Kapitel 24 - Vom vorwitzigen Klügeln über Andere.


1. Sohn! sei nicht vorwitzig und gib dich nicht eitlen Sorgen hin. Was geht dich dieses oder jenes an? Folge du mir nach. Denn was kümmert es dich, ob jener so oder so ist; oder ob dieser so oder anders redet und handelt? Du darfst nicht antworten für Andere, aber für dich selbst mußt du Rechenschaft geben. Warum mischest du dich also in die Angelegenheiten Anderer? Siehe, ich kenne Alle und Alles was unter der Sonne geschieht, sehe ich, und weiß, wie es mit einem Jeden steht, was er denkt, was er will und auf welches Ziel seine Absicht geht. Mir mußt du also Alles anheimstellen; du aber erhalte dich in gutem Frieden und laß jeden treiben, was er will. Kommen wird über ihn, was er gethan oder geredet hat; denn mich kann er nicht täuschen. Hasche nicht nach dem Schatten eines berühmten Namens, nicht nach der Bekanntschaft mit vielen, noch nach der besonderen Gunst der Menschen. Denn das erzeugt nur Zerstreuung und große Verfinsterung im Herzen. Ich würde dir gern mein Wort in die Seele sprechen und meine Geheimnisse offenbaren, wenn du nur auf meine Nähe sorgfältig achtest und die Thüre des Herzens mir aufschlößest. Sei vorsichtig und wache im Gebet, und demütige dich in Allem!


Kapitel 25 - Worin der beständige Friede des Herzens und das Wachsthum im Guten besteht.


1. Sohn! ich habe gesagt: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch;, nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt.“ (Joh. 14,27.) Frieden begehren Alle; aber was zum wahren Frieden gehört, dafür sorgen nicht Alle. Mein Friede ist nur bei denen, die demüthig und von Herzen sanftmüthig sind. Dein Friede wird sein in vieler Geduld. Wenn du mich hörest und meiner Stimme folgst, so wirst du viel Frieden genießen können. Was soll ich also thun, o Herr? In Allem habe Acht auf dich, was du thust und was du redest, daß du mir allein gefallest und außer mir nichts begehrest oder suchest. Aber auch über Anderer Reden oder Handlungen sollst du nicht freventlich urtheilen, noch dich in Dinge mischen, die dich nichts angehen und dann mags geschehen, daß du wenig oder selten beunruhiget wirst.

2. Niemals aber einige Unruhe fühlen, noch irgend eine Beschwerde des Herzens oder des Körpers dulden: das ist nicht der gegenwärtigen Zeit, sondern der ewigen Ruhe Stand. Wähne also nicht, du habest den wahren Frieden gefunden, wenn du keine Beschwerde fühlst; noch, dann sei Alles gut, wenn du mit keinem Widersacher zu schaffen hast; oder, das sei Vollkommenheit, wenn Alles dir nach Wunsch und Willen geht. Halte dich auch dann nicht für etwas Großes oder für besonders geliebt, wenn du dich von Andacht und Süßigkeit erfüllt fühlst; denn daran wird der echte Liebhaber der Tugend nicht erkannt, noch bestehet darin des Menschen Fortschritt und Vollkommenheit. Worin denn, o Herr? Darin, daß du dich von ganzem Herzen dem Willen Gottes hingibst, nicht suchend, was dein ist, weder im Kleinen, noch im Großen, weder in der Zeit, noch in der Ewigkeit: also, daß du gleichmüthig in Danksagung verharrest bei Glück und Unglück, indem du Alles auf gleicher Wage wägest. Bist du so stark und beharrlich in der Hoffnung geworden, daß du, selbst wenn der innere Trost dir entzogen ist, dein Herz bereitet hast, auch noch Schwereres zu ertragen, und rechtfertigest du dich nicht, als solltest du dieß und so viel nicht leiden dürfen; sondern erkennest mich für gerecht in allen Fügungen und preisest mich als heilig; dann wandelst du auf dem wahren und geraden Wege des Friedens und darfst ganz sicher hoffen, daß du mit Jauchzen mein Antlitz wieder erblicken wirst. Ja, wenn du es bis zur vollkommenen Verschmähung deiner selbst ge-bracht hast, so wisse, daß du dann so überschwänglichen Frieden haben wirst, als es dein Pilgerleben möglich macht.


Kapitel 26 - Von der Erhabenheit eines freien Gemüths, welches mehr durch demüthiges Gebet als durch Lesen erlangt wird.


1. Herr, das ist das Werk eines vollkommenen Mannes, nie sein Gemüth vom Trachten nach dem Himmlischen abzuziehen und unter vielen Sorgen dennoch, wie ohne Sorgen durchzukommen, und zwar nicht aus Geistesstumpfheit, sondern aus Geistesfreiheit, indem er keiner Kreatur mit ungeordneter Neigung anhängt. Ich bitte dich, o mein mildester Gott! bewahre mich vor den Sorgen dieses Lebens, daß ich nicht allzusehr darein verstrickt; vor vielen Bedürfnissen des Leibes, daß ich nicht durch Wollust gefesselt; vor allen Hindernissen der Seele, daß ich nicht, durch Mühsale gebeugt, zu Boden geworfen werde. Nicht blos bewahre mich vor jenen Dingen, denen die weltliche Eitelkeit mit aller Begier nachläuft, sondern auch vor den Mühseligkeiten, welche die Seele deines Knechtes nach dem allgemeinen Fluche der Sterblichkeit peinlich beschweren und hemmen, daß sie nicht zur Freiheit des Geistes, so oft sie es wünscht, einzugehen vermag.

2. O mein Gott, du unaussprechliche Süßigkeit, verkehre mir in Bitterkeit allen fleischlichen Trost, der mich abzieht von der Liebe zum Ewigen und mich durch den Anblick irgend eines gegenwärtigen ergötzlichen Gut’s schändlich an sich lockt. Laß mich doch nicht, mein Gott, o laß mich nicht von Fleisch und Blut überwunden, nicht von der Welt und ihrer kurzen Herrschaft getäuscht, nicht von dem Teufel und seiner Arglist hintergangen werden. Gib mir Kraft zu wider-stehen, Geduld zu leiden, Beständigkeit auszuharren. Gib mir anstatt aller Tröstungen der Welt die leibliche Salbung deines Geistes, und anstatt fleisch-licher Liebe, gieß mir die Liebe deines Namens in’s Herz.

3. Siehe, Speise, Trank, Kleidung und was sonst zur Leibesnothdurft gehört, wird alles dem inbrünstigen Geiste zur Last. Laß mich solchen Lebensbedarf mit Maß gebrauchen, damit ich nicht durch allzu große Begier darnach verstrickt werde. Alles dessen sich zu entäußern, was die Natur zu ihrer Erhaltung fordert, ist nicht möglich; Ueberflüssiges aber und was blos zum Sinnenkitzel dient, aufzusuchen, verbietet das heilige Gesetz; denn sonst würde das Fleisch sich wider den Geist empören. Zwischen diesen hindurch möge, so fleh’ ich, deine Hand mich leiten und lehren, daß in Keinem zu viel geschehe.


Kapitel 27 - Daß die Eigenliebe vom höchsten Gut am meisten abzieht.


1. Sohn! du mußt Alles für Alles geben und nichts mehr dir selbst sein. Wisse, daß die Eigenliebe dir mehr schadet, als irgend etwas in der Welt. Nach dem Maß deiner Liebe und Neigung fesselt dich mehr oder weniger jede Sache. Ist deine Liebe rein, einfältig und wohlgeordnet, so wird dich nichts zum Sklaven machen. Begehre nicht, was du nicht haben darfst; wolle nicht haben, was dich hindern und der innern Freiheit berauben kann. Es ist wunderbar, daß du dich mir nicht von ganzem Herzen ergibst mit Allem, was du begehren und haben kannst!

2. Warum lässest du dich von eitlem Kummer verzehren? Warum von über-flüssigen Sorgen ermüden? Ueberlaß dich meinem Wohlgefallen, so wirst du keinen Schaden erleiden. Wenn du aber dieses oder jenes suchst und bald da, bald dort sein willst, um deines Vortheils willen und um mehr Annehmlichkeit für dich zu haben; so wirst du nie zur Ruhe kommen, noch frei sein von Bekümmer-niß; denn an jedem Dinge wird sich ein Mangel und an jedem Orte ein Wider-sacher finden.

3. Darum nützet es dir nichts, daß du viel erwirbst und dein äußeres Gut ver-mehrst, sondern vielmehr, daß du alles dieß verschmähst und sammt der Wurzel aus dem Herzen reißest. Und das gilt nicht blos von Gold und Reichthum, sondern auch von der Ehr- und Ruhmsucht, welche Dinge alle mit der Welt vergehen. Wenig schützt der Ort, wenn der Geist der Inbrunst fehlt; auch wird der Friede, den du äußerlich suchst, nicht lange bestehen, wenn dem Herzen der wahre Grund abgeht, das heißt, wenn du nicht in mir feststehest. Du kannst dich ändern, aber nicht verbessern. Denn sobald eine Gelegenheit kommt und von dir ergriffen wird, so findest du wieder, was du geflohen hast und noch mehr. Gebet um Reinigung des Herzens und himmlische Weisheit.

4. Befestige mich, o Gott! durch die Gnade des heiligen Geistes. Gib mir Kraft, stark zu werden am inwendigen Menschen und mein Herz aller unnützen Sorge und Angst zu entledigen, mich auch nicht von wechselndem Verlangen nach irgend einer Sache, sie sei kostbar oder gering, hinreißen zu lassen, sondern alle Dinge als vergänglich anzusehen und mich selbst als einen solchen, der zugleich mit ihnen vergehen wird. Denn nichts ist bleibend unter der Sonne, sondern alles Eitelkeit und Bekümmerniß des Geistes.

5. Gib mir, o Herr, himmlische Weisheit, daß ich lerne, dich über Alles zu suchen und zu finden, dich über Alles zu schätzen und zu lieben und alles Andere nach der Ordnung deiner Weisheit, so wie es ist, zu erkennen. Gib auch, daß ich klüg-lich den Schmeichler meide und gelassen den Widersacher ertrage. Denn das ist große Weisheit, sich nicht bewegen zu lassen von einem jeglichen Wind der Worte, noch das Ohr zu leihen der verführerischen Stimme der Schmeichelei; denn so nur wandelt man sicher auf der betretenen Bahn.


Kapitel 28 - Wider die Zungen der Verläumder.


1. Sohn! kränke dich nicht, wenn Manche übel von dir denken und sagen: was du nicht gern hörest. Du mußt noch Schlimmeres von dir selbst denken und Nieman-den für schwächer halten, als dich selbst. Wenn du im Geiste wandelst, so wirst du auf flüchtige Worte nicht viel achten. Es ist nicht geringe Klugheit, zu schwei-gen in böser Zeit und sich innerlich zu mir wenden, noch durch menschliches Urtheil sich beunruhigen zu lassen.

2. Dein Friede soll nicht im Munde der Menschen sein; den mögen sie dich gut oder schlecht beurtheilen, du bist darum noch kein anderer Mensch. Wo ist der wahre Friede und der wahre Ruhm, wenn nicht in mir? Und wer nicht begehret, den Menschen zu gefallen, noch fürchtet, ihnen zu mißfallen, der wird vielen Frieden genießen. Denn aus ungeordneter Liebe und eitler Furcht entsteht alle Unruhe des Herzens und Zerstreuung der Sinne.


Kapitel 29 - Wie man Gott zur Zeit der Trübsal anrufen und preisen soll.


1. Dein Name, o Herr! sei gepriesen in Ewigkeit, der du gewollt hast, daß diese Anfechtung und Trübsal über mich komme. Ich kann ihr nicht entfliehen, sondern muß zu dir meine Zuflucht nehmen, daß du mir beistehest und sie zu meinem Besten dienen lässest. Herr! jetzt bin ich in Trübsal und meinem Herzen ist nicht wohl; denn ich werde schwer geplagt von dem gegenwärtigen Leiden. Und nun, geliebter Vater, was soll ich sagen? Bedrängnisse umringen mich. Rette mich aus dieser Stunde! Aber deßwegen bin ich in diese Stunde gekommen, damit du verklärt werdest, wenn ich tief gedemüthigt und durch dich befreit worden bin. Herr! laß es dir gefallen, mich zu erretten; denn ich Armer, was kann ich thun und wohin soll ich gehen ohne dich? Gib mir Geduld, Herr, auch dieses Mal. Stehe mir bei, mein Gott! und ich werde mich nicht fürchten, wie schwer auch die Last an mir lieget.

2. Und nun in dieser Noth, was soll ich sagen? Herr! dein Wille geschehe! Ich habe es wohl verdient, daß ich gezüchtiget und geängstiget werde. Ich muß es wohl ertragen und möchte es mir nur an Geduld nicht fehlen, bis das Wetter vorübergeht und es besser wird. Stark genug ist aber deine allmächtige Hand, auch diese Anfechtung von mir zu nehmen und ihr Ungestüm zu mildern, daß ich nicht ganz unterliege, wie du zuvor auch öfters an mir gethan hast, mein Gott, meine Barmherzigkeit! Und je schwerer mir, desto leichter ist dir diese Verände-rung, du Allerhöchster!


Kapitel 30 - Von der Anrufung der göttlichen Hülfe und dem Vertrauen, die Gnade wieder zu erlangen.


1. Sohn, ich bin der Herr, der dich stärkt am Tage der Trübsal. Komm zu mir, wenn dir bange ist! Das ist es, was am meisten den himmlischen Trost ver-hindert, daß du dich erst spät zum Gebet entschließest. Denn ehe du mich ernstlich anrufest, suchest du vielerlei Trost und meinst in äußeren Dingen Erquickung zu finden. Und so geschieht es, daß Alles wenig nützt, bis du er-kennest, daß ich es bin, der da errettet, die auf mich hoffen und daß außer mir keine kräftige Hülfe, kein guter Rath und kein wirksames Heilmittel ist. Aber nun, da der Geist nach dem Wetter wieder gesammelt ist, erhole dich im Lichte meiner Erbarmungen; denn ich bin nahe, spricht der Herr, daß ich Alles ersetze, nicht allein vollständig, sondern auch in überfließender Fülle.

2. Ist mir wohl irgend etwas zu schwer? oder werde ich sein wie Einer, der verspricht, aber sein Wort nicht hält? Wo ist dein Glaube? Steh fest und be-harrlich. Verliere den Muth nicht und sei ein tapferer Mann; und es wird dir Trost kommen zu seiner Zeit. Harre auf mich, harre; ich werde kommen und dich heilen. Versuchung ist’s, was dich plagt; und eitle Furcht, was dich erschreckt. Was fruchtet die Sorge um das, was künftig einmal geschehen kann, anders, als daß du Traurigkeit über Traurigkeit hast? „Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ (Mth. 6,31.) Es ist eitel und unnütz, sich über zukünf-tige Dinge ängstigen oder freuen, die vielleicht niemals wirklich geschehen.

3. Aber es widerfährt dem Menschen gar leicht, daß er sich von solchen Ein-bildungen täuschen läßt und es verräth noch ein schwaches Gemüth, daß man zu den Eingebungen des bösen Feindes so leicht hingezogen wird. Denn diesem gilt es gleich, ob er mit wahren oder falschen Vorstellungen täusche und betrüge; ob er durch Liebe zum Gegenwärtigen oder durch Furcht vor dem Zukünftigen zum Fall bringe. „Dein Herz also erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Joh. 14,27.) Glaube an mich und habe Vertrauen auf meine Barmherzigkeit. Wenn du meinst, du seiest fern von mir, bin ich oft um so näher. Wenn du fast Alles für verloren hältst, dann ist oft die Zeit, großen Lohn zu verdienen. Es ist nicht Alles verloren, wenn etwas in’s Gegentheil umschlägt. – Du darfst nicht nach der gegenwärtigen Empfindung urtheilen, noch einer Beschwerniß woher sie auch kommen mag, so nachhängen und sie so aufnehmen, als sei alle Hoffnung, wieder herauszukommen, dahin.

4. Wähne dich nicht für gänzlich verlassen, ob ich dir gleich eine Zeitlang Trüb-sale schicke oder auch den gewünschten Trost dir entziehe; denn das ist der Weg zum Himmelreich. Und das nützet dir und allen meinen Knechten ohne Zweifel mehr, daß ihr durch Widerwärtigkeiten geprüft werdet, als wenn ihr Alles nach Wunsch hättet. Ich kenne die verborgenen Gedanken, und darum weiß ich, wie es für dein Heil sehr förderlich ist, daß du zuweilen schmachtest; damit du dich des glücklichen Fortganges nicht überhebest und dir selbst gefallest in dem, was du nicht bist. Was ich gegeben, kann ich nehmen, und wieder geben, wenn es mir gefällt.

5. Wenn ich’s gebe, so ist es mein; wenn ich’s nehme, so habe ich nicht das Deine genommen; „denn von mir kommt alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe.“ (Jac. 1,17.) Schicke ich Trübsal oder irgend eine Widerwärtigkeit über dich; so werde nicht unwillig, noch verzage dein Herz; denn ich kann schnell helfen und alle Last in Freude verwandeln. Dennoch bin ich gerecht und hoch zu preisen, wenn ich so mit dir verfahre.

6. Wenn du es recht verstehest und Alles im Lichte der Wahrheit betrachtest, so darfst du niemals einer Widerwärtigkeit halber so verzagt trauern, sondern mußt dich vielmehr freuen und Dank sagen: ja, du sollst sogar darüber auf das Höchste erfreut sein, daß ich dich nicht mit Leiden verschone. „Gleichwie mich mein Vater liebet, also liebe ich euch auch“, (Joh. 15,9.), sprach ich zu meinen geliebten Jüngern, die ich nicht ausgesendet zu zeitlichen Freuden, sondern zu harten Kämpfen; nicht zu Ehren, sondern zu Schmach; nicht zur Unthäthigkeit, sondern zur Arbeit; nicht zur Ruhe, sondern um viel Frucht in Geduld zu bringen. Dieser Worte sei eingedenk, mein Sohn!


Kapitel 31 - Wie man alle Geschöpfe verlassen muß, um den Schöpfer zu finden.


1. Herr! ich bedarf wohl noch größerer Gnade, wenn ich dahin gelangen soll, wo mir kein Mensch, noch irgend eine Kreatur mehr hinderlich sein kann. Denn so lange mich noch etwas zurückhält, kann ich mich nicht frei zu dir empor schwin-gen. Frei sich aufschwingen können, begehrte jener heilige Sänger, der da rief: „Wer gibt mir Taubenflügel, daß ich auffliege und Ruhe finde?“ (Ps. 54,7.) Was ist ruhiger, als ein einfältiges Auge, und wer freier, als der, welcher nichts begehrt auf Erden? Daher muß man über alle Kreatur hinausgehen und sich selbst vollkommen verläugnen und in diesem Aufschwunge des Geistes fest stehen und erkennen, daß dir, dem Schöpfer aller Dinge, nichts unter den Kreaturen gleich ist. Und wer sich noch nicht von allen Kreaturen losgerissen hat, der kann die Seele nicht frei auf das Göttliche richten. Denn darum werden so wenig Beschau-liche gefunden, weil nur Wenige sich von den vergänglichen Dingen und den Kreaturen völlig loszureißen verstehen.

2. Dazu ist große Gnade erforderlich, welche die Seele erhebt und über sich selbst aufschwingt. Und wenn der Mensch nicht im Geiste erhoben und von allen Kreaturen losgebunden und mit Gott ganz vereinigt ist: so hat Alles, was er auch weiß und was er besitzt, kein großes Gewicht. – Der wird lange klein sein und im Staub liegen bleiben, der etwas Anderes für groß hält, als das Eine, unermeß-liche, ewige Gut. – Denn was nicht Gott ist, das ist nichts und muß für nichts geachtet werden. Es ist ein großer Unterschied zwischen der Weisheit eines erleuchteten und gottseligen Mannes und der Wissenschaft eines studirten und gelehrten Pfarrers. Weit edler ist jene Erkenntniß, die von oben herab aus göttlicher Quelle fließt, als die, welcher der Mensch sich mühsam durch eigene Geisteskraft erwirbt. Es gibt Viele, welche die göttlichen Dinge zu erkennen verlangen, aber das nicht in Anwendung bringen wollen, was dazu erfordert wird. Auch ist das ein großes Hinderniß, daß man an sichtbaren Zeichen und Dingen hängt und auf vollkommene Selbstverläugnung wenig hält. Ich weiß nicht, was das ist und was für ein Geist uns treibt, oder was wir eigentlich wollen, die wir Geistliche genannt werden, daß wir so viele Mühe und größere Sorge auf vergängliche und geringfügige Dinge wenden, und über unser Innerste selten und auch nicht mit voller Geistessammlung nachdenken.

3. Kaum haben wir uns ein wenig gesammelt, so wenden wir uns, leider! sogleich wieder nach außen und unterwerfen unsere Werke keiner strengen Prüfung. Wo unsere Begierden liegen, beachten wir nicht und wie unrein Alles an uns ist, beweinen wir nicht. So hatte vordem alles Fleisch seinen Weg verderbet und deßhalb erfolget die große Sündfluth. Da nun unser innerer Trieb sehr verderbt ist, so muß natürlicher Weise das daraus herfließende Handeln den Mangel der innern Verderbtheit an sich tragen und schlecht sein. Aus einem reinen Herzen geht die Frucht eines guten Lebens hervor.

4. Wie viel Einer gethan habe, fragt man wohl; aber aus welcher Gesinnung er handelt, das wird nicht so sorgfältig erwogen. Ob einer tapfer, reich, schön, geschickt, oder ein guter Schriftsteller, ein guter Sänger, ein guter Arbeiter sei, darnach forscht man; aber wie arm am Geiste er sei, wie geduldig und sanft-müthig, wie fromm und gottselig, darüber schweigen Viele. Die Natur sieht nur auf das Aeußere des Menschen, die Gnade aber richtet ihren Blick auf das Innere. Jene täuscht sich häufig; diese hofft auf Gott, damit sie nicht betrogen werde.


Kapitel 32 - Von der Selbstverleugnung und der Entsagung aller Begierden.


1. Sohn! du kannst die vollkommene Freiheit nimmer besitzen, wofern du dich selbst nicht gänzlich verläugnest. Fesseln tragen alle Eigenliebigen und Selbst-gefälligen, alle Lustgierigen und Neugierigen, die umherschweifen und das, was den Sinnen schmeichelt, aufsuchen, nicht aber das, was Jesu Christi ist; die gewöhnlich nur auf das denken und sinnen, was nicht bestehen wird. – Denn untergehen wird Alles, was nicht aus Gott ist. Halte fest das kurze, aber Alles umfassende Wort: Laß Alles, so findest du Alles! Reiß die Begierde aus, so wirst du Ruhe finden! Dieß erwäge im Herzen und wenn du es erfüllt hast, wirst du Alles verstehen.

2. Herr! das ist nicht das Werk eines Tages und kein Kinderspiel; ja, in diesem kurzen Worte liegt die Vollkommenheit aller Frommen eingeschlossen. Sohn, das soll dich nicht abschrecken, noch gleich verzagt machen, wenn du von dem Wege der Vollkommenheit hörest; das soll dich vielmehr spornen, nach dem Höheren zu trachten oder wenigstens ein herzliches Verlangen darnach zu haben. O möchte es doch so mit dir stehen, und möchtest du dahin gelangt sein, daß du keine Eigenliebe mehr hättest, sondern auf meinen und des Vaters Wink, den ich dir vor Augen gestellt habe, ausschließlich achtest; dann würdest du mir wohlgefallen und dein ganzes Leben würde in Freude und Friede dahin gehen! Noch hast du Vieles zu verlassen, und wenn du auf dieses, mir zu lieb, nicht ganz Verzicht leistest, so wirst du nie erlangen, was du begehrst. Ich rathe dir, damit du reich werdest, von mir im Feuer bewährtes Gold zu kaufen, das ist, himmlische Weisheit, neben der alles Irdische Koth ist. Laß fahren die irdische Weisheit, Menschengunst und Selbstgefälligkeit.

3. Ich sagte, du solltest anstatt dessen, was Menschen hoch und theuer schätzen, das kaufen, was sie gering achten. Denn sehr gering und klein und fast vergessen scheint die wahre himmlische Weisheit, die nicht hoch von sich denkt, noch ihren Ruhm auf Erden sucht; die zwar Viele mit dem Munde rühmen, von der sie aber in ihrem Leben abweichen; gleichwohl ist sie eine köstliche, Vielen verborgene Perle.


Kapitel 33 - Von der Unbeständigkeit des Herzens und der Hauptrichtung auf Gott.


1. Sohn, traue nicht deiner Neigung, die jetzt so ist, aber schnell in eine andere umschlägt. So lange du lebst, bist du der Veränderlichkeit unterworfen, auch wider deinen Willen: so daß du bald fröhlich, bald traurig, bald ruhig, bald unruhig, bald andächtig, bald ohne Andacht, bald eifrig, bald verdrossen, bald ernst, bald leichtfertig gefunden wirst. Ueber diese Veränderlichkeit erhaben stehet aber der Weise und Gottselige, der nicht darauf achtet, was er in sich empfindet oder von welcher Seite her der Wind der Unbeständigkeit wehet; sondern darauf, daß die gesammte Richtung seines Gemüths auf das rechte und beste Ziel gehe. Denn nur so vermag er immer derselbe zu bleiben, wenn das einfältige Auge seiner Absicht unter so mannigfaltigen Veränderungen unverrückt auf mich gerichtet ist.

2. Je reiner nun das Auge der Absicht ist, desto standhafter wandelt man durch so mancherlei Stürme. Aber in Vielen verdunkelt sich das Auge der reinen Ab-sicht, weil es sich schnell auf etwas Ergötzliches heftet, was ihm begegnet. Ach, selten findet sich Einer, der von den Flecken der Selbstsucht ganz frei wäre. So kamen einst die Juden nach Bethanien zu Martha und Maria, nicht ausschließlich um Jesu willen, sondern auch, daß sie den Lazarus sähen. Darum muß man das Auge der Absicht reinigen, daß es einfältig und klar sei und sich über alle die verschiedenen Mitteldinge hinweg auf mich richte.


Kapitel 34 - Der wahren Liebe ist Gott ihr Ein und Alles.


1. Siehe, mein Gott und mein Alles! Was will ich weiter, und was kann ich Seligeres begehren? O liebliches und süßes Wort, aber nur für den, der das Wort liebt, nicht die Welt, noch das, was in der Welt ist. Mein Gott und mein Alles! Dem, der es versteht, ist genug gesagt; und es oft zu wiederholen, ist dem Liebenden Wonne. Denn wenn du da bist, ist Alles Lust; bist du aber ferne, so ist Alles Weh. Du schaffest ein ruhiges Herz, und großen Frieden und festliche Lust. Du machst, daß man gut denke von Allem, und in Allem dich lobe; auch kann nichts ohne dich auf die Dauer gefallen; sondern wenn etwas angenehm und schmackhaft sein soll, so muß deine Gnade dabei sein und die Würze deiner Weisheit darf nicht fehlen.

2. Wer an dir Gefallen findet, wie sollte dem nicht Alles wohlgefallen? Und wer an dir keine Freude hat, wie könnte dem Anderes Freude gewähren? Aber vor deiner Weisheit erliegen die Weisen der Welt und die, so fleischlich gesinnt sind; denn dort findet sich gar viel Eitelkeit und hier der Tod. Die aber durch Verach-tung der Welt und durch Kreuzigung ihres Fleisches dir nachfolgen, diese werden als wahrhafte Weise erkannt, weil sie von der Eitelkeit zur Wahrheit, vom Fleische zum Geiste durchgedrungen sind. Ihre Freude ist Gott, und was sie an den Kreaturen Gottes finden, beziehen sie Alles auf den Ruhm und Preis ihres Schöpfers. Aber wie verschieden, wie unendlich verschieden ist die Freude an dem Schöpfer und an der Kreatur, an der Ewigkeit und an der Zeit, an dem ungeschaffenen und an dem angezündeten Lichte! O ewiges Licht, das alles geschaffene Licht weit übertrifft, wirf einen Lichtstrahl aus der Höhe herab, meines Herzens innerste Tiefe zu durchdringen! Läutere, erfreue, kläre und belebe meinen Geist mit allen seinen Kräften, daß er dir anhänge mit jubelndem Entzücken. O wann kommt jene selige und ersehnte Stunde, da du mit deiner Gegenwart mich sättigen und mir Alles in Allem sein wirst? So lange mir das noch nicht gegeben ist, wird meine Freude auch nicht vollkommen sein. Noch lebt leider! der alte Mensch in mir; noch ist er nicht gekreuzigt, nicht völlig erstorben. Noch gelüstet ihn gewaltig wider den Geist, noch erregt er innern Streit und läßt das Reich der Seele nicht zur Ruhe kommen.

3. Du aber, der du herrschest über des Meeres Gewalt, und besänftigest das Toben seiner Wellen, erhebe dich und stehe mir bei! Zerstreue die Mächte, die Krieg wollen, und schmettere sie in deiner Kraft zu Boden. Zeige, fleh’ ich, deine Größe, und verherrliche deine Rechte; denn es bleibt mir keine andere Hoffnung und keine Zuflucht, als du, Herr, mein Gott!


- Fortsetzung -