Dein Reich komme...

Dein Reich komme...

Im Neuen Testament ist viel vom Reich Gottes die Rede. Und in jedem Vaterunser bitten wir darum. Denn da heißt es gleich am Anfang „dein Reich komme“. Jesus will, dass seine Jünger das erbitten und wünschen. Nur – was stellen wir uns darunter vor? Und was ist überhaupt das Reich Gottes? Man vergleicht es wohl am besten mit dem Reich eines Königs. Denn das ist uns geläufig als der Herrschaftsbereich, den der jeweilige König regiert, in dem die von ihm erlassenen Gesetze gelten und folglich sein Wille geschieht. Zum Königreich gehören nicht die Gebiete, die der König bloß beansprucht und erst noch erobern müsste. Und es gehören auch nicht die abtrünnigen Provinzen dazu, die ihm früher mal gehörten, die jetzt aber ein anderer Fürst kontrolliert. Sondern zum Königreich rechnet man die Landstriche, in denen die Autorität des Königs unbestritten ist, sodass sein Recht tatsächlich in Geltung steht und man seinen Weisungen Folge leistet. Und in diesem Sinne ist auch das Reich Gottes nicht schon überall, wo man Gott Gehorsam schuldet, sondern dort, wo man ihm auch wirklich Gehorsam leistet. Das Reich Gottes ist nicht da, wo ihm Ehre zusteht, sondern wo man ihm die Ehre auch gibt. Es ist nicht dort, wo Gott Ansprüche hat (denn Anspruch hat der Schöpfer auf alles und jeden,) sondern dort, wo man wirklich mit ihm im Einklang ist. Und das kann man von der Gott entfremdeten Welt, in der wir leben, wahrlich nicht behaupten. Denn die gleicht eher einer aufständischen Provinz, in der sich seit dem Sündenfall der Eigenwille des Menschen gegen den guten Willen Gottes sperrt und ihm frech widerstrebt. Die Welt, die wir kennen, hat sich von Gott losgesagt. Sie probt den Aufstand, huldigt eigenen Idolen, verfolgt eigene Ziele. Und die „Kinder dieser Welt“ müssen entsprechend lange motiviert und gedrängt werden, bevor sie sich herbeilassen, Gottes guten Willen zu tun. Er ist den „weltlich“ Gesinnten herzlich fremd! Im Reich Gottes hingegen tut man das Gute schon aus innerem Drang heraus, weil man mit Gott in vollem Konsens steht, liebt, was er liebt, und verabscheut, was er verabscheut. Das Reich Gottes ist demnach die Gemeinschaft mit ihm. Und weil die als innere Übereinstimmung nicht sichtbar sein muss, können wir das Reich Gottes auch nicht räumlich in der Ferne lokalisieren oder es zeitlich in der Zukunft verorten, sondern finden das Reich Gottes überall dort, wo ein Geschöpf mit Gott versöhnt und im Einklang ist. Gottes Reich beginnt also ganz verborgen in dem Glauben an Christus, der uns mit Gott versöhnt. Es wächst und gewinnt Gestalt, wo man im Namen Christi zusammenkommt. Es vollendet sich aber einst ganz unübersehbar bei der Wiederkunft Christi am jüngsten Tag. Und so erklärt sich, dass das Reich Gottes im Neuen Testament als dynamische Größe beschrieben wird, die einerseits schon „da“ ist – und andererseits auch noch „im Kommen“. Die herzliche Übereinstimmung mit Gott, die Gottes Reich ausmacht, wird im Glauben schon heute gelebt und erfahren. Denn soweit einer glaubt, ist er mit Gott im Einklang. Soweit aber im Gläubigen auch noch Sünde ist und um ihn herum der allgemeine Missklang von Eigensinn und Anmaßung, Gier und Gottlosigkeit – soweit bleibt das Reich Gottes ein Sehnsuchtsziel und ist noch „auf dem Weg“. Das erlösende Werk ist noch nicht vollendet. Aber als Christen wissen wir, was da in und mit Christus begonnen hat. Wir haben längst davon gekostet und haben im Glauben auch schon Anteil daran. Und eben darum, weil wir das irdische Treiben mit dem Reich Gottes vergleichen können, will es uns nicht mehr schmecken, sondern wir wünschen, dass dies Schlechte schleunigst dem Besseren weichen möge, das Gott versprochen hat. Wir bitten Gott, dass diese Welt möglichst bald vergehe – und stattdessen sein Reich komme. Denn wer einmal guten Wein gekostet hat, will danach kein schlechtes Wasser mehr trinken. Wer die warme Sonne gespürt hat, mag nicht mehr im Schatten frieren. Und wer einmal die Freiheit schmeckte, den zieht‘s auch nicht ins Gefängnis zurück. Darum dichtete ein frommer Mann: „Ward ein Mensch in seinem Willen, einmal nur von Gott berührt, nimmer kann ihn etwas stillen, als der Gott, den er gespürt“ (Johannes vom Kreuz). Und ein anderer sagt noch drastischer, „der Seele, die Gott geschmeckt hat, werde alles, was Gott nicht ist, zu einem stinkenden, widerlichen Pestgeschmack“ (Meister Eckhart). Nun versteht es sich, dass reine Diesseits-Menschen diese Haltung nicht nachvollziehen können und sie als „Weltflucht“ schmähen. Da sie vom Reich Gottes nicht berührt wurden, fehlt ihnen der Vergleich. Da sie nichts Besseres kennen, halten sie sich an dieser Welt fest und versuchen verzweifelt, sie in ein Paradies zu verwandeln. Die Erde soll ihnen den Himmel ersetzen, an den sie nicht glauben. Doch das kann die gefallenen Schöpfung nicht leisten. Wahre Seligkeit vermag sie nicht zu schenken. Sie soll’s auch gar nicht! Und wer das einmal verstanden hat, greift ganz von selbst über die Welt hinaus und trachtet nach dem Reich Gottes, das für ihn fortan Priorität hat (Mt 6,31-33). Denn schließlich kann man das Kommende nicht wirklich erbitten und herbeiwünschen, wenn man das Vorhandene nicht von Herzen leid ist. Es wird kein Seefahrer neues Land erreichen, wenn er nicht wagt, vom heimatlichen Ufer abzustoßen! Darum gehört zum christlichen Glauben seit jeher ein tief empfundener Überdruss an dieser weithin unerlösten Welt und den in ihr herrschenden Zuständen. Wir leben nämlich wirklich in einer rebellischen Provinz, die ihrem wahren König nicht die gebührende Ehre gibt, die sein Recht mit Füßen tritt und sich vor einem anderen Fürsten beugt, der’s nicht verdient! Dem kann ein Christ unmöglich sein Einverständnis geben, sondern er wird dieser Welt, die gottlos und verdammlich lebend alle gute Hoffnung trügt, eine Absage erteilen. Und eine Rede, die das schön illustriert, will ich hier wiedergeben. Sie findet sich im „Simplizissimus“ (5. Buch, 24. Kap.), wo‘s einer auf den Punkt bringt und sagt: 

Adieu Welt, denn selbst das Allerbeständigste in dir zerfällt, auch das Allerstärkste in dir zerbricht, und das Allerewigste nimmt ein Ende. Adieu Welt, denn du nimmst unser Herz gefangen und lässt es dann nie wieder frei. Bei dir ist keine Freude ohne Kummer, kein Frieden ohne Zwietracht, keine Liebe ohne Argwohn, keine Ruhe ohne Störung, keine Ehre ohne Makel, kein Zustand ohne Klage und keine Freundschaft ohne Falschheit. Adieu Welt, denn in dir geht’s immer verkehrt zu und alles auf krummen Wegen: Man schmeichelt, um zu töten, man erhöht, um zu stürzen, man hilft, um zu schaden, man ehrt, um zu schänden, man leiht, um nicht wiederzugeben, und straft ohne Grund. Darum bleib mir vom Hals, du falsche Welt! Immer werden die Guten verachtet und die Unwürdigen geehrt, die Verräter werden begnadigt und die Unschuldigen verurteilt, die Aufrichtigen schickt man in die Wüste und die Heuchler werden befördert, den Lügnern glaubt man und die Redlichen verlacht man. Adieu Welt, denn du führst alle an der Nase herum. Den Ehrgeizigen verheißt du Ruhm und den Unruhigen Veränderung, die Faulen lockst du mit Bequemlichkeit und die Gierigen mit großen Schätzen, den Triebhaften versprichst du Wollust und den Feindseligen Rache. Doch am Ende kommt keiner wirklich auf seine Kosten. Denn wer dir traut, Welt, der wird betrogen, wer dir folgt, wird verführt, und wer dich liebt, wird übel enttäuscht. Da hilft kein Opfer, das man dir bringt, kein Dienst, den man dir erweist, und keine Treue, die man dir hält! Am Ende wird doch jeder Mensch aufgerieben und beschmutzt, verschlissen und verbraucht, begraben und vergessen. Darum: Adieu Welt, denn bei dir lernt man nichts, als einander möglichst geschickt zu hassen, zu benutzen und zu täuschen. Und kaum hat man auf Kosten der Anderen ein paar Güter erhascht, ist man über all dem Jagen und Rennen auch schon alt geworden. Da wird der Geist dann schwach, der Atem stinkt und der Rücken krümmt sich, die Augen werden trübe, die Nase trieft und die Glieder zittern. Keiner wird schlau aus dir, du arge Welt, und niemand will in dir gut sein. Täglich verhaftet man Mörder, verurteilt Verräter und ertappt Betrüger – und dennoch werden es nicht weniger, weil die Bosheit nachwächst wie Unkraut. Ein Irrenhaus bist du, Welt, und niemand ist wirklich zufrieden mit dir. Ist einer arm, so will er was haben, ist er reich, so will er was gelten, und ist er beleidigt, so will er sich rächen. Erlangt der Mensch aber, was er haben will, weiß er doch nie, wie lang es ihm bleibt. Denn du trügerische Welt hast gar keine haltbaren Güter zu bieten. Das Holz wird von den Würmern gefressen, und das Metall vom Rost, das Korn von den Mäusen, und die Kleider von den Motten, die Schönheit vom Alter, und der Ruhm vom Vergessen. Was ist also dran an dir, du leidige Welt? Und womit lohnst du unsere Mühe? Ach, bloß mit dem Tod belohnst du das Leben. Und vorher hältst du uns zum Narren. Darum Adieu, du falsche Welt! Wohl dem, der deinen Betrug erkennt und deinem süßen Gift nicht verfällt. Wehe aber denen, die dir dienen – und darüber sich selbst und Gott vergessen. Weil du ihnen so viel Glück versprichst, und ihnen so viel Unglück bringst, will ich lieber heute als morgen von dir geschieden sein! 

Nun, wer meint, solcher Überdruss an der Welt sei nicht biblisch, der lese den Prediger Salomo. Und wer meint, diese Haltung sei nicht christlich, frage sich nur einmal, warum Jesus von seinen Jüngern verlangt, um des Reiches willen alles zu verlassen (Mt 19,27ff.). Warum redet er von notwendiger Selbstverleugnung (Lk 9,23), in der einer seine Familie und sogar sich selbst hasst (Lk 14,26)? Warum warnt Jesus vor den Sorgen der Welt und ihrem betrügerischen Reichtum, der den Samen des Wortes erstickt (Mt 13,22)? Warum sagt er, es sei nutzlos, wenn einer die ganze Welt gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele (Mt 16,26)? Und warum unterscheidet er die Kinder dieser Welt von den Kindern des Lichts (Lk 16,8)? Jesus weiß, dass diese Welt ihn hasst, weil er bezeugt, dass ihre Werke böse sind (Joh 7,7). Und er setzt voraus, dass seine Jünger, so wie er, nicht „von der Welt“ sind (Joh 15,19; Joh 17,16). Jesus identifiziert den Satan als den „Fürsten dieser Welt“ (Joh 16,11; Joh 14,30). Und er betont, dass sein eigenes Reich nicht „von dieser Welt“ ist (Joh 18,36). Er warnt: „Wer sein Leben lieb hat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben“ (Joh 12,25). Und dementsprechend ist christlicher Glaube nicht zu verwechseln mit einer Liebe zur Welt, sondern ist – ganz im Gegenteil – „der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1. Joh 5,4). Diese Welt liegt nämlich „im Argen“ (1. Joh 5,19), und es ist besser, sich von ihr unbefleckt zu erhalten (Jak 1,27). Paulus mahnt, ein Christ solle sich der Welt nicht gleichstellen (Röm 12,2), sondern der Sünde absterben (Röm 6,2). Er soll die Welt nur gebrauchen, als brauchte er sie nicht, „denn das Wesen dieser Welt vergeht“ (1. Kor 7,31). Der Apostel bekennt, dass ihm die Welt gekreuzigt ist, und er der Welt (Gal 6,14). Und einen Verlust sieht er darin keineswegs. Denn das wahre Bürgerrecht eines Christen ist im Himmel (Phil 3,20). Und wenn Paulus sagt, jemand habe „diese Welt lieb gewonnen“, ist das ganz sicher kein Lob (2. Tim 4,10), denn das Neue Testament setzt voraus, dass alle Christen mit Christus den Mächten der Welt gestorben sind (Kol 2,20) und eine dem entsprechende Distanz wahren. Jakobus warnt: „Ihr Abtrünnigen, wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein“ (Jak 4,4). Und der 1. Johannesbrief mahnt ebenso deutlich: „Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit“ (1. Joh 2,15-17). 

Wir kehren damit zum Vaterunser zurück und zu der Bitte „dein Reich komme“. Denn nun dürfte deutlich sein, dass sich die christliche Abkehr von der Welt nicht einem trüben Pessimismus verdankt, der die Schönheit der Schöpfung nicht zu schätzen weiß, sondern dass sie direkt aus dem Evangelium erwächst: Jesus Christus selbst lehrt seine Jünger, sich von der Welt zu distanzieren, die vergeht, und sich dem Reich Gottes zuzuwenden, dass mit Christus kommt. Und soweit es für die neue Gemeinschaft mit Gott notwendig ist, will Christus, dass seine Jünger ihre alte Gemeinschaft mit der Welt aufkündigen. Denn in der Welt von der Welt und für die Welt zu leben – das ist Verstrickung. Doch in der Welt von Gott und für Gott zu leben – das ist Freiheit. Diese Freiheit gewinnt nur, wer jener Verstrickung entkommt. Das Neue ergreift nur, wer das Alte loslässt! Und der Welt absterben heißt darum, von sich selbst und von der Welt nur noch wenig zu erwarten, von Gott aber umso mehr. Alles irdisches Streben ist „eitel“ und ein vergebliches „Haschen nach Wind“ (Pred 2,11), denn der Glanz, der sich dabei gewinnen lässt, hält nicht, was der Mensch sich davon verspricht. Tausendmal besser sind aber die unvergänglichen Schätze (Mt 6,20) im Reich Gottes, das an die Stelle diese kranke Welt treten wird. Wer wollte also dem Gebet Christi nicht beipflichten und rufen: Ja, Herr, „dein Reich komme“? 

Diese Welt ist durch des Menschen Schuld in tiefe Unordnung gefallen. Nur Gottes Geduld bewahrt sie noch vor dem endgültigen Absturz. Wer das aber erkennt, der hat in dieser Welt keine bleibende Stadt mehr (Hebr 13,14), sondern sitzt auf gepackten Koffern. Christen sind unterwegs zu dem Besseren, das Gott zu geben verspricht – und wovon er sie jetzt schon kosten lässt. Darum ist christlicher Glaube ein heiliges Heimweh, das über all die kläglichen Gegebenheiten hinausgreift. Wir schießen unser Herz wie einen Pfeil in Gottes Zukunft hinein. Und weil wir von Verheißungen leben, sind wir schon nicht mehr Kinder der vorhandenen, sondern Kinder der kommenden Welt. Wer deshalb aber meint, Christen wären auf einer ungewissen Suche, der vergisst dass sie schon gefunden wurden. Denn wie oben gesagt, ist das Reich Gottes schon hier und heute überall im Schwange, wo man mit Gott versöhnt und einig ist. Oder anders gesagt: Das Reich Gottes ist schon in dem Moment, wo wir es erbitten, bei uns angekommen. Die Bitte des Vaterunsers erfüllt sich augenblicklich selbst. Denn wer ehrlichen Herzens das Reich Gottes wünscht (von dem Christus will, das wir es wünschen!), der ist eben dadurch schon ein Teil des Reiches. Er steht im Konsens mit dem König, den er ehrt. Er wird erfasst von dem, worum er bittet. Und im selben Augenblick ist des Menschen Herz und Gemüt auch keine „abtrünnige Provinz“ mehr, sondern er gehört schon zum Herrschaftsgebiet des legitimen Königs. Der Wunsch, in Gottes Reich einbezogen zu sein, geht in Erfüllung, sobald ich ihn ernst meine und äußere. Denn Gott tut nichts lieber, als verlorenen Söhnen, die heimkehren wollen, seine Tür zu öffnen. Und beugt einer dabei seine Knie, so darf er gewiss sein, dass der Rest der Welt das auch bald tut. Denn Gottes Reich kommt nicht bloß auf Wunsch zu den Wünschenden, sondern es kommt eines Tages auch ungebeten zu den Übrigen! Am Ende des Tages kommt es über die Willigen wie über die Unwilligen! Es kommt zu denen, die sich drauf freuen, und zu den anderen auch! Dass es aber bei mir selbst nicht auf einen Widerstand stoße, der erst noch gebrochen werden muss, sondern auf einen offenen Geist, der es freudig erwartet – dazu hilft diese Bitte, die wir mit jedem Vaterunser wiederholen.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Edge of Doom

Samuel Colman, Public domain, via Wikimedia Commons