Sünde
Was soll das sein?
Ein Freund von mir, der auch Pfarrer ist, erzählte mir einmal von seiner ersten Konfirmandenstunde zum Thema Sünde. Weil er wusste, dass das ein schwieriges Thema ist, hatte er sich mit der Vorbereitung viel Mühe gegeben. Er erläuterte den Konfirmanden, was das Wort Sünde in der Bibel bedeutet, und erklärte ihnen, dass der Mensch im Grunde seines Herzens keineswegs gut ist. Seine Erklärungen schienen sehr einleuchtend zu sein. Denn erfreut und überrascht konnte mein Kollege feststellen, dass die Kinder ihm zustimmten. Ja, sie fanden selbst viele Beispiele für die Schlechtigkeit des Menschen: Kriege und schreckliche Verbrechen, Mord und Totschlag, Lüge und Betrug, Habgier und Rücksichtslosigkeit. Jeder Konfirmand wusste ein Beispiel zu nennen, das zeigt, dass der Mensch böse ist und nicht gut. Doch die große Selbstverständlichkeit, mit der das harte Urteil über „den Menschen“ gefällt wurde, machte meinen Freund dann doch stutzig. Er fragte nach und fand am Ende heraus, dass die Konfirmanden wohl „den Menschen“ insgesamt und überhaupt für sündhaft hielten – nicht aber sich selbst. Dass „der Mensch“ als solcher nicht gut ist, hatte ihnen schnell eingeleuchtet. Aber sie bezogen dieses Urteil nicht auf sich. Sich selbst hielten die Konfirmanden für gar nicht so übel. Sie hatten also von der Sünde gesprochen wie von etwas, das nur die anderen betrifft.
Mein Freund hat aus dieser Begebenheit viel gelernt. Und auch ich finde sie bedeutsam. Denn sie ist typisch für unseren Umgang mit dem Thema Sünde. Die meisten Erwachsenen würden zwar nicht leugnen, Sünder zu sein. Sich als Sünder zu bekennen, gehört unter Christen ja gewissermaßen zum guten Ton. Doch fragt sich, ob das Herz auch fühlt, was die Lippen bekennen. Und da vermute ich, dass es den meisten so geht wie jenen Konfirmanden: Im Grunde fühlen wir uns nicht als Sünder. Im Grunde finden wir uns gar nicht so übel. Denn lügen, morden, stehlen wir etwa? Führen wir nicht in der Regel ein anständiges Leben? Beschränkt sich unsere Sündhaftigkeit nicht auf kleinere moralische Pannen? Und sind wir wegen gewissen menschlichen Schwächen etwa schlechter als andere? „Nein“ ruft es in uns – wir sind doch Menschen guten Willens! Und schon sind wir überzeugt von unserer relativen Unschuld, sind beruhigt und gehen zur Tagesordnung über. Doch leider beruht diese Beruhigung auf einem Missverstehen dessen, was Sünde ist.
1. Sünde ist kein Tun
Es ist ein Missverständnis, wenn wir meinen, Sünde sei etwas, was man tut, Sünde bestehe also in unmoralischen Handlungen. Das ist ein Missverständnis, denn Sünde ist in erster Linie kein Tun, sondern ein Zustand. Dieser innere Zustand manifestiert sich in Taten – das ist wohl wahr. Aber die äußeren Taten sind nicht das eigentliche Übel, sondern sind nur Folgen eines tiefer liegenden, inneren Schadens. Verständlich wird das vielleicht, wenn man die Sünde mit einer Krankheit vergleicht. Wenn jemand hustet und die Nase läuft, wenn er Fieber hat, wenn er brechen muss und einen Hautausschlag bekommt, folgern wir daraus, dass er krank ist. Doch wissen wir, dass Husten, erhöhte Temperatur und Übelkeit nicht die eigentliche Krankheit sind. Es sind nur die äußeren Symptome und Auswirkungen der Krankheit, es sind nur äußere Anzeichen dafür, dass innen im Menschen etwas nicht stimmt.
Darum würde auch kein Arzt bloß den Husten und die Übelkeit bekämpfen, ohne etwas gegen die Viren und Bakterien zu tun, von denen alles herrührt. Denn wenn der Arzt dem Patienten sagte „Unterdrücken sie den Hustenreiz, husten sie nicht mehr!“, würde der Patient davon nicht gesund. Wie könnte er auch? Seine Krankheit ist nun mal kein äußeres Tun, das sich unterdrücken ließe, seine Krankheit ist ein innerer Zustand. Ebenso aber verhält es sich mit der Sünde. Denn moralisches Fehlverhalten ist nichts weiter als ein Symptom und ein äußeres Krankheitszeichen. Daran, dass wir immer wieder gegen Gottes Gebote verstoßen, wird äußerlich sichtbar, dass in uns Sünde wohnt – ja. Aber wenn ich einem Kranken sage „Huste nicht mehr!“, so wird er davon nicht gesund. Und wenn ich einem Sünder sage „Du sollst nicht mehr böse handeln!“, so wird er davon kein guter Mensch. Vielleicht kann er ein paar unmoralische Handlungen unterdrücken, wie ein Kranker das Husten unterdrücken kann. Aber sein Problem ist damit nicht gelöst. Denn die Wurzel des Problems sitzt tiefer – sie sitzt innen im Herzen. Darum muss man sagen: Sünde ist nicht zuerst Fehlverhalten. Sünde ist ein seelischer Schaden. Sie sitzt mittendrin im Zentrum unserer Person. Und von diesem Zentrum aus verteilt sie ihr Gift in alle Bereiche unseres Lebens.
2. Sünde ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel unseres Lebens
Hat man verstanden, wie Sünde unser Zentrum prägt, so klärt sich bald auch das zweite Missverständnis bezüglich der Sünde: dass man sie nämlich auf bestimmte Ausschnitte des Lebens beschränkt denkt. Viele sehen das ja so! Weil sie meinen, ihre Sünde bestünde in vielen kleineren und größeren Fehltritten, verstehen sie sie als eine Serie moralischer Pannen in ihrem ansonsten rechtschaffenen Leben. Die Sünde erscheint ihnen als Ausnahme von der Regel, als unschöne Begleiterscheinung eines ansonsten anständigen Daseins – sozusagen als ein Kratzer im Lack des Lebens. In Wahrheit ist Sünde aber ein moralischer Totalschaden. Denn wenn sie als Krankheit im Zentrum der Person sitzt und von dort ausstrahlt, dann ist klar, dass sie nicht bloß Teilaspekte unseres Daseins in Mitleidenschaft zieht. Vielmehr kommt sie von innen heraus und durchtränkt unser gesamtes Leben, wie Wasser einen Schwamm durchtränkt. Da nützt es nichts, zwischen guten und schlechten Taten, zwischen schmutzigen und sauberen Aspekten des Lebens unterscheiden zu wollen. Denn wenn Sünde das Leben durchtränkt wie Wasser den Schwamm – dann ist sie auch wirksam, wo wir meinen recht zu handeln. Ja, sie ist selbst dort präsent, wo wir nach dem Urteil der Welt gute Werke tun. Wie aber das?
Man versteht es, wenn man sich bewusst macht, dass für die Güte unseres Tuns nicht entscheidend ist, was wir mit unserem Tun ausrichten. Entscheidend ist, ob wir es mit reinem Herzen tun. Könnten wir etwas aus reiner und guter Gesinnung heraus tun, nur aus Liebe zu Gott und den Menschen, so wäre es niemals Sünde. Auch dann nicht, wenn es missglückte, auch dann nicht, wenn es sich durch widrige Umstände schädlich auswirkte und gegen unsere Absicht zum Bösen ausschlüge. Für Gott zählte dann nicht der Effekt, für Gott zählte allein der gute Wille. Doch gilt das auch im umgekehrten Fall: Was immer wir aus unreiner Gesinnung heraus tun, das ist niemals gut. Auch dann nicht, wenn es dem Mitmenschen nützt. Denn die Verkehrtheit des Herzens verdirbt jede noch so gute Tat.
Da mag einer seine ganze Habe den Armen schenken und viele vor dem Hungertod retten – wenn es nicht aus Liebe geschieht, wenn es z.B. geschieht, weil er als Wohltäter dastehen will, so ist es kein gutes Werk, sondern Sünde. Denn das Neue Testament sagt: „Was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde.“ (Röm 14,23). So ist für die Bewertung unseres Tuns entscheidend, nicht was wir tun, sondern ob wir es mit reinem Herzen tun. Was aber kann man mit reinem Herzen tun, wenn man kein reines Herz hat? Nichts. Denn ist das Herz falsch und vergiftet, so sind auch alle Gedanken, Worte und Werke, die aus dem Herzen hervorgehen, ausnahmslos falsch und vergiftet.
3. Sünde setzt kein böses Wollen voraus
Das aber ist nun manchem doch zu viel und erscheint ihm übertrieben, weil wir uns selbst anders wahrnehmen. Sollte unser Herz wirklich so falsch sein? Sollte da gar nichts Gutes in uns wohnen? Ist so viel böser Wille in mir? Soll ich mich wirklich für so ein übles Wesen halten, für ein zähnefletschendes Ungeheuer, für einen Knecht des Teufels gar? Den Schuh ziehen wir uns nicht so schnell an. Denn wir fühlen uns gar nicht „böse“ und empfinden das entsprechende Urteil als ungerecht. Doch beruht auch dies wieder auf einem Missverständnis der Sünde. Denn um ein Sünder zu sein, ist es nicht erforderlich, anderen Geschöpfen Böses zu wünschen. Es genügt völlig, für sich selbst alles Gute zu wollen. Um ein Sünder zu sein, muss ich die anderen Menschen nicht hassen. Es genügt völlig, wenn ich mich selbst uneingeschränkt liebe. Damit ist der Teufel schon völlig zufrieden.
Denn natürlich gibt es niemanden, der sich selbst in der Rolle des Bösewichtes sieht. Das gibt es nur im Fernsehen: Da setzen sich die Bösewichte schwarze Hüte auf und ziehen ein grimmiges Gesicht, damit auch der letzte Zuschauer merkt, dass sie böse sind. In Wirklichkeit aber sieht sich niemand selbst in der Rolle des Bösen. Oder glauben sie, dass Stalin oder Hitler sich selbst für böse hielten und absichtsvoll böse sein wollten? Ich glaube das nicht, sondern ich vermute, dass sie sich für missverstandene Helden hielten. Ja, sie waren sicherlich überzeugt, dass sie nur das Beste wollten für die von ihnen regierten Völker. Und hätten sie in sich selbst hineingehorcht wie wir, so hätten sie wahrscheinlich auch gesagt: „Ich finde keinen bösen Willen in mir, ich wollte eigentlich immer nur Gutes.“
Unser subjektives Empfinden von Unschuld beweist also gar nichts und sollte uns auch nicht beruhigen. Lassen wir uns nicht davon täuschen, wenn wir im Keller unserer Seele nichts finden, was nach Schwefel stinkt. Lassen wir uns nicht täuschen vom subjektiven Gefühl der Unschuld. Denn um ein Sünder zu sein, muss man keinen bewussten Bund mit dem Bösen geschlossen haben – es genügt, einfach so zu sein, wie man ist.
4. Sünde ist eine Form von Egozentrik
Aber wie sind wir? Ich könnte mir vorstellen, dass nun manchem diese Frage unter den Nägeln brennt. Was soll man sich nach alledem unter „Sünde“ vorstellen? Ein Tun soll es nicht sein, sondern ein innerer Zustand. Ein Seelenschaden soll es ein, der selbst unsere guten Taten zu schlechten Taten macht. Und doch soll dieser Schaden nicht darin bestehen, dass der Mensch sich bewusst für das Böse entscheidet. Ja bitte, was soll es denn dann sein? Ich will ihnen die Antwort nicht schuldig bleiben:
Meiner Meinung nach hat die Sünde ihre Wurzel, ihren Ursprung und ihren harten Kern in der uns angeborenen Egozentrik. Sie liegt darin, dass jeder von uns sich selbst für den Mittelpunkt des Universums und für das Maß aller Dinge hält. Natürlich weisen wir das von uns, wenn jemand fragt. Aber überlegen sie einmal: Woran orientiert sich unsere Zeitrechnung? Die Zeit zerfällt doch in die Zeit vor mir und nach mir. Was ist Rechts und Links? Natürlich rechts und links von mir. Wo ist oben? Natürlich über mir. Wo ist unten? Natürlich unter mir. Wer ist reich? Natürlich der, der mehr hat als ich. Wer ist arm? Natürlich der, der weniger hat als ich. Gutes Wetter ist das, das ich jetzt haben will. Schlechtes Wetter ist das, das ich gerade nicht brauchen kann. Nett ist, wer mich mag. Unfreundlich ist, wer mich nicht schätzt. Nah ist nah von mir. Fern ist fern von mir. Recht hat, wer meine Meinung teilt, ein Lügner ist, wer mir widerspricht. Was immer geschieht, wird danach beurteilt, ob es mir nützt oder nicht. Der Bezugspunkt all dieser Bewertungen sind immer wir selbst. Und das ist verräterisch. Denn auf diese Weise hält jeder sich selbst für den Mittelpunkt des Weltgeschehens, hält das eigene Interesse für das Maß aller Dinge und seine Perspektive für die Wahrheit. Jeder ist sich da selbst der Nächste. Genau darum aber sind wir unseren Mitmenschen fern – und sind auch Gott fern. Denn Egozentrik ist Trennung von Gott. Und Trennung von Gott – das ist es, was den Kern der Sünde ausmacht. Es ist nicht böser Wille. Es ist nicht diese oder jene Tat. Es ist auch keine Charakterschwäche. Sondern es ist dies, dass wir uns mit unseren Interessen und Bewertungen in den Mittelpunkt stellen. Das führt uns in den Konflikt mit unseren Mitmenschen, die es alle genauso machen. Es führt uns aber auch in den Konflikt mit Gott. Denn wir lassen dabei unser eigenes Ich den Platz einnehmen, der Gott zukommt. Wir machen Gott den Platz streitig, der ihm gebührt. Wir kreisen um uns selbst, obwohl wir von Rechts wegen um ihn kreisen sollten.
Denn in Wahrheit ist er der Mittelpunkt des Weltgeschehens. Er ist das Maß aller Dinge, er ist der Herr über Leben und Tod. Sein Wille entscheidet darüber, ob etwas gut oder böse ist. Er ist das Zentrum, wir sind die Peripherie. Aber statt dass wir uns seinen Willen zu Eigen machen, erwarten wir, dass er unserem Willen folgen müsste. Statt ihn wichtig zu nehmen, nehmen wir uns selbst wichtig. Und aus alledem folgt dann unser Getrenntsein von Gott. Aus der Konkurrenz unserer vielen Egoismen folgt alles Böse dieser Welt. Denn weil wir uns selbst in den Mittelpunkt stellen, ordnen wir unser Interesse dem Interesse des Mitmenschen über. Weil wir so egozentrisch sind, nehmen wir unseren eigenen Willen wichtiger als den Willen Gottes. Und daraus resultiert dann alles andere, womit wir einander das Leben zur Hölle machen...
Bild am Seitenanfang: Die Versuchung des Heiligen Antonius
Jan Mandyn, Public domain, via Wikimedia Commons