Martin Kähler (1835-1912):

 Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus.


(4. Das biblische Bild ist der von ihm selbst erzeugte Abdruck des geschicht-lichen Christus, wie er durch das Wirken des heiligen Geistes sich vermittelte.)

 

So machen wir es uns zugleich hintendrein klar, daß wir nicht um irgend einer Autorität willen an ihn glauben, sondern daß er selbst uns den Glauben abgewinnt. Denn das liegt bereits in dem Gesagten: er selbst ist der Urheber dieses Bildes. Sehen wir uns seine Umgebung an, von der es überliefert worden sein muß! War sie für ihn empfänglich, war sie seinem Verständnis, seiner Auffassung gewachsen? Die Jünger selbst haben kein Hehl vom Gegenteil; ja sie haben uns seine scharfen Urteile über ihre Unreife treulich bewahrt (Anm. 35). Ihre Flucht und Verleugnung dürfte (S. 39) ihre Geständnisse in dem Betracht bestätigen. Und was die andern betrifft, so haben Juden wie Heiden, Führer wie Volk ihr Unverständnis für diese Gestalt in der Lapidarschrift geschichtlicher Thatsachen verewigt, indem sie ihn haßten, verachteten und dem Tode überlieferten. Man dürfte wohl erwarten, daß auch sein „Bild, durch der Parteien Gunst und Haß verwirrt, in der Geschichte schwanke“. Wenn nun doch, bei kenntlichem Unterschiede der Darstellung, die ersten Augenzeugen ein zusammenstimmendes Bild weiter gaben, das über alles Menschliche bei größester Schlichtheit der Erscheinung an innerer Erhabenheit weit hinausliegt, so muß es sich ihrem Herzen und Gedächtnis mit einer unvergleichlichen unverwischbaren und inhaltreichen Bestimmtheit eingeprägt haben. Wir hören es ja aus ihrem Munde, auch haben sie es hinterher nach Kräften mit der That bewiesen, daß er ihre Gedanken und ihr Gemüt ganz erfüllt hatte. Und wie es aufgefaßt wurde, so ist dieses Bild erhalten worden trotz einer uns fast unfaßlich bedünkenden Sorglosigkeit in der Bewahrung. Man spricht gern von zuverlässigen Heilandsworten; aber es ist doch Thatsache, daß man den Wortlaut nur dann unbestritten hat, wenn es eben nur eine Bezeugung für den Ausspruch gibt. Das nimmt den überlieferten Reden ihrem Sinne nach ihr Ansehen nicht; wie weit aber liegt es doch von einer ängstlichen Sorge um genaue Bewahrung ab. Ähnlich steht es mit den Hauptzügen seines öffentlichen Lebens nach der Darstellung der drei ersten Evangelisten; indes diese Darstellung selbst in ihrer einseitigen Berücksichtigung der galliläischen Vorgänge bleibt ein Rätsel, wie gerne man über diesen dunkeln Punkt hinweggeht um die Verläßlichkeit dieser Quellen nicht zu schädigen (Anm. 36). Man kann auf die Erinnerungen im vierten Evangelium nicht verzichten; doch (S. 40) kann man sich auch nicht verhehlen, daß der Verfasser mit seinen Stoffen sehr selbständig schaltet, um seine eine große Erinnerung für seine Leser eindrücklich und verständlich zu machen, nämlich den Eindruck von der Fülle des Eingebornen vom Vater voller Gnade und Treue, aus der er selbst wie andre Gnade um Gnade genommen hat. Überall keine peinliche Mühe und Genauigkeit der Feststellung und Bewahrung; überall ein Schalten und Walten mit diensamen Mitteln, um den Zweck des Heroldsdienstes durchzuführen. So ist es in den Kreisen gewesen, wo die ersten Augenzeugen standen und wirkten. Unter allen Dienern des Nazareners der wirksamste ist aber jener gewesen, der kein Augenzeuge von Anfang und doch ein Zeuge des Auferstandenen ist. Getrost betont er, sein Evangelium nicht von Menschen zu haben, während er doch unbefangen genug sich der überlieferten Stoffe aus Jesu Lehre und Leben bedient (Anm. 37); das wird man leichter verstehen, wenn man sich gegenwärtig hält, wie sorglos überhaupt mit dem Äußeren umgegangen wurde, und wie sicher man doch in den Hauptstücken war, in den Stücken „von dogmatischer Bedeutung“. Aus diesen bruchstückartigen Überlieferungen, aus diesen unverstandenen Erinnerungen, aus diesen nach der Eigenart des Verfassers gefärbten Schilderungen, aus diesen Herzensbekenntnissen und aus diesen Predigten über seinen Heilswert sieht uns nun doch ein lebensvolles, in sich zusammenstimmendes, immer wieder zu erkennendes Menschenbild an. Da darf man wohl zu dem Schlusse kommen: hier hat der Mann in seiner unvergleichlichen und machtvollen Persönlichkeit mit seinem Handeln und Erleben ohnegleichen bis in die Erweisungen des Auferstandenen hinein sein Bild in den Sinn und in die Erinnerung der Seinigen mit so scharfen, so tief sich eingrabenden Zügen hineingezeichnet, daß es nicht verlöscht, aber auch nicht verzeichnet werden konnte. Und stutzen wir über dieses Rätsel, so hat er selbst es im voraus gelöst, wenn er sprach: wenn der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird mich (S. 41) verklären; denn von dem Meinen wird er es nehmen und euch geben (Joh.16,13.14). Den Hergang im einzelnen kennt keiner von uns. Die sichtende Forschung erreicht nirgend mit Gewißheit jene Niederschriften erster Zeugen, von denen Kunde erhalten ist, und noch ist man nicht entfernt so weit, mit erklecklicher Übereinstimmung das Verhältnis unsrer drei ersten Evangelien zu einander zu erklären. Vollends rätselhaft bleibt die Verzweigung der Überlieferung in den Grundriß des synoptischen Berichtes und in den des vierten Erzählers. (Anm. 38). Je dunkler die Hergänge bleiben, welche der schriftstellerischen Thätigkeit vorangegangen sein müssen, um so sicherer spürt man über der Sorglosigkeit der alten Gemeinde die fürsorgende unsichtbare Hand. Diese Bemerkung zielt nicht auf das sonst angenommene Diktat des heiligen Geistes; das würde freilich alle Untersuchung unserseits, aber auch alle Erinnerung und allen Zusammenhang der Berichterstatter mit den Zeugenkreisen überflüssig machen. Aber das würde uns nicht genug leisten, weil es zu viel leistete; denn dieser Apparat unmittelbarster Mitteilung göttlicher Wahrheit machte in der That den offenbaren Gott entbehrlich. Die Offenbarung hätte sich in ihm selbst verdunkelbar und erst an seine schriftlichen Zeugen mit Ausschluß jeder möglichen Trübung vollzogen. Wir berührten uns zwar mit einer Wunderwirkung Gottes, aber dem Fleischgewordenen selbst, seinem Leben, seinem Hauch begegneten wir in jener Zeichnung nicht – Dagegen liegt uns das Verständnis für das verheißende Wort Jesu nicht so fern. Bringt die Mitteilung des Geistes den Sinn Christi in die Herzen mit (S. 42) seinem Urteil (1. Kor. 2,15.16), so wird auch das Verständnis für das verschlossen, was in Jesu Sein und Thun „des Geistes“ ist; das Verständnis aber macht das Gedächtnis fest und belebt die erblassenden Züge der Erinnerung zu voller Frische, soweit sie das Wesentliche ausdrücken. Auf diese Weise ist alles von dem Gut des lebendigen geschichtlichen Christus „genommen“ (Joh.16,14). So bleibt es dabei: wer in das Urteil über das uns entgegenkommende Bild Christi einstimmt, der wird auch das Wunder anerkennen, daß er es vermocht hat, in dem schlichten Hergange sich selbst überlassener fehlbarer Überlieferung seine Gestalt bestimmt und lebendig zum Einschlage der weiteren Entwickelung der Menschheit zu machen. Und ist es ein Mangel, wenn uns die Herkunft dieses Bildes dunkel bleibt? Niemand hat die Brote bereiten oder wachsen sehen, welche unter Jesu Dankgebet die Tausende sättigten; sie waren da und sie waren rechtes echtes Brot. So ist es mit allen Wunderwerken unsers Gottes: was wir sehen und haben, gehört in diese Welt; die Herkunft kennen wir nicht; aber was wir spüren, dem spüren wir es an, daß es von jenseits ist.

 

- FORTSETZUNG -