Du sollst dir kein Bildnis machen...

Du sollst dir kein Bildnis machen...

Das erste Gebot (2. Teil)

Werden Sie gern fotografiert und gefilmt? Fühlen Sie sich wohl, wenn ein Fremder seine Kamera auf Sie richtet? Und ist es ihnen egal, was er anschließend mit den Bildern macht? Ich vermute, dass Sie es eher ärgerlich finden, auf diese Weise abgelichtet zu werden. Denn schließlich ist unser Gesicht Teil und Ausdruck der Person. Und dieser Teil von uns ist dann der Willkür des anderen ausgeliefert. Wenn der etwas mit meinem Bild macht, macht er etwas mit mir. Und wenn er mein Gesicht ins Internet stellt oder in der Zeitung druckt, wenn er eine Karikatur daraus macht oder einen Fahndungsfoto, dann ist mir das nicht gleich. Denn ich entscheide gern selbst, wo ich zu sehen bin. Und wenn es schon Bilder gibt, dann sollen es wenigstens solche sein, die mich richtig wiedergeben, und nicht solche, auf denen ich „blöd“ aussehe. Es ist einem schließlich nicht egal, wie man von anderen wahrgenommen wird. Wir wollen die Kontrolle darüber behalten, welches Bild sich die anderen von uns machen. Es soll kein peinliches Zerrbild sein! Und auch wenn es seltsam klingt – Gott geht es genauso. Denn auch ihm ist nicht egal, welches Bild wir von ihm haben. Er hat ein Interesse, dass es kein Zerrbild sei, sondern ein treffendes. Denn welches Bild der Mensch von Gott hat, das entscheidet über seine Beziehung zu ihm. Und ist das Gottesbild falsch und irreführend, so kann die Beziehung kaum richtig sein. Wenn wir Gott nicht erkennen, sondern verkennen, hat das weitreichende Folgen. Und darum kann man in gewissem Sinne sagen, Gott sei „fotoscheu“. Denn im Unterschied zum all den anderen Gottheiten der antiken Welt, von denen es in den Tempeln immer irgendwelche Bildnisse oder Statuen gab, besteht der Gott Israels auf einer bildlosen Verehrung und sagt im ersten Gebot: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!“ (2. Mose 20,4-5). Das betrifft nicht alle Bildwerke, sondern nur jene, die zur kultischen Verehrung geeignet und bestimmt sind. Die zu verbieten, ist aber dringend nötig. Denn der Mensch zeigt immer wieder den problematischen Drang, seinen Gott abzubilden, ihn in eine „Form“ zu bannen und dadurch „dingfest“ zu machen. Als Sinnenwesen hat der Mensch nun mal Schwierigkeiten, an etwas zu glauben, das er weder sehen noch vorstellen kann. Ein sichtbarer Gott dagegen, ein Gott „zum Anfassen“, der mit Schönheit und Glanz imponiert, würde uns erlauben, ihn in Raum und Zeit zu lokalisieren, zu begreifen und zu bestaunen! Zu einem „goldenen Kalb“ kann man viel leichter eine Beziehung aufbauen als zu einem gänzlich Unsichtbaren, der jenseits unseres Horizontes bleibt! Und der Wunsch, Gott ins Sichtbare hineinzuziehen, ist von daher verständlich. Man würde ihn ja gern auch den Kindern und den Zweiflern „zeigen“ können! Und doch ist einzusehen, dass jedes von Menschen gemachte Gottesbild seinen Zweck verfehlen muss. Denn auch den größten Künstlern stehen immer nur die Formen und Farben dieser Erde zur Verfügung. Sie können mit nichts anderem arbeiten als mit dem Bildmaterial dieser Welt. Und wenn sie ein daraus erstelltes Kunstwerk zum Gleichnis des Himmlischen erheben, verführen sie den Betrachter, sich das Göttliche nach dem Muster des Irdischen zu denken. Sie sagen damit mehr Falsches als Richtiges. Was Menschen nicht fassen, können Menschen auch nicht ausdrücken. Und weil Gott das weiß, verbietet er uns schon den Versuch. Die Kirche hat sich allerdings nicht immer dran gehalten. Und sie nahm dabei Schaden. Denn im Mittelalter war der kultische Gebrauch von Bildern üblich. Und natürlich wurden sie bald zum Gegenstand abergläubischer Verehrung. Denn die Gläubigen, die vor solchen Bildern beten, können nicht immer unterscheiden, ob sie der Darstellung huldigen oder dem dargestellten Gott. Verehren sie aber tatsächlich das Bildnis – und nicht den, den es meint –, so wird die Gott zustehende Ehre auf einen toten Gegenstand übertragen. Man handelt dann gegen Gottes Absicht, der das Wort zum Mittel seiner Offenbarung erhob – und nicht das Bild. Und man verkennt, dass Gott als geistiges Wesen auch in geistiger Weise verehrt werden muss. Man erlaubt sich, Gott mit Pinsel und Farbe ins Dingliche zu bannen, und ebnet damit gerade den Unterschied ein, auf den es ankommt. Man zieht das Göttliche auf die Ebene des Fleischlichen herab. Man malt den Schöpfer in den Formen und Farben des Geschöpfes. Man zeigt den Unsichtbaren sichtbar und stiftet damit nichts als Verwirrung. 

Freilich: ist das nicht längst vergangen und überwunden? Für evangelische Christen, die das Bilderverbot seit der Reformation wieder beherzigen, scheint die Sache erledigt. Denn die Kunst, die wir in den Kirchen dulden, verführt niemand mehr zu abergläubischer Verehrung. Und trotzdem meine ich, dass wir das Bilderverbot noch nicht abhaken, sondern es in seiner Absicht tiefer verstehen sollten. Denn wenn wir feststellen, dass Gott nicht abgebildet werden will, haben wir erst die halbe Wahrheit erkannt. Und die andere Hälfte, die dem scheinbar widerspricht, ist, dass Gott trotzdem nicht „verborgen“ bleiben will. Er möchte durchaus in Beziehung treten! Und er weiß, dass es dazu bei uns Menschen einer (wie auch immer gearteten) Vorstellung Gottes bedarf. Dürfen wir sie uns aber nicht „machen“, so muss er sie uns „geben“. Und das heißt: Gott verbietet menschengemachte Bilder Gottes nicht nur, weil sie notwendig falsch sind, sondern auch, weil sie dem authentischen Bild Gottes im Wege stehen, das Gott selbst schenken und zeigen will. Gott möchte keineswegs unbekannt bleiben, sondern hat sich die Darstellung seiner selbst bloß vorbehalten, um sich nach eigenem Ermessen sehen zu lassen. Er will es selbst übernehmen, dem Menschen ein unverfälschtes Bild Gottes vor Augen zu stellen. Und so untersagt er uns zwar, ihn auf diese oder jene Gestalt festzulegen, tut das aber, weil er sich selbst eine für uns greifbare Gestalt gibt in seinem menschgewordenen Sohn. Die sichtbare Gestalt Gottes ist Jesus Christus! Er ist sozusagen das „Selfie“ des Allmächtigen, das autorisierte Porträt des Höchsten (Kol 1,15; Hebr 1,3)! Wer den Gekreuzigten sieht, schaut in Gottes Herz hinein! Und wenn der Blick auf Christus auch nicht alles verrät, wonach unsere Neugier fragt, so doch alles, was wir wissen müssen, um Frieden zu finden. Hier hat sich Gott sehen lassen, um mit uns in Beziehung zu treten. Er hat selbst das Bild hergestellt, dessen Fertigung uns überforderte. Und so geht es im Bilderverbot gar nicht darum, dass Worte an sich schon besser wären als Ölfarben, und weiße Wände an sich schon passender als goldene Figuren. Sondern zuletzt kommt‘s darauf an, wo unsere Vorstellung von Gott ihren Ursprung nimmt – ob wir uns diese Vorstellung Gottes nämlich eigenmächtig „bilden“ oder sie uns von Gott „geben lassen“. Niemand wird annehmen, dass wir ohne eine Vorstellung von Gott zurecht kämen. Denn zu einem völlig Unbekannten könnten wir keine Beziehung haben. Aber ob wir uns diese Vorstellung selbst „zurechtmachen“ oder sie von Gott empfangen, das macht einen gewaltigen Unterschied. Denn Welt-Erkennen und Gott-Erkennen sind ganz verschiedene Dinge und folgen durchaus nicht denselben Regeln.

Wo liegt die Differenz? Beim Erkennen der Welt nimmt der Mensch die aktive Rolle des Forschers ein, der sich durch Beobachten, Prüfen und Analysieren eines Gegenstandes bemächtigt. Und ob‘s dabei um eine chemische Reaktion geht, um die Tiefsee oder die Rückseite des Mondes, spielt keine Rolle. Denn der Mensch behält in jedem Fall die Initiative, indem er begreift und schlussfolgert, aufdeckt und enthüllt. Das zu erkennende Objekt ist dabei so passiv wie eine tote Mücke unter dem Mikroskop. Aber nach diesem Muster des Welt-Erkennens funktioniert eben kein Gott-Erkennen. Auf den Höchsten ist so eine Methode nicht anzuwenden. Denn anders als die tote Mücke lässt Gott sich das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand nehmen. Er will sich dem Menschen durchaus zu erkennen geben, weil anders keine Beziehung möglich würde. Aber er lässt es auf andere Weise geschehen, indem Gott als der zu erkennende „Gegenstand“ selbst aktiv wird, die Initiative ergreift, sich seinem Gegenüber erschließt und dabei im Geist des Menschen eine deutliche Spur hinterlässt, wie ein kräftiger Sonnenstrahl auf einer Fotoplatte oder ein großer Stein auf der Motorhaube. Gott wird dabei nicht „erforscht“, sondern er offenbart sich. Und der Mensch tut sehr wenig dazu, außer, dass er staunt, die Augen aufreißt und durch den empfangenen Eindruck im Innersten verwandelt wird. Unsere Sprache ist da übrigens sehr klug und gibt es richtig wieder, wenn sie in manchen Sätzen nicht den erkennenden Menschen, sondern das Erkannte zum Subjekt macht. Man sagt ja „eine Einsicht drängt sich auf“, „ein Gedanke greift Raum“, „eine Gewissheit macht sich breit“, „eine Idee setzt sich durch“ oder „eine Theorie verschafft sich Geltung“. Auch wenn man sagt „mir geht ein Licht auf“, liegt die Initiative mehr beim Licht als bei dem Menschen, dem es aufgeht! Die Erleuchtung, die da beschrieben wird, ist nicht Tätigkeit, sondern Widerfahrnis. Und genau so ist es im Gott-Erkennen! Denn der lebendige Gott ähnelt nie dem toten Insekt unter unserem Mikroskop, sondern steht uns jederzeit souverän gegenüber. Man „erforscht“ ihn nicht, wie man eine Wüste „erforscht“, indem man in sie eindringt, sondern er schlägt uns in seinen Bann. Und das Bilderverbot verlangt, dass wir dem Genüge tun, indem wir die Deutungshoheit über göttliche Dinge vollständig Gott überlassen und unsererseits weder mit Pinseln noch mit Worten Gottesbilder entwerfen, sondern im Reden von Gott immer nur treu nachbuchstabieren, was Gott von sich selbst sagt. Wir „ergründen“ ihn schließlich nicht. Wir wissen von Gott nur, was er uns wissen lässt! Und so hat Gott sich aus gutem Grund die Darstellung Gottes selbst vorbehalten. Er weiß: wenn wir uns eigenmächtig eine Vorstellung von ihm machen, wird sie falsch sein. Und wenn unsere Vorstellung falsch ist, kann unsere Beziehung zu ihm nicht richtig sein. Darum nimmt Gott die Sache lieber selbst in die Hand. Er lässt sich sehen in Jesus Christus und lässt von sich hören durch das Wort der Hl. Schrift. Darüber hinaus aber noch weitergehend über Gott „Bescheid zu wissen“, sollten wir uns nicht mal wünschen. Denn es ist ja schon unter Menschen ungehörig, jemandem zu entlocken, was er nicht freiwillig kundtut! Schon einen Menschen, den wir respektieren, forschen wir nicht aus, sondern fühlen uns geehrt, wenn er uns von sich aus ins Vertrauen zieht. Wir lassen ihn selbst entscheiden, welchen Einblick er uns gewähren will! Das Bilderverbot aber verlangt nichts weiter, als dass wir Gott mit demselben Respekt begegnen und ihm anheimstellen, inwieweit er sich zeigt. Gotteserkenntnis geschieht nie anders als durch Gott selbst. Und zu dem, was er uns wissen lässt, haben wir dann nicht das Geringste hinzuzufügen und haben auch nicht das Geringste wegzulassen. 

Wenn’s aber darauf hinausläuft, kann man dann sagen, das Bilderverbot würde hinreichend beachtet? Ich fürchte, es wird gerade heute in schlimmer Form verletzt, weil viele sich Gott „zurechtdenken“ wie es ihnen gerade passt, statt ihn zu nehmen, wie er ist. Und gerade Theologen gehen mit schlechtem Beispiel voran, wenn sie das biblische Bild so glätten, dass Gott möglichst „gut ankommt“ und den Geschmack des Publikums trifft. Mancher Pfarrer predigt Gott so, wie er meint, dass Gott sich klugerweise hätte offenbaren sollen. Doch tatsächlich wurde niemand autorisiert, am Evangelium „Verbesserungen“ anzubringen. Nein! Der Vater Jesu Christi hat seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit. Und seine Liebe hat raue Seiten. Seine Wahrheit folgt nicht unserer Logik. Und seine Pädagogik ist manchmal ruppig. Was er uns schenkt, ist oft nicht das, was wir erbeten hatten. Und manchmal bekommen wir Antworten, wo wir gar nicht gefragt haben. Gott ist nicht jedem gnädig, dem wir das gönnen. Und was er „gut findet“, ist nicht unbedingt das, was sich für uns „gut anfühlt“. Gottes Forderungen sind nicht „maßvoll“, was wir „Toleranz“ nennen, schert ihn wenig, und seine Angebote sind auch nicht „niederschwellig“. Das biblische Bild Gottes mutet uns allerhand zu. Und je krummer wir selbst sind, umso „schwieriger“ finden wir ihn! Aber wehe dem, der sich Gott passend machen und sein Wort verfremden wollte! Denn wenn es ihm gefiel, sich so und nicht anders zu offenbaren – wer will dann hingehen, um sein Selbstzeugnis zu schönen? Wer will Gott darüber belehren, dass er sich doch weniger blutig, weniger frei und weniger störend hätte präsentieren sollen als ausgerechnet im Leben eines Gekreuzigten? Wer will dem Heiligen Israels mit dem Rotstift durch seine Schriften fahren? Wer will sein Imageberater sein, um ihn der Neuzeit gefällig anzudienen? Davon lässt man besser die Finger. Denn wir können uns keinen anderen Gott schnitzen, sondern müssen mit dem leben, den es gibt. Wir haben uns kein Gottesbild aus Silber, Gold und Elfenbein zu modellieren – und genauso wenig aus Worten, Phrasen und eigenen Ideen. Sondern genau darum geht’s im Bilderverbot, dass wir Gott für seine Selbstkundgabe danken und sie in Ehrfurcht stehen lassen, nichts dazutun und nicht davon wegnehmen, um auf diese Weise treue „Haushalter über Gottes Geheimnisse“ zu sein (1. Kor 4,1). Überlassen wir‘s Gott, uns Gott zu erklären, denn niemand kennt ihn so, wie er sich kennt (1. Kor 2,11). Dass er uns aber freundlich begegnet und klar genug redet, dass wir ihn kennen können – das sei ihm herzlich gedankt.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Moses Indignant at the Golden Calf

William Blake, Public domain, via Wikimedia Commons