Anmaßung und Egozentrik
Narcissus

Anmaßung und Egozentrik

Ich möchte ihnen von einem sehr alten Buch berichten, das im 14. Jahrhundert geschrieben wurde. Über den Verfasser ist kaum mehr bekannt, als dass er nach dem Ort seines Wirkens „Der Frankfurter“ genannt wurde. Aber im Grunde ist auch gar nicht wichtig, wer das Büchlein verfasst hat. Denn was daran fasziniert, ist nicht der Autor, sondern der große und zugleich einfache Gedankengang, der in drei kurzen Kapiteln dargelegt wird, und den ich hier nachzeichnen will. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Unterscheidung zwischen dem Vollkommenen und dem Unvollkommenen: dem Stückwerk. Denn alles, was existiert, muss sich wohl oder übel der einen oder der anderen Seite zuordnen lassen. Was aber ist das Vollkommene – und was das Stückwerk? „Das Vollkommene“ schreibt der Frankfurter „ist ein Wesen, das in sich und in seinem Sein alles einbegriffen und beschlossen hält, und ohne das und außerhalb dessen kein wahres Sein ist, und in dem alle Dinge ihr Sein haben, denn es ist aller Dinge Wesen und ist in sich selber unwandelbar und unbeweglich und wandelt und bewegt alle andern Dinge.“

Wir würden vielleicht einfach sagen: das Vollkommene – das ist Gott. Was aber nicht Gott ist, das ist die gesamte Schöpfung. Und die kann, weil und insofern sie nicht Gott ist, auch nicht vollkommen sein. Der Frankfurter sagt darum: „...das Stückwerk oder das Unvollkommene ist das, was aus diesem Vollkommenen seinen Ursprung genommen hat oder wird, genauso wie ein Glanz oder ein Schein ausfließt aus der Sonne oder einem Licht und erscheint als Etwas, dies oder das, und heißt Kreatur.“

Keine Kreatur ist vollkommen, jede ist irgendwie beschränkt. Und es ist auch kein Geschöpf wirklich in der Lage, sich von seinem Schöpfer eine Vorstellung zu machen. Denn selbst der Mensch kann nur erkennen und begreifen, was gleich ihm beschränkt und unvollkommen ist. Gott aber in seiner Vollkommenheit geht weit über den menschlichen Horizont. Als Geschöpf kommt der Mensch wie alles andere von Gott her und fließt aus ihm, wie Wasser aus einer Quelle fließt. Denn alle Dinge, die in der Welt sind und in ihrer Summe die Welt ausmachen, verdanken ihr Dasein Gott als dem Grund des Seins. Was immer sie sind und haben, an Wirklichkeit und Lebendigkeit, Kraft und Erkenntnis, haben sie von Gott empfangen. Sie haben es nie anders als von ihm her, und sind darum nie etwas Anderes als ein Abglanz seiner Herrlichkeit und ein Widerschein seiner Macht. Wenn das aber so ist, fragt der Frankfurter in einer überraschenden Wendung des Gedankens – was ist dann Sünde?

Die Antwort fällt überraschend einfach aus. Denn Sünde ist einfach dies, dass ein Geschöpf den eben geschilderten Zusammenhang verkennt. Sünde, sagt der Frankfurter, ist „...nichts anderes, als dass sich die Kreatur abkehrt von dem unwandelbaren Gut und sich zu dem Wandelbaren kehre, das heißt, dass sie sich kehre von dem Vollkommenen zu dem Teilhaften und Unvollkommenen und allermeist zu sich selber. Nun merke: Wenn die Kreatur sich etwas Gutes zumisst wie Sein, Leben, Wissen, Erkennen, Können kurz all das, was man gut nennen muss, so als ob sie das sei oder es ihr eigen sei oder ihr zugehöre oder von ihr sei, so wendet sie sich ab. [Denn] Was tat der Teufel anderes oder was war sein Fall oder seine Abkehr anderes, als dass er sich anmaßte, er sei auch etwas und es sei ihm etwas eigen und gehöre ihm zu. Diese Anmaßung und sein „Ich“ und sein „Mich“ und sein „Mir“ und sein „Mein“, das war seine Abkehr und sein Fall.“

Es ist atemberaubend, wie rasch der Frankfurter den Bogen schlägt von der Schöpfung zur Sünde. Aber es ist auch deshalb faszinierend, weil er dabei den Begriff der Sünde erklärt, ohne im Geringsten zu moralisieren oder mahnend den Zeigefinger zu heben. Denn Sünde ist für ihn in erster Linie ein tragischer Irrtum des Geschöpfes, das sein Verhältnis zu Gott völlig missversteht und darum meint, es könne oder solle von sich selbst oder von der Welt leben. Der Sünder erwartet von dem Stückwerk, zu dem er selbst gehört, was vernünftigerweise nur vom Vollkommenen erwartet werden kann. Und diese Überforderung der Welt und der eigenen Person führt notwendig zur Enttäuschung.

Denn alles wahre Sein und Leben, alle Erkenntnis und Kraft hat das Geschöpf ja nur, weil, insofern und so lange es an Gottes Leben und an Gottes Kraft teilhat. Wir Kreaturen sind bloß Funken die aus seinem Feuer sprühen! Wir sind geschmückt mit fremden Federn, weil wir gar nichts haben, ohne es von Gott zu haben! Eben dies aber zu vergessen und sich anzumaßen, dass man selbst etwas sei und selbst Substanz habe und selbst etwas darstelle auch abgesehen von Gott – eben das wird hier Sünde genannt. Sünde ist viel mehr als nur die Übertretung eines göttlichen Gebotes oder ein moralischer Fehltritt. Denn sie ist in ihrem Kern ein Zustand tiefer Verwirrung, in dem der Mensch seine Lage verkennt, in der er Gott verkennt, falsche Erwartungen hegt – und darum dann auch falsche ethische Konsequenzen zieht. Den Ursprung hat das aber darin, dass der Sünder von Gott viel zu gering denkt und von sich selbst zu groß.

Das ist für den Frankfurter dann auch das Entscheidende in der Geschichte vom Sündenfall. Denn man sagt zwar, Adam sei deshalb in Sünde gefallen, weil er von dem Apfel aß. Der Frankfurter aber meint: „Es war wegen seiner Anmaßung und wegen seines „Ich“, „Mein“, „Mir“, „Mich“ und desgleichen. Hätte er sieben Äpfel gegessen und wäre das Anmaßen nicht gewesen, er wäre nicht gefallen. Aber als das Anmaßen geschah, da war er gefallen und hätte er [auch] nie einen Apfel gebissen.“

Der Mensch schreibt sich selbst zu, was er Gott verdankt, er gibt sich selbst die Ehre, die Gott gebührt, und hält sich selbst zu Gute, was Gott ihm schenkt. Statt Gott zu lieben, verfällt er der Welt und denkt groß von sich selbst, nur um enttäuscht zu werden. Wenn das aber nicht bloß die Anderen betrifft, sondern auch mich, weil ich genauso bin wie Adam – woher kommt dann Rettung und wie kann mein Fall gebessert werden?

Auch hier bleibt der Frankfurter die Antwort nicht schuldig. Er sagt: Auch mein persönlicher Sündenfall „...muss gebessert werden wie der Adams, und von demselben, von dem Adams Fall gebessert wurde, und in der selben Weise. Von wem [aber] und in welcher Weise geschah die Besserung? Der Mensch vermochte es nicht ohne Gott, und Gott wollte es nicht ohne den Menschen. Darum nahm Gott menschliche Natur oder die Menschheit an sich und wurde vermenscht, und der Mensch wurde vergottet. Allda geschah die Besserung. [Und] So muss auch mein Fall gebessert werden. Ich vermag es nicht ohne Gott, und Gott kann oder will es nicht ohne mich. Denn soll es geschehen, so muss Gott auch in mir vermenscht werden also, dass Gott sich annehme alles dessen das in mir ist von innen und außen, dass schlechterdings nichts in mir sei, das Gott widerstrebe oder seine Werke hindere.

Ob Gott alle Menschen an sich nähme die da sind, und er in ihnen vermenscht würde, und sie in ihm vergottet, wenn es nicht in mir geschähe, mein Fall und mein Abkehren würden nimmer gebessert, es geschehe denn auch in mir. Und zu dieser Wiederbringung und Besserung kann oder mag oder darf ich schlechterdings nichts dazu tun, sondern es sei denn ein bloßes, lauteres Erleiden derart, dass Gott allein tue und wirke und ich erleide ihn und seine Werke und seinen Willen. Und darum, dass ich das nicht erleiden will, sondern bloß mein „Mein“ und „Ich“ und „Mir“ und „Mich“, das hindert Gott, dass er nicht allein und ohne Hindernis wirken kann.“

Es wird niemand wundern, dass der Frankfurter zur Überwindung der Sünde auf Christus verweist. Denn das ist ja christliches Allgemeingut. Gott nahm sich des Menschen an, in dem er menschliche Natur annahm und in Christus ein Mensch wurde. Bemerkenswert ist aber, wie nah der Frankfurter der evangelischen Lehre kommt, wenn er sagt, der Sünder könne zu seiner Erlösung keinerlei Beitrag leisten, sondern müsse sich ganz passiv verhalten. Lange vor Luther redet der Frankfurter wie ein guter Lutheraner! Doch von seinem Ansatz her ist das nur konsequent. Denn wenn Sünde darin besteht, dass der Mensch sich zuviel zutraut und sich zuviel zuschreibt, muss der Weg zur Heilung dann nicht in die entgegensetzte Richtung führen – nämlich zu einem Glauben, in dem der Mensch nichts mehr von sich und alles von Gottes Gnade erhofft? Ist Gott der Vollkommene, und wir das Stückwerk, ist es dann nicht logisch, dass die Heilung des gestörten Verhältnisses nur von der Seite des Vollkommenen ausgehen kann? Wenn das Elend damit begann, dass der Mensch sein „Ich“ und „Mir“ und „Mein“ und „Mich“ zu wichtig nahm, wird dann nicht Rettung darin bestehen, das eigene Ego zu relativieren? Ja, es liegt ganz in der Konsequenz des Gedankens. Und auch der Glaube, der die Anmaßung überwindet, ist seinerseits keine Leistung des Menschen und keine geistliche Anstrengung, sondern lediglich die Anerkenntnis der menschlichen Lage, zu der Gottes Geist den Sünder überführt.

Glaube besteht eigentlich nur darin, der Wahrheit ins Auge zu sehen und die restlose Abhängigkeit von Gott nicht weiter zu leugnen. Und doch ist diese simple Einsicht der wichtigste Schritt zu einem gelingenden Leben. Denn die Lebenshaltung der Sünde ist nicht nur (und nicht in erster Linie) unmoralisch, sondern sie ist zuerst und vor allem sinnlos. Wer das Vollkommene und das Stückwerk verwechselt, um dann all seine Erwartungen auf das Stückwerk zu richten, der handelt irrational, gerade als würde er eine Fichte schütteln und erwarten, es müssten Birnen herunterfallen. Der Ausweg aber heißt nicht: „Ich muss das künftig anders machen, ich, ich, ich...“! Sondern die Lösung heißt: „Er hat es geändert, er ist mir gnädig zu Hilfe gekommen, und ich halte meinem Heiland stille...“

 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Narcissus

Leonardo da Vinci, Public domain, via Wikimedia Commons