Seele

Seele

1.

Wie geht es ihrer Seele? Ist sie wohlauf? Oder macht sie Schmerzen? Die Seele ist ein komisches Ding. Denn es gebraucht zwar jeder dieses Wort. Aber wer genauer beschreiben soll, was, wie und wo seine Seele ist, kommt in Schwierigkeiten. Es beansprucht zwar jeder, eine zu haben. Es kann sie aber keiner sehen oder vorzeigen. Und woraus sie besteht, weiß auch niemand. Der Gehalt des Wortes ist so schwer zu greifen wie ein Stück nasse Seife. Und das bringt auch die Gelehrten in Not. Manche von ihnen sagen, die Seele sei jene geheimnisvolle Kraft, die unseren Leib lebendig macht. Andere meinen aber, es sei der Leib selbst, der die Seele als eine seiner Körperfunktionen hervorbringt. Manche denken, die Seele bestehe aus feinsten Seelenatomen, die sich als „ätherisches Fluidum“ im ganzen Körper verteilen. Und andere behaupten, die Seele habe ihren Sitz in der Zirbeldrüse und wiege 21 Gramm. Da lacht dann der Nächste und sagt, die Seele sei doch überhaupt kein „Ding“, sondern bloß ein Sammelbegriff für unsere vielen Gemütszustände! Dagegen stehen dann aber jene, die in den Einzelseelen Splitter einer einzigen großen Weltseele sehen (oder sogar Splitter des Göttlichen!), die nur vorübergehende in der Materie eines Leibes gefangen sind. Da protestieren alle, die Geist und Leib nicht dualistisch einander entgegensetzen wollen. Sie verstehen unter der Seele nur die innere Erscheinung dessen, was als äußere Erscheinung den Körper bildet. Aristoteles aber sieht in der Seele eine dem Organismus innewohnenden Dynamik, die nach seiner Vollendung strebt und drängt. Für ihn ist die Seele eine immaterielle Substanz, die den vielen Stoffen, aus denen wir bestehen, erst Form, Ziel und Wesen verleiht. Andere meinen allerdings, die Seele sei bloß ein anderes Wort für das Subjekt, das wir uns als Quelle unseres geistigen Lebens zu diesem hinzudenken müssen, damit unsere wechselnden Bewusstseinszustände überhaupt einen Zusammenhang bilden. Einige beschreiben die Seele als ein Kraftzentrum, das sich im Menschen seiner selbst bewusst wird und dann als unser „Selbst“ die Herrschaft über unsere Lebensvollzüge gewinnt. Und natürlich gibt‘s auch Spötter, für die Seelen gar nicht existieren. Du meine Güte denkt man: Warum ist das so kompliziert? Weiß denn keiner bescheid?

2.

Immerhin lässt sich verstehen, weshalb uns die Sache schwer fällt. Denn sowohl unsere eigene wie auch die fremde Seele entzieht sich der direkten Beobachtung. Die eigene Seele ist uns zwar ganz nah, weil wir ja selbst unsere Seele sind. Aber eben das hindert uns, die Seele zum Gegenstand der Beobachtung zu machen. Denn dazu müssten wir hinter unseren eigenen Rücken treten. Als Beobachter müssen wir mit etwas Abstand dem gegenüber stehen, was wir beobachten. Doch im selben Moment ist das Objekt, das wir betrachten, nicht mehr das Subjekt, das wir betrachten wollen. Wir können uns nicht verdoppeln. Und versucht die Seele sich selbst anzuschauen, gelingt ihr das nicht. Denn man kann ja auch eine Kamera nicht auf die Kamera selbst richten, um mit dieser Kamera ein Bild von der Kamera zu machen. Man kann nicht ein Mikroskop nehmen und es zur Betrachtung unter eben dieses Mikroskop legen. Und so hat unsere Seele größte Schwierigkeiten, sich selbst zu erkennen. Die Seele eines anderen Menschen ist uns aber erst recht entzogen. Denn dessen Innenansicht kennt nur er selbst. Als sein Gegenüber kann ich nicht in ihn hineinschauen, sondern kann nur unterstellen, dass er eine Seele hat, die der meinen ähnlich ist. In Kontakt trete ich mit seiner Seele aber immer nur in der Vermittlung durch seinen Körper, der die Seele sozusagen nach außen übersetzt: Ich sehe seine Mimik, beobachte, was er tut, und höre, was sein Mund redet. Ich kann versuchen, diese Außenwirkung richtig zu deuten und mich in den Anderen einzufühlen. Aber eine unmittelbare Begegnung mit seiner Seele habe ich nie. Und so ist sie ein ebenso schwer zu beobachtender Gegenstand wie meine eigene Seele – wenn auch aus anderen Gründen.

3.

All das erklärt, weshalb uns der Begriff der Seele Schwierigkeiten macht. Und man könnte fragen, warum wir dann auf das Wort nicht verzichten. Doch gebraucht man es nicht umsonst seit Jahrtausenden in allen Kulturen. Denn es ist die Urerfahrung des Todes, die uns dazu nötigt. Jeder steht irgendwann zum ersten Mal vor einem Leichnam und fragt sich, was mit dem so vertrauten Menschen bloß geschehen ist. Denn sein Leib ist noch da – und ist derselbe, den wir kennen. Er zeigt sich aber als entleerte Hülle. Und was für uns bisher ein „Du“ war, ist plötzlich nur noch ein kaltes „Es“. Dasjenige, was am Menschen zur Interaktion fähig war, genau das ist nicht mehr da, obwohl es sich sonst zuverlässig mit diesem Leib verkoppelt zeigte. Und das ist eine tief irritierende Erfahrung. Denn bisher war in diesem Leib immer das bewusstes „Innenleben“ eingeschlossen, das Beziehungen pflegte, das Antwort gab und sich meinem eigenen „Innenleben“ als verwandt erwies. Doch nun ist es in seiner Hülle nicht mehr „drin“. In dem vertrauten Körper regte sich stets ein konkreter Wille zum Leben, der sich im Gebrauch des Körpers auch ständig zeigte. Denn da sind noch die Beine, mit denen er gewandert ist. Da sind ja noch die Augen, mit denen er sich ein Bild von der Welt machte. Da sind noch die Hände, die Klatschen und Winken konnten. Alle Werkzeuge sind noch da, aber jener fehlt, der sich der Werkzeuge bediente. Und ihn als Person unterscheiden wir deutlich von der Körpermasse, die er nutzlos zurücklässt. Denn dem Körper hat man schließlich nie etwas gedankt oder vorgeworfen. Mit dem Körper hat man auch nicht gelacht. Sondern es war da immer ein Adressat „in“ dem Körper. Und der war die Instanz, der man Gutes wie Schlechtes zurechnete. Den Körper eines toten Feindes zu bestrafen, ist darum ein hilfloser Versuch – man kommt durch seinen Körper nicht mehr an ihn heran. Und wenn man den Leichnam eines Freundes ehrenvoll bestattet, meint auch das nicht sein Fleisch und Bein, sondern den, der darin hauste. Als der Mensch lebte, hatte man keine Anschauung von seiner Seele. Man sah immer nur Wirkungen. Und doch hegte man keinen Zweifel, dass der äußeren Gestalt jemand innewohnt. Jedes Gespräch bewies es aufs Neue! Der Leichnam hingegen reagiert auf keine Ansprache mehr. Er hat keine Verbindung mehr zu dem „Du“, das ich anrede. Der Adressat ist „offline“ gegangen. Und obwohl seine Zunge noch da ist, fehlt der vertraute Sprecher. Wo ist also die Seele des toten Leibes hin? Dass die Person einfach gar nicht mehr sei, widerspricht aller Intuition. Denn auch sonst, wenn wir zu jemandem den Kontakt verlieren, ziehen wir nicht diesen Schluss. Schon als Säugling haben wir gelernt, dass die Mutter, wenn sie das Zimmer verlässt, nicht aufhört zu existieren. Sie lebt nur mal kurz jenseits meiner Wahrnehmung in einem anderen Raum – und kehrte dann wieder. Es gibt die Mutter also auch, wenn sie gerade kein Teil meiner Erfahrung ist. Und selbst die Schulkameraden, die man beim Klassentreffen wiedersieht, bestätigen, dass sie mit dem Verschwinden aus meinem Horizont nicht aufhörten zu existieren, sondern ihre Zeit bloß woanders verbrachten. Erscheint ihre Gestalt am Horizont, sind auch die Freunde wieder da. Umso paradoxer kommt‘s mir vor, wenn ich am Sarg stehe, und mir die Hülle ohne Inhalt begegnet. Das deswegen aber der Inhalt nicht mehr existierte, hat den Menschen quer durch die Kulturen und die Jahrtausende niemals eingeleuchtet. Denn eine Person ist „mehr“ als die Summe der unnütz gewordenen Teile, die man auf dem Friedhof verscharrt. Was die Person ausgemacht hat, ist im Sarg nicht enthalten.

4.

Wenn sie mir aber erlauben, das in ein Bild zu fassen, will ich die Seele des Menschen genau so von seinem sterblichen Leib unterscheiden, wie ich die Idee eines Buches von dem Papier und der Druckerschwärze unterscheide. Natürlich weiß ich als Leser, dass ich ohne Papier und Druckerschwärze die Idee des Buches nie kennengelernt hätte. Kein einziger der darin enthaltenen Gedanken wäre mir zugänglich geworden! Und so geht in der Ordnung des Erkennens das Druckerzeugnis der Kenntnis des Inhalts eindeutig voran. Ohne den Körper des Freundes, der mir seine Gedanken mitteilt, hätte ich ja auch nie etwas von seiner Seele erfahren! Doch weiß ich zugleich, dass in der Ordnung des Seins die Idee des Buches (im Kopf des Schriftstellers!) der Niederschrift und dem Druck des Buches vorausging. Das sichtbare Erzeugnis des Druckers ist nur die Manifestation einer unsichtbaren geistigen Wirklichkeit, die schon viel früher existierte. Und ohne die Idee zum Buch hätte der Schriftsteller auch nie eine Zeile aufs Papier gebracht. So gelangte seine Idee zwar nicht anders zu mir als in der handgreiflichen Form des Buches. Sie teilte sich mir nicht anders mit als gebannt in Druckerschwärze auf Papier. Und doch war die Idee nie mit dem gebundenen Buch identisch, sondern war die treibende Kraft, der sich das Materielle fügen musste, um dem Gedachten Ausdruck zu verleihen! Vom ersten bis zum letzten Kapitel bestimmt die Grundidee des Buches jeden Satz und jede Seite, gerade so, wie sich das innere Wesen eines Menschen von der Körperhaltung bis zu seinen schrägen Witzen in seiner ganzen Erscheinung manifestiert. Aber jede Erscheinung braucht etwas, was darin erscheint! Und wenn ich beim Lesen des Gedruckten die Idee des Autors aufgenommen und mir seinen zentralen Gedanken angeeignet habe, könnte man mir das Buch auch getrost wegnehmen, ohne dass deswegen die Idee aufhörte zu existieren, die des Buches Seele und Ursprung war. Sie existierte schon vor dem Buch – und kann das folglich auch nach dem Buch und ohne das Buch! Wenn sich nun aber die Seele meines Freundes zu seinem Leib verhielte wie die Buchidee zu dem Buch in meiner Hand? Ich gestehe noch einmal, dass mir die Seele des Freundes nicht ohne seinen Leib begegnet wäre, denn sie verschaffte sich nie anders Ausdruck als in seinem konkreten Reden und Tun. In der Ordnung des Erkennens geht das Körperliche dem Seelischen voraus! Und doch: Wie ein Buch ohne Idee nur leeren Seiten enthielte, und die Verteilung der Tinte beliebig wäre, so muss auch die Seele des Freundes schon da sein, bevor sie sich in seinem Reden und Tun zeigen kann. Tatsächlich bringt das gebundene Buch keine Idee hervor, sondern die Idee bringen das Buch hervor. In der Ordnung des Seins geht das Unsichtbare dem Sichtbaren voraus, denn jede Erscheinung braucht etwas, was darin erscheint! Habe ich den Freund aber kennengelernt, und er verreist, höre ich dann etwa auf ihn zu kennen? Oder – wenn er sterben sollte: Ist dann (nachdem Papier und Druckerschwärze in der Erde liegen) auch die Idee des Buches verloren? Da sind doch wohl Zweifel erlaubt! Denn ob etwas „da“ ist, oder ob es sich „zeigt“, ist zweierlei. Und wenn‘s die Idee des Buches nachweislich schon vor dem Buch gab, weil sie im Kopf des Autors war – warum sollte sie mit der Zerstörung des Buches zerstört werden? Das muss nicht so sein. Wenn der Autor noch lebt, ist es sogar unwahrscheinlich. Und sollte der Autor ewig sein (wie Gott ewig ist), und sollte dieser Autor nie etwas von dem vergessen, was er schuf (wie Gott nie etwas vergisst), dann ist das Erlöschen der Idee völlig ausgeschlossen. Denn wie könnte die Idee zu einer Person (für die Gott das Drehbuch eines ganzen Lebens schrieb!) je aus dem Bewusstsein des Allwissenden verschwinden? Steht sie Gott aber weiterhin vor Augen, sollte er dann nicht auch im Stande sein, sein Werk in einer zweiten, deutlich verbesserten Auflage wieder erscheinen zu lassen? Wir würden das Auferstehung, Himmel und ewiges Leben nennen. Und weil Gott sich bestimmt auch der von ihm verworfenen Ideen ewig als verworfener Ideen erinnert, haben wir auch gleich eine veritable Vorstellung von der Hölle. Dem Leser eines Buches mag scheinen, als verdankte er die darin enthaltene Idee dem Drucker. Mancher denkt ja auch, ein Kind verdanke sich den Eltern, die es zeugten! Doch bringt man da Ursache, Werkzeug und Wirkung durcheinander. Denn nicht die Idee kam durch das Buch in die Welt, sondern das Buch durch die Idee. Papier und Tinte fügten sich der Idee, zu deren Vehikel sie der Autor bestimmte. Und wenn jeder Mensch zuallererst ein Gedanke Gottes ist, verdanken wir ihn nicht seinen Eltern, sondern seinem Schöpfer, und müssen diesen Menschen, wenn sein Leib versagt, auch nicht mit dem Leib verloren geben. Denn was den belebte, war die Seele. Und mit deren vergänglichem Ausdruck muss nicht schwinden, was darin Ausdruck fand. Was sich nicht mehr zeigt, muss durchaus nicht „weg“ sein. Und wenn ich im toten Leib das nicht mehr antreffe, was doch schon im Leben über diesen Leib hinausging, so besagt das sehr wenig.

5.

Wir sind damit einer Definition der Seele kaum näher gekommen. Denn nach wie vor entzieht sie sich einer direkten Betrachtung. Und doch können wir nicht auf den Begriff verzichten. Denn in jedem von uns steckt dieses Etwas, das Leben will und alle übrigen Bestandteile der Person seinem Lebenswillen dienstbar macht. Erst dieses dynamische Etwas integriert unsere Teile zu einem Ganzen, indem es sie mit dem „Ich-Vorzeichen“ versieht und als „mein“ Arm, „mein“ Bein, „meine“ Geschichte und „mein“ Ziel anspricht. Und nur die Seele ist es, die alle schwankenden Regungen des Gemüts zusammenführt mit ihrem Aus-sein-auf-etwas und ihrem Wissen um sich selbst. Nur weil der Mensch Seele ist, kann er adressiert werden als einer, der nicht in seinem Körper, in seinen Funktionen oder in seiner Geschichte aufgeht, sondern all dies nur „hat“. Und sagen wir „Du“ zu ihm, meinen wir nicht Hände, Füße, Gedanken oder Gefühle, sondern eben jenen seelischen Kern, dem all diese Teile dienstbar sind. Dieser innerste Kern outet sich selbst als zurechnungsfähig, so oft er „ich“ und „mir“ und „mein“ sagt. Die Seele des Anderen ist der Mittelpunkt aller ankommenden und ausgehenden Wirkungen. Und wenn ich vor seinem Leichnam stehe, kommt der mir vor wie ein Auto, aus dem der Fahrer ausgestiegen ist, um abzuschließen, wegzugehen und den Zündschlüssel mitzunehmen. Nun ergibt sich daraus noch kein Gesamtbild der menschlichen Natur. Denn man kann ewig darüber nachdenken, wie Seele, Leib und Geist, Gefühl, Verstand und Wille zusammenhängen! Was sich aber unmittelbar aufdrängt, ist, dass der biblische Schöpfungsbericht sehr richtig liegt, wenn er sagt, Gott habe den Menschen aus „Erde vom Acker“ gemacht und ihm dann „den Odem des Lebens“ in die Nase geblasen (1. Mose 2,7). In großer Schlichtheit sind da nur zwei Komponenten genannt! Nämlich die fruchtbare, dunkle Erde, dieser schwere, feuchte und formbare Stoff einerseits. Und der dynamische, von Gott eingehauchte Lebensatem andererseits. Doch ist in dieser Polarität unser Wesen sehr treffend beschrieben. Da ist viel „Erdiges“ am Menschen, das ihn immer wieder herunterzieht, weil das Stoffliche von der Erde genommen ist und im Tod zur Erde zurückkehrt (1. Mose 3,19). Dass der Erdenkloß bis dahin aber lachen, springen und tanzen, lieben, beten und dichten kann – das verdankt er jenem göttlichen Atem, der ihm eingehaucht wurde, um ihn auf einmalige Weise zu beseelen, seinen Geist zu erleuchten und ihm ein hohes Ziel zu geben. Dieses Element nennt die Bibel unsere „Seele“. Sie ist die „Idee zum Buch“, die in unserem Erdenleben ihren ersten, aber nicht ihren letzten Ausdruck findet. Und das sollte uns bewegen, für den Zustand dieser Seele nicht weniger Sorge zu tragen als für den Zustand unseres Körpers. Denn während der zur Erde zurückkehrt, sucht die Seele ihren Ursprung in Gott. Und uns muss daran gelegen sein, dass sie ihn auch findet. 

 

 

 

 

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Jacek Malczewski, Public domain, via Wikimedia Commons