Fleisches Lüste, beschränkt das Herum-schweifen und trägt Scheu, öffentlich zu erscheinen. Die Natur hat gern einigen äußern Trost, an dem sie sich sinnlich ergötzt; aber die Gnade sucht in Gott allein getröstet und in dem höchsten Gute über alles Sichtbare erfreut zu werden.

6. Die Natur thut Alles, um des Gewinns und eigenen Vortheils willen, mag nichts ohne Lohn vornehmen, sondern hofft entweder Gleiches oder Besseres, oder Lob, oder Gunst für ihre Wohlthaten zu erhalten und verlangt, daß man ihre Handlungen oder Geschenke hoch anschlage! die Gnade aber sucht nichts Zeitliches, noch fordert sie einen andern Preis als Gott allein zum Lohne; auch begehrt sie von den zeitlichen Bedürfnissen nichts weiter, als so viel diese ihr zur Erlangung der ewigen Güter zu dienen vermögen.

7. Die Natur freut sich über viele Freunde und Verwandte, rühmt sich eines berühmten Geburtsortes und edler Herkunft, lächelt den Mächtigen zu, schmei-chelt den Reichen und klatscht ihres Gleichen Beifall zu; die Gnade aber liebt auch die Feinde und überhebt sich nicht wegen der Menge von Freunden, noch schlägt sie Geburtsort oder Abkunft hoch an, wenn nicht Tugend dabei ist; sie begünstigt den Armen mehr als den Reichen, nimmt mehr Antheil an dem Unschuldigen, als an dem Mächtigen, freut sich mit dem Redlichen, nicht mit dem Falschen; ermahnt allezeit die Guten, den bessern Gnadengaben nachzueifern und dem Sohne Gottes durch Tugenden ähnlich zu werden. Die Natur beklagt sich alsbald über Mangel und Beschwerde; die Gnade dagegen trägt standhaft jede Entbehrung.

8. Die Natur bezieht Alles auf sich, für sich streitet und erhebt sie Klage; die Gnade aber führt Alles auf Gott zurück, von dem es ursprünglich ausgeht, schreibt sich nichts Gutes zu, noch will sie ihre Meinung gegen Andere durch-setzen; sondern unterwirft sich in all ihrem Sinn und Verstand der ewigen Weisheit und der göttlichen Prüfung. Die Natur begehrt Heimlichkeiten zu wissen und Neues zu hören; sie will äußerlich scheinen und Vieles durch die Sinne erfahren; sie wünscht anerkannt zu werden und thut nur das, was Lob und Bewunderung verschafft: aber die Gnade kümmert sich nicht, Neues und Seltsames zu vernehmen, weil alles das von dem alten Verderben herkommt, da es nichts Neues und Dauerndes auf Erden gibt; sie lehrt daher die Sinne bezähmen, eitle Selbstgefälligkeit und Prahlsucht vermeiden; was löblich und bewundernswerth ist, demüthig verbergen und in allen Dingen und allem Wissen nützliche Frucht und Gottes Lob und Ehre suchen; sie will weder für sich, noch das Ihrige Menschenlob, sondern wünscht, daß Gott, der Alles aus lauter Liebe schenkt, in seinen Gaben gepriesen werde.

9. Diese Gnade ist ein übernatürliches Licht und eine besondere Gabe Gottes, und eigentlich das Siegel der Auserwählten und das Unterpfand des ewigen Heils; sie erhebt vom Irdischen zur Liebe des Himmlischen und macht aus dem Fleischlichen einen Geistlichen. Je mehr also die Natur niedergedrückt und besiegt wird, desto größere Gnade wird eingegossen und der innere Mensch wird durch täglich sich erneuernde Heimsuchungen in das Bild Gottes verklärt.


Kapitel 55 - Von dem Verderben der Natur und der Wirksamkeit der göttlichen Gnade.


1. Herr, mein Gott, der du mich geschaffen hast, nach deinem Bild und Gleichniß, verleihe mir diese Gnade, die du mir als so groß und so nothwendig zum Heile gezeigt hast, damit ich meine ganz verderbte Natur überwinde, die mich zu Sünden und in’s Verderben fortreißt. Denn ich fühle in meinem Fleische das Gesetz der Sünde, das dem Gesetze meines Geistes widerspricht und mich gefangen führt, der Sinnlichkeit zu gehorchen in vielen Dingen; und ich vermag den Begierden keinen Widerstand zu leisten, wenn mir nicht deine heiligste, meinem Herzen glühend eingegossene Gnade beisteht.

2. Ich bedarf deiner Gnade, und großer Gnade, damit die Natur bezwungen werde, die von Jugend auf stets zum Bösen geneigte. Denn nachdem sie durch den ersten Menschen Adam gefallen und durch die Sünde verderbt war, ging die Strafe dieser Verderbniß auf alle Menschen über, so daß die Natur selbst, welche gut und recht von dir erschaffen wurde, jetzt für das Gebrechen und für die Schwachheit der verderbten Natur gewonnen wird, weil ihre Regung, sich selbst überlassen, zum Bösen und Niedrigen hinzieht. Denn die geringe Kraft, die ihr noch übrig geblieben, ist wie ein Fünklein, das unter der Asche sich verbirgt. Dies ist die natürliche Vernunft selbst, die, obwohl von großer Finsterniß umgeben, doch noch das Urtheil über Gutes und Böses, Wahres und Falsches hat, aber nicht im Stande ist, Alles zu erfüllen, was sie billigt, und jetzt weder das volle Licht der Wahrheit, noch die Gesundheit ihrer Neigungen genießt.

3. Daher kommt es, mein Gott! daß ich Freude habe an deinem Gesetz nach dem inwendigen Menschen, da ich weiß, daß dein Gebot gut, gerecht und heilig ist, auch alles Böse straft und daß man die Sünde fliehen muß. Dem Fleisch nach aber diene ich dem Gesetz der Sünde, indem ich mehr der Sinnlichkeit gehorche, als der Vernunft. Daher kommt es, daß in mir zwar das Wollen des Guten liegt, das Vollbringen aber finde ich nicht. (Röm. 7,18.) – Daher nehme ich mir oft viel Gutes vor, aber weil die Gnade fehlt, die meiner Schwachheit aufhilft, so weiche ich bei geringem Widerstande zurück und lasse ab. – Daher geschieht es, daß ich den Weg zur Vollkommenheit erkenne, und wie ich handeln soll, klar genug sehe; aber von der Schwere des eigenen Verderbens niedergedrückt, erhebe ich mich nicht zum Vollkommenen.

4. O wie höchst nöthig ist mir deine Gnade, Herr, um das Gute anzufangen, fortzusetzen und zu vollenden! Denn ohne dieselbe kann ich nichts thun; Alles aber vermag ich in dir, wenn mich die Gnade stärkt. O du wahrhaft himmlische Gnade, ohne welche die eigenen Verdienste nicht sind, auch die Gaben der Natur kein Gewicht haben. Nichts gelten Künste, nichts Reichthum, nichts Schönheit oder Stärke, nichts Scharfsinn oder Beredsamkeit bei dir, o Herr, ohne Gnade. Denn die Gaben der Natur sind Guten und Bösen gemein, die besondere Gabe der Auserwählten aber ist die Gnade oder die Liebe, wodurch sie des ewigen Lebens würdig werden. So hoch steht diese Gnade, daß weder die Gabe der Weissagung, noch die Kraft Wunder zu thun, noch die tiefste Erkenntniß irgend einen Werth hat ohne sie. Ja, weder Glaube, noch Hoffnung, noch andere Tugenden sind dir angenehm ohne Liebe und Gnade.

5. O holdselige Gnade, die du den Armen im Geist reich an Tugenden und den an vielen Gütern Reichen demüthigen Herzens machst, komm, steige herab zu mir, erfülle mich frühe mit deinem Troste, damit meine Seele nicht vor Mattigkeit und Dürre des Geistes verschmachte! Ich flehe zu dir, Herr, laß mich Gnade finden vor deinen Augen; denn deine Gnade genügt mir, wenn ich auch das Uebrige, was die Natur verlangt, nicht erhalte. Ob ich gleich durch viele Trübsale versucht und geängstiget werde, so fürchte ich doch kein Uebel, so lange deine Gnade mit mir ist. Sie ist meine Stärke, sie gibt mir Rath und Hülfe. Sie ist mächtiger als alle Feinde, weiser als alle Weisen.

6. Sie ist die Lehrerin aller Wahrheit und der Zucht, das Licht des Herzens, ein Trost in Bedrängniß, sie verscheuchet die Traurigkeit, treibet die Furcht aus, nähret die Andacht, locket Thränen hervor. Was bin ich ohne sie, als dürres Holz und ein nutzloser Stamm zum Wegwerfen? Darum, o Herr! laß deine Gnade mir stets vorangehen und folgen, sie mache mich fleißig zu guten Werken durch Jesum Christum, deinen Sohn! Amen.


Kapitel 56 - Daß wir uns selbst verleugnen und Christo durch das Kreuz nachfolgen sollen.


1. Sohn! so viel du aus dir auszugehen vermagst, so viel wirst du in mich eingehen können. Gleichwie nichts von Außen begehren innern Frieden schafft, also verbindet das Verläugnen des Innern mit Gott. Ich will, daß du lernest die vollkommene Verleugnung deiner selbst in meinen Willen, ohne Widerspruch und Klage. – Folge mir: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh. 14,6.) Ohne Weg kann man nicht gehen, ohne Wahrheit nicht erkennen, ohne Leben nicht leben. Ich bin der Weg, dem du folgen; die Wahrheit, der du glauben; das Leben, das du hoffen mußt. Ich bin der unfehlbare Weg, die untrügliche Wahr-heit, das ewige Leben. Ich bin der geradeste Weg, die höchste Wahrheit, das wahre Leben, das selige Leben, das unerschaffene Leben. Wenn du auf meinem Wege bleiben wirst, so wirst du die Wahrheit erkennen; und die Wahrheit wird dich frei machen und du wirst das ewige Leben erlangen.

2. Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Willst du vollkommen sein, so verkaufe Alles. Willst du mein Jünger sein, so verläugne dich selbst. Willst du das ewige Leben besitzen, so verachte das gegenwärtige Leben. Willst du erhöht werden im Himmel, so erniedrige dich in der Welt. Willst du mit mir herrschen, so trage das Kreuz mit mir. Denn die Diener des Kreuzes allein finden den Weg der Seligkeit und des wahren Lichtes.

3. Herr Jesu, weil dein Weg schmal und von der Welt verachtet ist, so gib mir, daß ich die Welt verachte und dir nachfolge. Denn der Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch der Jünger über den Meister. (Matth. 10,24.) Laß deinen Knecht geübt werden in der Nachahmung deines Lebens, weil hierauf meine Heiligung und Seligkeit beruht. Was ich außerdem lese und höre, gewährt nicht wahre Befriedigung und volle Beseligung.

4. Sohn! weil du das weißt und Alles gelesen hast: selig bist du, wenn du es thust. „Wer meine Gebote hat und hält sie, der ist es, der mich liebet; und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren“ (Joh. 14,21.) und ihn mit mir sitzen lassen in meines Vaters Reich.

5. Herr Jesu! wie du gesagt und verheißen hast, so geschehe mir! Genommen, genommen aus deiner Hand habe ich das Kreuz; tragen, ja tragen will ich es bis zum Tode, wie du es mir aufgelegt hast! Wahrlich, das Leben eines guten Christen ist das Kreuz; aber es führt zum Paradiese. Der Anfang ist gemacht, ich will, ich darf nicht weichen und zurückgehen!

6. Wohlan, Brüder! mit einander laßt uns ziehen, Jesus wird mit uns sein! Um Jesu willen haben wir dieses Kreuz auf uns genommen, um Jesu willen lasset uns auch ausharren im Kreuze. Er wird unser Helfer sein, er der unser Führer und Vorgänger ist. Siehe, unser König ziehet vor uns her und streitet für uns. Lasset uns mannhaft folgen. Keiner fürchte Schrecken: Lasset uns bereit sein, muthig zu sterben im Kampfe! Fern bleibe uns die Schmach, geflohen zu sein vor dem Kreuze!


Kapitel 57 - Daß der Mensch nicht allzu niedergeschlagen sein soll, wenn er in einige Fehler verfällt.


1. Sohn! Geduld und Demuth im Unglück gefällt mir mehr, als viel Trost und Andacht im Glück. Was betrübt dich denn das Geringste, das wider dich geredet wird? Wäre es auch mehr gewesen, so hätte es dich doch nicht so heftig bewe-gen sollen. Jetzt aber laß es gehen! Es ist weder das Erstemal, noch etwas Neues, noch wird es das Letztemal in deinem Leben sein. Du bist gar männlich, so lange dir nichts Widerwärtiges begegnet. Du gibst auch guten Rath, und weißt Andern Muth zuzusprechen; wenn aber vor deine Thür plötzliche Trübsal kommt, so fehlt dir der Rath und Muth. Merke auf deine große Gebrechlichkeit, die du öfters bei geringfügigen Vorfällen erfährst; aber es geschieht immer zu deinem Heile, wenn dich dieß und Aehnliches betrifft.

2. Banne, so gut du kannst, diese Traurigkeit aus dem Herzen, und vermagst du das nicht: so laß dich doch nicht völlig niederbeugen, noch lange beunruhigen. Trage wenigstens mit Geduld, was du nicht freudig tragen kannst. Auch wenn du etwas eben nicht gern hörest und unwillig darüber wirst: so halte dich zurück, und laß kein unziemliches Wort aus deinem Munde gehen, woran die Kleinen sich ärgern möchten. Schnell wird der erregte Sturm sich legen, und der innere Schmerz durch die wiederkehrende Gnade versüßt werden. Noch lebe ich, spricht der Herr, bereit dir zu helfen und dich mehr als sonst zu trösten, wenn du mir vertrauest und mich demüthig anrufest.

3. Sei gleichmüthiger und rüste dich zu größerer Geduld. Es ist nicht Alles verloren, wenn du dich öfters bedrängt oder schwer versucht fühlst. Du bist ein Mensch und nicht Gott; Fleisch bist du, kein Engel. Wie vermöchtest du immer in dem gleichen Zustande der Tugend zu bleiben, da das der Engel im Himmel und der erste Mensch im Paradiese nicht vermocht hat? Ich bin es, der ich die Trauernden durch Trost aufrichte, und die, so ihre Schwachheit erkennen, zu meiner Gottheit erhebe.

4. Herr! gepriesen sei dein Wort, das meinem Gaumen süßer ist, als Honig und Honigseim. Was wollte ich thun in so großen Trübsalen und Aengsten, wenn du mich nicht stärkest mit deinen heiligen Worten? Wenn ich nur endlich zum Hafen des Heils gelange, was kümmerts mich, was und wie viel ich gelitten habe? Gib ein gutes Ende, gib einen seligen Ausgang aus dieser Welt. Gedenke meiner, mein Gott! und leite mich auf rechter Bahn in dein Reich! Amen!


Kapitel 58 - Daß man zu hohe Dinge und die geheimen Gerichte Gottes nicht erforschen soll.


1. Sohn! hüte dich, über hohe Dinge und die geheimen Gerichte Gottes zu streiten; warum dieser so verlassen und jener zu so hoher Gnade angenommen wird; warum auch der so tief erniedriget und jener so hoch erhoben wird? Das geht über alle menschliche Fassungskraft hinaus, und zur Erforschung des göttlichen Gerichtes reicht keine Vernunft und kein gelehrter Streit hin. Wenn also der Feind dir solches eingibt, oder auch gewisse vorwitzige Menschen darnach forschen, so antworte mit dem Propheten! „Herr, du bist gerecht, und gerecht ist dein Gericht!“ und wieder: „Die Gerichte des Herrn sind wahrhaftig und recht-fertigen sich selbst!“ (Ps. 118,137.; 18,10.) Meine Gerichte soll man fürchten, aber nicht erforschen wollen, weil sie dem menschlichen Verstande unbegreiflich sind.

2. Grüble und streite auch nicht über die Verdienste der Heiligen, welcher heiliger sei als der andere, oder wer im Himmelreich größer sein möge. Solches erzeugt oft unnützen Hader und Streit, nährt auch den Stolz und den eitlen Ruh, woraus Neid und Zwietracht entspringt, indem der diesen Heiligen, und jener einen andern hoffärtig zu erheben sucht. Solcherlei aber wissen und ergrübeln wollen, bringt keine Frucht, sondern mißfällt vielmehr den Heiligen, weil ich nicht bin ein Gott der Zwietracht, sondern des Friedens, der mehr in wahrer Demuth, als in eigener Erhebung besteht.

3. Einige werden in eifernder Liebe zu diesen oder zu jenen durch eine stärkere, jedoch mehr menschliche als göttliche Neigung hingezogen. Ich bin es, der alle Heiligen erschaffen hat; ich gab die Gnade, ich verlieh die Herrlichkeit; ich erkenne die Vorzüge eines Jeden; ich bin ihnen zuvorgekommen mit den Seg-nungen meiner Süßigkeit. Ich habe meine Geliebten von Ewigkeit her gekannt; ich habe sie von der Welt erwählt, nicht sie haben mich vorher erwählt. Ich habe sie berufen aus Gnaden, angezogen aus Barmherzigkeit; ich habe sie durch mancherlei Prüfungen geführt. Ich habe ihnen herrliche Tröstungen eingeflößt, ich habe ihnen Beharrlichkeit gegeben, ich habe ihre Geduld gekrönt.

4. Ich kenne den Ersten und den Letzten; ich liebe sie Alle mit unvergleichbarer Liebe. Ich bin zu loben in allen meinen Heiligen; ich bin über Alles zu preisen und zu ehren in den Einzelnen, die ich so wunderbar verherrlicht und erwählt habe, ohne alle vorhergehende eigene Verdienste. Wer also einen von meinen Kleinsten verachtet, der ehret auch den Großen nicht, weil ich den Kleinen und den Großen geschaffen habe. Und wer einen der Heiligen verkleinert, der verkleinert auch mich, und alle Uebrigen im Himmelreiche. Alle sind durch der Liebe Band Eins, denken Eins, wollen Eins, und lieben sich insgesammt in Einem.

5. Aber was viel höher ist, sie lieben mich noch mehr, als sich und ihre Ver-dienste. Denn sich selbst entrückt und von aller Eigenliebe entblößt, gehen sie ganz ein in meiner Liebe, in der sie auch genußreich ruhen. Nichts ist, was sie abwenden oder niederbeugen könnte, weil sie, der ewigen Wahrheit voll, vom Feuer einer unauslöschlichen Liebe durchglüht sind. Aufhören sollen darum die fleischlichen und sinnlichen Menschen, von dem Zustande der Seligen zu reden, da sie nichts zu lieben wissen, als ihre eigene Lust. Sie thun dazu und davon nach ihrer Neigung, nicht wie es der ewigen Wahrheit gefällt.

6. Bei Vielen ist es Unwissenheit, zumeist bei denen, die, wenig erleuchtet, selten Einen mit vollkommener geistiger Liebe zu lieben verstehen. Viele werden noch von natürlicher Neigung und menschlicher Freundschaft zu diesen oder jenen hingezogen, und wie sie es im Irdischen halten, so bilden sie sich’s auch vom Himmlischen ein. Aber es ist ein unermeßlicher Abstand zwischen dem, was die Unvollkommenen denken, und dem, was erleuchtete Männer im Lichte höherer Offenbarung schauen.

7. Hüte dich also, Sohn! vorwitzig über das zu verhandeln, was deine Erkenntniß übersteigt, aber strebe und ringe vielmehr darnach, daß du wenigstens der Geringste im Reiche Gottes werden mögest. Und wenn auch Einer wüßte, wer heiliger als ein Anderer wäre oder für größer im Himmelreich gehalten: was würde ihm diese Kenntniß nützen, wenn er sich nicht dadurch vor mir demüthigte und zu größerem Lobe meines Namens erhöbe? Gott viel wohlgefälliger handelt der, der an die Größe seiner Sünden und an die Geringfügigkeit seiner Tugenden denkt, und wie weit er von der Vollkommenheit der Heiligen entfernt ist, als der, welcher über die höhere oder niedere Stufe derselben streitet.

8. Es ist besser, in andächtigen Gebeten und mit Thränen zu den Heiligen zu flehen und mit demüthigem Herzen ihre glorreichen Fürbitten anzurufen, als ihre Geheimnisse durch eitles Grübeln erforschen zu wollen. Sie sind wohl und vollkommen zufrieden; möchten nur auch die Menschen Zufriedenheit lernen und sich ihres eiteln Geschwätzes enthalten. Sie rühmen sich nicht ihrer eigenen Verdienste, weil sie sich selbst nichts Gutes zuschreiben, sondern Alles mir, der ich ihnen Alles aus grenzenloser Liebe geschenkt habe. Sie sind von so großer Liebe zu Gott und von solcher überschwenglichen Freude erfüllt, daß ihnen nichts an Herrlichkeit mangelt und nichts an Seligkeit mangeln kann. Alle Heiligen sind, je höher in Herrlichkeit, desto demüthiger in sich selbst, und mir desto näher und desto lieber. Daher steht geschrieben: „Sie legten ihre Kronen nieder vor Gott, und fielen auf ihr Angesicht vor dem Lamme, und beteten an Den, der da lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Offenbarung 4,10.)

9. Viele fragen: wer der Größte sei im Reiche Gottes, und wissen nicht, ob sie würdig geachtet werden mögen, unter den Geringsten zu sein. Es ist schon etwas Großes, der Kleinste im Himmel zu sein, wo Alle groß sind, weil Alle Kinder Gottes heißen und sein werden. Der Kleinste soll zu Tausenden werden, und der Sünder von hundert Jahren wird sterben. Denn als die Jünger fragten, wer der Größte im Himmelreich wäre, vernahmen sie diese Antwort: „Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Wer sich nun erniedriget, wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.“ (Matth. 18,1.3.4.)

10. Wehe denen, die es verschmähen, sich mit den Kleinen freiwillig zu ernie-drigen; denn die niedere Thüre des Himmelsreichs wird sie nicht eingehen lassen. Wehe auch den Reichen, die ihren Trost hier haben: denn wenn die Armen in das Reich Gottes eingehen, werden sie draußen stehen und heulen. Freuet euch, ihr Demüthigen, und frohlocket, ihr Armen; denn euer ist das Reich Gottes, wenn ihr anders in der Wahrheit wandelt.


Kapitel 59 - Daß man alle Hoffnung und alles Vertrauen allein auf Gott setzen soll.


1. Herr! was ist meine Zuversicht, die ich in diesem Leben habe? oder was ist mein größter Trost von Allem, was unter dem Himmel ist? Bist du es nicht, Herr, mein Gott, dessen Barmherzigkeit kein Ende hat? Wo war mir wohl ohne dich? Oder wann konnte es mir übel gehen, so lange du mir nahe warst? Ich will lieber arm sein um deinetwillen, als reich ohne dich. Ich will lieber mit dir auf Erden pilgern, als ohne dich den Himmel besitzen. Wo du bist, da ist Himmel, und da, wo du nicht bist, Tod und Hölle. Du bist mein Verlangen, und darum muß ich nach dir seufzen, schreien und flehen. Auf Niemand kann ich ganz vertrauen, der mir in Nöthen Hilfe brächte, denn nur auf dich, meinen Gott! Du bist meine Hoffnung, du meine Zuversicht, du mein Tröster und in Allem der Getreueste!

2. Alle suchen, was das Ihre ist; du willst nur mein Heil und meine Heiligung, und kehrest mir Alles zum Guten. Auch wenn du mir allerlei Versuchungen und Trübsale zuschickst, fügst du doch Alles das zu meinem Heil, der du deine Freunde auf tausenderlei Weise zu prüfen pflegst. Und selbst da mußt du nicht weniger geliebt und gepriesen werden, als wenn du mit himmlischem Troste mich erfüllest.

3. Auf dich also, Herr, mein Gott, setze ich meine ganze Hoffnung! Du bist meine Zuflucht. Dir stelle ich all meine Trübsal und Angst anheim; denn außer dir ist Alles schwach und unbeständig. Auch viele Freunde werden mir nichts nützen, starke Helfer nicht helfen, kluge Rathgeber nicht nützlichen Rath ertheilen, die Bücher der Gelehrten mich nicht trösten, kein Schatz mich erlösen, noch ein Ort, auch der verborgenste und anmuthigste nicht, mir Schutz gewähren können, wenn du selbst nicht beistehst, hilfst, stärkst, tröstest, unterweisest und beschir-mest.

4. Denn Alles, was zum Frieden und zur Glückseligkeit zu dienen scheint, ist nichts, wenn du ferne bist, und schaffst kein wahres Glück. Darum bist du der Brunnquell aller Güter und die Höhe des Lebens und die Tiefe der Weisheit und auf dich über Alles hoffen, ist der kräftigste Trost deiner Knechte. Auf dich sehen meine Augen, auf dich vertraue ich, mein Gott, Vater der Barmherzigkeit. Segne und heilige meine Seele mit himmlischem Segen, daß sie werde deine heilige Wohnung und der Sitz deiner ewigen Herrlichkeit, und nichts im Tempel deiner Gottheit gefunden werde, was die Augen deiner Majestät beleidige. – Nach der Größe deiner Güte und nach der Fülle deiner Erbarmungen blicke herab auf mich, und höre das Gebet deines armen Knechtes, der im Lande der Todes-schatten weitab verbannt ist. Beschütze und bewahre die Seele deines Knechtes unter so vielen Fährlichkeiten des hinfälligen Lebens, und führe sie, begleitet von deiner Gnade, auf dem Wege des Friedens zur Heimath ewiger Klarheit! Amen.  


- Fortsetzung -