Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus. Vortrag auf der Wupperthaler Pastoralkonferenz

gehalten von D. Martin Kähler, Professor der Theologie.

Leipzig. A. Deichert’sche Verlagsbuchh. Nachf. (G. Böhme) 1892.  

 

Teure Herren und Brüder! Sie haben mir vor Jahren hier Ihr Ohr geliehen, als ich von dem Bekenntnis zum Geiste Christi sprach (Anm. 1); es wird Sie nicht befremden, wenn derselbe Mann heute zu Ihnen reden will von dem Bekenntnis zu dem lebendigen Christus. Denn das ist in der That mein Thema, gefaßt in einen, wie mich deucht, zeitgemäßen Gegensatz. Auch durch unsre Tage geht die alte, immer neue Frage, geknüpft an Golgatha und Scheblimini: wie dünket euch um Christo? Eine kühle Ablehnung findet sie selten, wohl aber sehr verschiedene Antworten, auch zumeist mit ehrlich warmem Herzenstone. Indes bei dieser Frage kommt es bekanntlich nicht darauf an, was aus unserm Herzen kommt, vielmehr auf das was Fleisch und Blut nicht offenbaren kann (Matth. 16,17), was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (1. Kor. 2,9). Und eine Antwort, deren Wärme nicht ihrer Klarheit entspricht, vielmehr eine Unklarheit verhüllt, ist unter Umständen gefährlicher als eine entschlossene Abweisung namentlich für solche, welche der Antwortende durch den innigen Ton seines Bekenntnisses bezaubert. Mein Thema ist ein Paradoxon, denn es stellt zwei Aussagen einander entgegen, von denen es scheinen könnte, als ob sie genau dasselbe besagten. Es soll eben in möglichster Schärfe einer überaus bestrickenden Verwechselung zweier grundverschiedener Dinge entgegentreten. Je schwerer es mir selbst geworden ist, hier zur (S. 4) Klarheit durchzudringen, um so lebhafter ist mein Anliegen, meine vermeintliche Einsicht andern zur Prüfung, zur Zustimmung oder zur Warnung mitzuteilen. Und ich danke Ihnen für Anlaß und Gelegenheit dazu. Meinen Mahnruf kann und will ich recht auffallend in das Urteil zusammenfassen: Der historische Jesus der modernen Schriftsteller verdeckt uns den lebendigen Christus. Der Jesus der „Leben Jesu“ ist nur eine moderne Abart von Erzeugnissen menschlicher erfindender Kunst, nicht besser als der verrufene dogmatische Christus der byzantinischen Christologie; sie stehen beide gleich weit von dem wirklichen Christus. Der Historizismus ist an diesem Punkte ebenso willkürlich, ebenso menschlich-hoffärtig, ebenso vorwitzig und so „glaubenslos-gnostisch“ wie der seiner Zeit auch moderne Dogmatismus. Das gilt von beiden als „Ismen“, und gilt so wenig heute wie damals mit Notwendigkeit von den Trägern dieser irregehenden Anschauungen.

 

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