Martin Kähler (1835-1912):

 Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus.


(3. Der Glaube an den Christus der Bibel ist nicht Autoritätsglaube; während er sich irgendwie durch die Bibel vermittelt, wird er zum entscheidenden Grunde für das Vertrauen zu ihr.)

 

Also, es bleibt dabei: man muß den Aposteln, den neutestamentlichen Schriften ihre Behauptungen glauben, und weiter kommt (S. 23) die Theologie nicht. Und das soll man immer weiter so machen? immer weiter Autoritätsglauben der Bibel gegenüber fordern (S. 24) und leisten trotz der Kritik über die Herkunft dieser Schriften und die Unsicherheit ihrer Angaben? (S. 25) Vorerst ein Wort – für mich ein Wort von durchschlagender Bedeutung. Das Bild Jesu, der Abdruck seiner geschichtlichen Erscheinung soll doch für uns irgend etwas bedeuten, was hinausliegt über dankbaren Anteil an einem dahingegangenen, zumeist mißverstandenen Wohlthäter der Menschheit; es darf und soll doch noch von Glauben an Jesum Christum selbst die Rede sein. Nun, dann darf der Glaube freilich nicht davon abhängen, was sich ein philosophisch geschulter Kopf denken mag darüber, wie sich in dem inneren Leben (S. 26) dieser Person Gott und Mensch vertrugen, wie viel an und in ihm Gott, wie viel an und in ihm Mensch, oder wie er ganz Gott und zugleich ganz Mensch war. Der Glaube hängt gewiß nicht an einem christologischen Dogma. Allein ebenso wenig darf dann der Glaube abhängen von den unsicheren Feststellungen über ein angeblich zuverlässiges Jesusbild, das mit den Mitteln der spät entwickelten geschichtlichen Forschung herausgequält wird – gleich aussichtlos in seinem Gelingen, wie jener aus bloßen Begriffen gebildete Schattenriß des Dogma. Denn gegenüber dem Christus, den wir glauben sollen und dürfen, muß der gelehrteste Theologe nicht besser und nicht schlechter stehen als der einfältigste Christ; nicht besser, denn er kommt dem lebendigen Heiland nicht näher als jener; nicht schlechter, denn hat er Ärgernisse für den Glauben zu überwinden, so hat sie jener auch, und zur Überwindung dieser Anstöße gibt es nur den einen königlichen Weg: ändert euren Sinn und setzt euer Vertrauen auf das gute Angebot: Jesus Christus gestorben für unsere Sünden nach der Schrift und begraben und am 3. Tage auferstanden nach der Schrift (Mark. 1,15; 1.Kor.15,1-5). Und nur diejenige Theologie kann ich gelten lassen, welche den Thatsachen des vorhandenen lebenden Christentumes zu dem entsprechendsten, klarsten und schärfsten Ausdrucke hilft. Wenn nun dereinst die einfältige Schrifttheologie des Pietismus die Dogmatiker von ihrem Gelehrtenpapat entsetzt hat, so ist es heute die Aufgabe des Dogmatikers, in Vertretung des schlichten Christenglaubens den Gelehrtenpapat der Historiker in seine Schranken zu weisen. Er „besetzt ja ein größer Terrain, als er soutenieren kann“ (Anm. 19); er unternimmt es, Forderungen des bloßen wissenschaftlichen Interesses ohne zureichende Mittel zu befriedigen und hält dabei die Grenzlinie zwischen den Anliegen des Wissenstriebes und den Anliegen des Christusglaubens nicht entschieden und sauber auseinander. Man bekommt wohl zu hören, heute sei das ,,Leben Jesu“ an die Stelle des Dogma von Christo getreten oder habe an dessen Stelle zu treten. Dann bietet man eine Masse oder ein scheinbares Ganze von Thatsachen, welche zu Recht der unendlichen wissenschaftlichen Untersuchung unterworfen (S. 27) bleiben, für unbestreitbare Glaubenswahrheiten, oder, wenn man das richtiger findet, für unbestreitbare Glaubenserlebnisse an; und der Erfolg muß und wird eine Unsicherheit, ein Hinausschieben in der Bildung von Überzeugungen, ein Ansichhalten und Zweifeln gerade bei den tiefer Grabenden sein, welches dem Christenglauben an die Wurzel greift. Springt es doch aus den Darstellungen selbst in die Augen, daß sie im großen wie im einzelnen Versuche find, die Vergangenheit zu erfassen; sie müssen sich auf Schritt und Tritt mit andern, ebenso fleißigen und ehrlichen Versuchen auseinandersetzen. Oder, wenn sie das nicht thun, gewinnen sie den Schein der Sicherheit durch ein zeitweiliges Vergessen und Verschweigen; und diese Täuschung kann nicht lange vorhalten. Wenn diese Arbeit dafür gelten soll, den „Grund zu legen“, außer welchem es keinen gibt, so wird sie nur klar machen, daß diesem Grunde die Tragfähigkeit fehlt. Denn geschichtliche Thatsachen, welche die Wissenschaft erst klarzustellen hat, können als solche nicht Glaubenserlebnisse werden; und darum fließen Geschichte Jesu und christlicher Glaube wie Öl und Wasser auseinander, sobald der Zauber begeisterter und begeisternder Schilderung seine Kraft verliert. Indes das Verhältnis zwischen Glauben und biblischem Bericht scheint doch kein wesentlich andres als das Verhältnis zwischen Glauben und wissenschaftlich erforschtem Jesusbilde. Mithin drängt die Erörterung wohl ausweglos auf die Wahl entweder des Subjektivismus oder des Autoritätsglaubens. Lassen wir uns durch das Vorhalten dieses Entweder-oder nicht doppelsichtig machen; sehen wir einstweilen davon ab und untersuchen schlicht die Stellung eines einfältigen Christen. Gewiß wird er in den meisten Fällen durch die Schrift zu Christo gekommen sein; – nicht gerade sehr viele durch das Lesen der Schrift, sondern die meisten durch Predigten oder erbauliche Bücher, welche ihnen den Schriftinhalt nahe brachten. In der anerzogenen Hochachtung gegen die Bibel liegt ihm Glaube an Christum und Vertrauen auf dieses Buch ohnegleichen untrennbar ineinander. Wenn es dann aber zur Unterscheidung kommen muß, dann wird es ihm klar werden, was einst ein ehrwürdiger, bibelfester Zeuge zum Thema seiner Predigt gemacht hat: „wir glauben nicht an (S. 28) Christum um der Bibel willen, sondern an die Bibel um Christi willen“ (Anm. 20). Noch genauer läßt es sich wohl in diesem Zusammenhange so ausdrücken: wir setzen unser Vertrauen auf die Bibel als auf das Wort unsers Gottes um ihres Christus willen. Die bibelfesten Laien sollten vor solchem Satze nicht stutzig werden. Sie wissen es ja aus ihrer Bibel selbst. Was hat denn den Juden ihr Pochen auf die Schrift geholfen? Micha hat sie nicht zur Anbetung nach Bethlehem geführt (Matth. 2,3f.). Sie erhoben aus der Schrift, daß aus Galliläa kein Prophet ersteht (Joh. 7,41f.), und hielten dafür, aus Nazareth könne nichts Gutes kommen (Joh. 1,46); sie vernahmen ihr Zeugnis für Jesum nicht (Joh. 5,39f.). Denn sie verstanden weder sie noch die Kraft Gottes (Matth. 22,29f.); den Rätseln ihrer Weissagung aber standen sie ratlos gegenüber (ebd. V. 41f.). Nur diejenigen Juden, welche Jesum im Glauben als den Christus erfaßten, fanden sich mit dem Nazarenus zurecht (Matth. 2,23), entdeckten das Zeugnis für den Aufgang in Galliläa (ebd. 4,12f.), und lernten nach dem Erweise der Kraft Gottes an dem Auferweckten (Röm. 1,4; 2. Kor. 13,4), daß diesem Mose und alle Propheten Zeugnis geben (Apostelgesch. 3,18f. u.a.O.). Wir lernen daraus jedenfalls, daß es einen Weg durch Christus zum Verständnis der Schrift gibt. Und erst dieser Umweg bewahrt vor der Gefahr, daß die Anhänglichkeit an die Schrift auch zum Hindernis für den Glauben werde ebenso wie alles Eifern um Gott mit Unverstand (Röm. 10,2). Das müssen wir uns in unsern Tagen auch unter sehr andern Umständen gesagt sein lassen. Wir leben zumeist getrost unsers Glaubens, ohne uns über die Wurzeln sonderlich Rechenschaft zu geben, aus denen er erwachsen ist. Erst Anfechtungen zum Zweifel nötigen uns dann zur rückblickenden Prüfung. Eine solche Stunde der Sichtung rücksichtlich der Bedeutung unsrer Bibel für unsren Glauben ist über uns gekommen und zwar nicht nur über die Theologen. Da gilt es denn reinlich zu unterscheiden, auch was nie und nimmer (S. 29) geschieden werden kann und soll. Wir müssen unterscheiden zwischen dem Angebot des Inhaltes für den Glauben und zwischen dem Beweggrunde, der uns bestimmt, den Inhalt im Glauben zu ergreifen. Und es wird für jeden Evangelischen, ja für jeden lebendigen Christen gelten, der treu und kindlich an seinem Heilande hängt, daß dieser Beweggrund zuletzt eben in den Erlebnissen liegt, die er in der Hingebung an seinen Heiland gemacht. Der Heiland aber, mit dem er lebt, das ist nicht ein bloß empfundener oder von ihm ersonnener; das ist vielmehr der ihm gepredigte; das ist überall – lauter oder verdunkelt – aber letztlich immer der Christus der Schrift. Je mehr Umgang er nun mit der Schrift selbst pflegt, um so mehr fließt ihm die anziehende Macht des Heilandes mit dem Ansehen der Schrift zusammen; weil sein Christus der biblische ist; weil er je länger, je mehr seinen Christus der Bibel verdankt, so meint er nicht nur diesen Christus, sondern auch den Glauben von der Bibel zu haben. Und das ist auch zu nicht geringem Teile der Fall, weil ja die Bibel Christum predigt, ihn predigt aus und in Glauben und man an ihrem Glauben glauben lernt. Und doch wird es dabei bleiben, daß niemand einen selbständigen Glauben neutestamentlicher Art und Wertung hat, der nicht zu den neutestamentlichen Schriftstellern sagen kann wie die Samariter: nicht mehr um eurer Rede willen glauben wir (Joh. 4,42); dem es nicht die Gestalt Jesu angethan hat, wie dem vierten Evangelisten (Joh. 20,31; 1,14.16); der nicht an den biblischen Jesum glaubt durch den Zug und die Offenbarung des Vaters um des Wortes Jesu, ja um sein selbst willen (Matth. 16,17; Joh. 6,44f. 68. 20,28 vgl. 14,5-9). Wenn man neuerdings lehrt, der christliche Glaube sei ein „überwältigt“ werden von Christo in seinem an uns herantretenden Bilde, so scheint mir diese Bestimmung zutreffend, wenn es sich um den letzten entscheidenden und zureichenden Beweggrund für Glauben und Gläubigkeit handelt (Anm. 21). Nur halte ich die Beschreibung (S. 30) für unzureichend, wenn sie auch die Entstehung und Vermittelung dieses Glaubens umfassen soll; und ich halte sie so lange für unbestimmt, als dieses Bild selbst nicht klarer bezeichnet ist. Denn es ist mir eben das Bild des im Glauben Erfaßten, es ist das aus und in Glauben gepredigte Bild Christi, welches diese Wirkung ausübt; eben darum nie und nirgend „das Bild einer auffallenden Menschengestalt, sondern jenes Bild, welches in sich, und wäre es auch nur in erhobenem Anspruche, ein Dogma, ein Glaubensbekenntnis trägt. Es bietet sich nämlich als die Gestalt des Herrn, des Weltheilandes dar, des Erlösers von Schuld und Sünde, des offenbaren Gottes. Nicht nur sachlich, nein ausdrücklich kommt dieses Bild an einen jeden mit dem Entweder-oder: Eckstein oder Fels des Ärgernisses (1. Petr. 2,6.7). Zu der Entscheidung gegenüber diesem Bilde – vollziehe sie sich in sorgfältiger Selbstprüfung oder nur halb bewußt in unbefangener Hingabe – greifen zwei bewegende Kräfte in einander. Die eine ist die Empfänglichkeit; das Bedürfnis, den Mangel und die Ohnmacht des innersten Lebens in Selbstgewißheit gegenüber der Endlichkeit und in Willenskraft gegenüber dem verabscheuten Bösen umgesetzt zu sehen. Ohne das mag es Bewunderung und Verehrung geben, gewiß aber keinen Glauben, der es vermag, das eigne Leben an ein fremdes daran zu geben. Das andre ist der Eindruck, den dieses wunderbare Bild auf den empfänglichen Betrachter macht. Diesen Eindruck empfängt der schlichte Bibelleser genau so, wie der forschende Theologe. Der Unterschied wird nur darin bestehen, daß der Theologe sich bemühen wird und muß, diesen Eindruck seinem Inhalte und seiner Art nach sauber festzustellen und über seine Gründe bestimmt Rechenschaft zu geben. Gelingt ihm das, so wird er der ganzen Gemeinde und unter Umständen auch dem einfachen Bibelleser dienen können; in dem Falle nämlich, daß dieser irgendwie in seiner unbefangenen Zuversicht erschüttert werde. Versuchen wir es, den Weg des Theologen mit einigen Strichen vorzuzeichnen. (S. 31) Es ist ein wunderbares Bild, das uns entgegentritt. Man hat vom Standpunkte des Zweifels nicht ohne Grund gesagt, auch die Schilderung der Synoptiker sei eine auf Goldgrund gemalte Heiligenlegende. Und doch rufen alle biblischen Schilderungen den unabweislichen Eindruck vollster Wirklichkeit hervor (Anm. 22). Man möchte sich bemessen, im voraus zu sagen, wie er in diesem oder jenem Falle gehandelt, ja selbst, was er gesprochen hätte. Deshalb eben kann man mit diesem Jesus verkehren und braucht dazu garnichts weiter, als die biblische Darstellung. Zuvörderst halten wir still dabei, weshalb dieser Eindruck so stark und so überwältigend sei? Zeichnen nicht unsre Dichter lebensvolle Gestalten, die sich uns unvergeßlich einprägen? Kann diese Gestalt nicht das edelste Gedicht der Menschheit sein? wie man ja auch einen Abraham, einen Mose jetzt sein läßt. Gerade dieser Vergleich belehrt uns vom Gegenteile. Diese Gestalten mögen um mehr als Haupteslänge über uns emporragen, sie bleiben doch Fleisch von unserm Fleisch; haben sie gelebt, so waren sie Menschenkinder; sind sie nur erschaut, so sind sie Kinder der Phantasie, die ihren Stoff aus unsrer Wirklichkeit nimmt. Nicht umsonst hat Carlyle von der unerbittlichen Wahrheit der Schriftschilderung gesprochen; diese Bilder sind alle von unsrer Art. Aber das Jesu?! Wenn es uns jetzt vertraut scheint, so ist das eine erklärliche Täuschung; wir kennen es von Kind auf; wir leben in einer Menschheit, deren Beste ihr Bestes von ihm haben, Abglanz seiner unvergleichlichen Herrlichkeit. Besinnen wir uns recht und schauen uns sonst um, so muß er in seiner edlen Erhabenheit uns sehr fremd erscheinen. Und doch so lebensvoll, so wirklich, als hätten (S. 32) wir ihn vor uns gesehen. Das ist nicht die idealisierende Dichtung eines menschlichen Geistes; hier hat sich sein eignes Wesen unvergänglich abgeprägt (Anm. 23). Wäre dem nicht so, längst hätten alle Gelehrten darauf verzichtet, sich an dem Sphynxrätsel dieser Erscheinung den Kopf zu zerbrechen (Anm. 24). Weil dem so ist, deshalb haben es schon Tausende vermocht, mit ihm zu leben als mit ihrem vertrautesten einflußreichsten Freunde. Wenn ich fortfahre, so brauche ich im Ausmalen und Beweisführen nicht weitläufig zu sein; ich bringe Gottlob! lauter altbekannte Dinge vor. Vielleicht nur eines thue ich hinzu; das nämlich, was der Führer zu seiner kampfesmutigen Mannschaft hinzuthut; er stellt sie in Reih und Glied und an den rechten Fleck. Wohl, wirft mir jemand ein, von einem Bilde Jesu sprichst du. Das wird auch ein willkürliches Gebilde der Phantasie sein, welches sich der fromme Denker nach Belieben aus der Überlieferung zusammensetzt und zurechtschneidet. Wo von Wirklichem die Rede ist, da fragt man nach dem, was in der Geschichte vorliegt; die Evangelien geben doch eine Erzählung; also eine Geschichte Jesu, nicht ein Bild von ihm hat man zu fordern. Gemach; ist es wirklich so? Allerdings haben wir Erzählungen; sind sie in der That mit dem Absehen auf einen „Pragmatismus“ aufbehalten und zusammengestellt? bei den großen Redesammlungen des ersten und den immer wiederholten Streitgesprächen des vierten Erzählers steht es doch gewiß nicht so. Ausführlicher (ein wenig!) werden sie alle ja erst – wenn man die Zeitmaße erwägt – mit dem (S. 33) Beginn des großen Leidens, mit der Schilderung seines „Werkes“(Anm. 25). Was vor diesen Abschnitten steht, scheint mir einen andern Zug zu haben; weit weniger, was geschehen ist, als wer gehandelt hat und wie er das gethan, soll berichtet werden. Wenn der vierte Erzähler offen bekennt, ein Prediger zu sein (Joh. 20,31), so sind die andern es im Grunde nicht minder (Anm. 26). Auch wenn sie erzählen, so schildern (S. 34) sie den Mann in seinem Thun und Behaben. Was wir von ihnen empfangen, ist eigentlich nur ein „Charakterbild“ (Anm. 27). Oder was sind die Erzählungen an sich und was sind sie uns, als Beispiele, wie er zu handeln pflegte, wie er war, wie er ist? In jedem Tropfen der betaueten Wiese spiegelt sich widerstrahlend der Sonne Licht; so tritt uns in jeder kleinen Geschichte die volle Person unsers Herrn entgegen. Das ist hier genau wie in dem 2. Artikel des Taufbekenntnisses; zu Unrecht hat man ihm vorgeworfen, er fordre Glaube an Thatsachen; er bekennt den Glauben an die Person, die wir aus den Thatsachen kennen. Ist dem so, wie mag die Sorge zusammenschrumpfen um Chronologie und Pragmatismus, um Bewußtseinsentwickelung und feststellbaren Fortschritt. Dazu kommen seine Worte. Sie zu charakterisieren, darauf verzichte ich; sie brauchen meiner Anpreisung nicht, die Kleinodien der Christenherzen. So manches Wort hat er von sich selbst geredet – viel mehr, als man wünschen möchte, wenn er ein bloßer Mensch war wie wir. Diese Worte freilich unterscheiden ihn, ohne Gepränge aber haarscharf, von uns (Anm. 28); was er aber in denselben von sich sagt, das stimmt wohl mit seinem Thun und Sein; das lehrt uns vielmal, dies Thun und Sein erst recht verstehen. So wird uns die Schilderung zur Bewährung seines Selbstzeugnisses und sein Selbstzeugnis das Siegel auf die Schilderung seines Wesens (Anm. 29). Auf dem Wege dieser Erwägung werden wir auch dazu kommen, den apostolischen Lehrschriften zuzugestehen, diesem Jesus könne man zutrauen, was sie weiter von ihm zeugen. Sie nehmen den (S. 35) Mund nicht zu voll in dem, was wir kennen; sie werden es auch nicht thun, wo sie Dinge von ihm aussagen, die freilich über die Grenzen seines irdischen Erscheinens hinausliegen; denn diese Dinge passen wohl zu jenem Inneren, welches sich in dieser Erscheinung bekundet. Ja, diese Bekenntnisse und Verkündigungen der uralten Predigt geben uns die Handhaben, um die Erzählungen uns anzueignen und zu verstehen (Anm. 30). Allerdings dem ersten Hinblick zeigt sich ein weiter Abstand zwischen den Berichten der Evangelien und den „dogmatischen“ Aussagen der Briefe über Christum. Doch stehen sie sich näher, als es zuerst scheint. Ein Zwischenglied ist ja kenntlich das vierte Evangelium, denn es stellt seinen Bericht in den Rahmen und unter das Licht der bestimmtesten Aussagen über den Wert dieser Person; Aussagen, welche sie weit aus der Gleiche mit sonstigen Menschen herausrücken. Auf das, was vor der Geburt liegt, gehen freilich die Synoptiker nicht ein; desto bestimmter auf den Stand der Erhöhung; und zu ihrem Christusbilde gehören doch auch die Kindheitsgeschichten. Wenn man die vorliegenden Evangelien nimmt, wie sie sind, statt unter Hand dafür ein Urevangelium, ohne Vorgeschichte, ohne „Apokalypse“ (Anm. 31), ohne steten Vorblick auf den doppelseitigen Ausgang als das eigentliche Ziel seines Weges (Anm. 32) unterzuschieben, dann erkennt man in ihnen denselben ,,dogmatischen“ Zug, wie etwa in den Messiasreden der Apostelgeschichte; sie sind Predigten von der Messianität des Gekreuzigten. Eben darum hat auch die Kirche bis zur modernen Zeit diesen Abstand zwischen der geschichtlichen Darbietung und der dogmatischen Predigt garnicht empfunden. Und sollten in der That etliche Menschen ihren Glauben an den Heiland aus den evangelischen Berichten gewonnen haben, ohne durch die apostolische Verkündigung von seinem Heilswerke und seinem Heilandswerte, sei’s in ihrer neutestamentlichen Urgestalt oder in kirchlicher Vermittelung auf ihn aufmerksam und für seine (S. 36) Schilderung empfänglich geworden zu sein, so wird davon gelten, daß Ausnahmen die Regel bestätigen. In einer Zeit gespannter Gegensätze mag es geschehen, daß diese synoptischen Schilderungen eine besondre Bedeutung für Kreise gewinnen, die gegen das ,,apostolische Dogma“ mißtrauisch gemacht und geworden sind; indes auch da bildet ein nebelhafter Abglanz jenes Dogma, nämlich das Wissen um irgend eine unvergleichliche Schätzung dieser Gestalt innerhalb der Kirche, die Vermittelung, um jenes Bild der Beachtung und Abschätzung zu empfehlen. Mit andern Worten: Erinnerung an die Tage seines Fleisches und Bekenntnis zu seiner ewigen Bedeutung und zu dem, was wir an ihm haben, im neuen Testamente ungeschieden in einander, wenn auch nach mehr oder minder auf die beiden Gattungen urchristlicher Zeugnisse verteilt, diese zwei Arten der Bekundung gehören zusammen, um die Voraussetzung für eine Glaubensschätzung seines Bildes zu bieten. Wir bedürfen der apostolischen Heilsverkündigung, zwar nicht in dem Sinne, daß wir mit einem Opfer unsers Urteiles uns ihren Versicherungen unterwerfen und für diese Leistung erwarten, nun auch zu erleben, was sie aussagt; wohl aber, um von den besitzenden Brüdern auf die Bahn gewiesen zu werden, auf der man die Schätze heben mag, die zuerst für das Leben, dann auch für das Verständnis durch Christum und in ihm zu erwerben sind. Und deshalb können wir der bekennenden Verkündigung für das vollgiltige Bild Christi nicht entbehren (Anm. 33). (S. 37) Folgen wir nun der neutestamentlichen Schilderung, so weisen uns Evangelien wie Briefe vielfach zurück in die Schrift alten Testamentes und ihre ausdrückliche oder vorbildliche (typische) Weissagung auf Christum. Und die Kirche in ihrer Verkündigung wie in ihrer Kunst hat diese alttestamentlichen Stoffe unlöslich in unser Christusbild hineingewoben. Wem unter uns gehörten nicht die Adventstexte und die Sätze aus Jesaja 53 zu seinem Eindruck von dem, „der der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war“? Das haben wir in frommer Gewöhnung. Das auch im einzelnen erkennend durchzuführen, wird den Kindern unsers Geschlechtes sehr schwer, während sich in der geschichtlichen Wertung und Auffassung der alttestamentlichen Schriften ein Umschwung vollzieht, dem kaum ein ernstlich Beteiligter ganz widersteht. Trotzdem wird es dabei bleiben, daß man Christum ohne das alte Testament nicht zu schätzen vermag. Man irrt, wenn man meint und sagt, das Verhältnis liege so, daß lediglich Christus sein Licht auf das alte Testament werfe. Wie dieser Jesus selbstverständlich als Messias nirgend auftreten konnte, außer unter den Juden, so würden auch wir ihn ohne die Erziehung am alten Testamente garnicht zu schätzen wissen. Unter den Biographen Jesu können wir die Belege dafür aufzeigen, daß der rein subjektive kategorische Imperativ den lautern Sinn für die sittliche Mustergiltigkeit Christi nicht ausreichend herstellt (Anm. 34); man darf wohl fragen, ob ein Kant ohne das christlich verklärte alte Testament denkbar wäre. Mir will es scheinen, daß die Sündlosigkeit des Herrn nur dem anschaulich gewiß wird, dessen sittlicher Sinn sich an der Gedanken- und Gestaltenwelt des alten Testamentes gebildet hat. Es steht auch mit dem Verständnis für den Hinweis Jesu auf seinen Vater (S. 38) ähnlich; vor Heiden hätte er ganz anders reden müssen, und wenn wir seine Worte lesen, bringen wir aus Katechismus, Predigt und biblischer Geschichte immer unsre Vertrautheit mit Jehovah schon herzu. An die Formen für die Auffassung des Heilswertes seiner Person und seines Leistens, welche der neutestamentliche und kirchliche Unterricht überwiegend dem alttestamentlichen Volks- und Gottesdienstordnungen entlehnt hat, erinnere ich nur, des lebhaften Widerspruches gegen diese, auch mir unentbehrliche, Anwendung mir wohl bewußt. Wie viel indes oder wie wenig man von diesen Hinweisungen gelten lasse, es wird doch dabei bleiben, daß dieser Jesus in der That der Messias ist, dessen Geist in den Propheten geredet hat (1. Petr. 1,11); und man wird den geschichtlichen Christus nicht zu schildern vermögen, ohne ihn am alten Testamente auszuweisen, ohne den alttestamentlichen Hintergrund, aber auch die alttestamentliche Färbung seines Lebens, das er vor und in seinem Vater führt, zur Geltung zu bringen. So trägt jedes Stück unsrer Bibel seinen Teil dazu bei, uns Jesum den Christus ganz zu schildern. Das geht vor allem die kirchliche Arbeit am Worte an; des kann aber auch der gereifte Christ in seinem Umgange mit der Bibel inne werden und es in der Stille für sich durchführen, indem er sich schrittweise in diese Bezeugung hineinlebt. Und ebenso meinen wir es, wenn wir von dem biblischen Christus reden.

 

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