Martin Kähler (1835-1912):

 Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus.


Anmerkungen

(Die Fußnoten im Text wurden zu Endnoten gewandelt und durchgehend nummeriert)

 

1) Kirchl. Monatsschrift v. Peiffer Bd. 4 S. 161 f.

 

2) Beide i. d. Jahrbüch. f. deutsche Theol. 1874. 1875.

 

3) Ein Ausdruck aus Fr. Nippolds neuester Kirchengeschichte B. 3 § 16.

 

4) Dorner, Entwickelungsgesch. 2. S. 544.

 

5) Diese Zusammenfassung wird kaum auf eine ernstliche Beanstandung stoßen. Die Ausschließlichkeit, mit der man auf christliche Quellen gewiesen ist, muß außerhalb des christlichen Gesichtskreises gewiß bedenklich machen. Wie man mit dem Stoff der Evangelien verfahren würde, wenn wir irgend andre Quellen besäßen, daraus läßt unter anderm das Schicksal der kanonischen Apostelgeschichte in der „zeitgeschichtlichen“ Behandlung des Urchristentumes schließen. Man hat den ersten David Strauß mit seiner Mythologie über Baur schier vergessen; aber bereits meldet sich seine Anschauung wieder – sehr erklärlicher Weise. – Die Einzigkeit der Quellen will ja nun freilich danach geschätzt werden, wie man diese Quellen im übrigen beschaffen findet. Hier ist für Verläßlichkeit der Berichte überhaupt vor allem das Verhältnis zwischen dem 4. Evangelium und den Synoptikern wichtig. Ich meine recht nachdrücklich an P. Ewalds Arbeit über das Hauptproblem der Evangelienfrage (1890) erinnern zu sollen. Der Hinweis auf die unverkennbare Einseitigkeit des synoptischen Berichtes S. 5 f., vgl. S. 50 f., ist durchaus berechtigt; das Rätsel ist durch einfaches Schweigen über die Schwierigkeit nicht gelöst. Jedenfalls hindert diese Einsicht daran, daß man bei dem bequemen Verfahren bleibe, das günstige Vorurteil für die Synoptiker zum Grundsatze der Geschichtsbehandlung zu machen und in den Rahmen ihrer Erzählung nach Wahl einzelnes oder vieles aus dem 4. Evangelium einzufügen; oder gar den Rahmen aus dem 4. Evangelium zu entlehnen und dann doch im übrigen die Darstellung der Synoptiker für maßgebend und ausreichend zu achten. – Es liegt auf der Hand, daß ein Vortrag nicht den Einzelbeleg für diese Behauptungen liefern kann; er scheint mir aber auch entbehrlich, denn die Thatsachen liegen ja für jeden einigermaßen theologisch Gebildeten deutlich vor und außer Zweifel; nur über Beurteilung und Verwertung geht man auseinander.

 

6) Man denke an die Frage nach dem Monatstage der Kreuzigung. Allein von solchen Nebensachen abgesehen, wie wenig Aussicht bietet eine Harmonisierung auch nur rücksichtlich der Passionsgeschichte, selbst beim Verzicht auf den 4. Evangelisten. – Freilich wenn man die Unbefangenheit und Sachlichkeit der Berichte im allgemeinen voraussetzt, dann sind die Fragen nicht sehr peinlich; die Stoffe vertragen sich im großen; den Verlauf im einzelnen kann man eben nicht mehr erkennen. Ebenso muß man sich in der Geschichtschreibung auch sonst vielfach bescheiden. Indes hier liegt doch ein besonderes Bedenken vor. Jene letzte Woche ist der am reichsten bezeugte Abschnitt dieses Lebens; trotzdem hat sich ihr Verlauf den Augenzeugen mit so geringer Bestimmtheit eingeprägt, daß der Nacherzähler sich immer wieder vergeblich am Zusammenpassen der einzelnen Vorgänge und Berichte müht und fast jeder es anders macht als sein Vorläufer. Das erweckt doch kein günstiges Vorurteil für die Genauigkeit der Überlieferung im übrigen; kein günstiges Vorurteil für eine solche Beschaffenheit des erhaltenen Stoffes, dergemäß sich aus ihm mit Zuversicht auch weitere Schlüsse über solches ziehen lassen, das gar nicht berichtet ist.

 

7) Es ist mir natürlich nicht unbekannt, daß man die Entwickelung des messianischen Bewußtseins noch während des öffentlichen Auftretens aus dem Stoffe der Evangelien nachzuweisen pflegt; dabei wird doch wohl allgemein zugestanden, daß die Quellen selbst, die Berichterstatter nicht an eine solche Entwickelung denken. Es liegt also auch hier ein Konstruieren dessen vor, was man hinter den Quellen zu erkennen meint. – Ich kann aber überhaupt von der Ansicht nicht loskommen, daß die Geschichtsforschung durchaus an den Quellen hängt; sobald man von der Schätzung der Berichte als solcher absieht, und die Stoffe ohne Rücksicht auf ihre Herkunft in betreff ihrer Geschichtlichkeit zu werten beginnt, bewegt man sich lediglich auf dem Gebiete schwankender Vermutung. Es mag dann verneinende Urteile von einiger Sicherheit geben; über den wirklichen Hergang jedoch gewinnt man keine Gewißheit. Sonst bewiese ja die einwandfreie Erfindung eines Romanes für die Wirklichkeit seines Inhaltes. Über den Unterschied psychologischer Wahrheit, also dichterischer Wahrheit von richtiger Wiedergabe der Wirklichkeit in ihrer oft unfaßbaren Paradoxie herrscht in der Ausübung der Kritik, wie mir vorkommt, weithin viel Unklarheit.

 

8) Leben Jesu 1864 S. 208.

 

9) So Keim, Geschichte Jesu. 3. Bearb. 1873. S. 372. K. vermißt an einigen Punkten die Harmonie; er hat also die „Narben“ der durch Kampf geläuterten Naturen an Jesu bemerkt, die D. Strauß nicht entdecken konnte a. a. O., wenn Str. auch „einzelne Schwankungen und Fehler“ in der Entwicklung anzunehmen eben für notwendig und deshalb selbstverständlich hält. An die widerwärtigen Tiraden Renans, z.B. bei Gelegenheit von Gethsemane, werden sich Kenner der Litteratur hier selbst erinnern.

 

10) Hat sich doch ein ernster Theologe dahin verirren können, sich in den Verkehr der Maria mit Jesu rücksichtlich seiner Wäsche hineinzudichten! Da man hier nicht wie etwa bei Schiller von dem jeweiligen Vermögensstande, den man aus den Taschenbuchnotizen bemißt, auf die Antriebe zu öffentlicher Leistung oder die Seelenstimmung zu schließen wünscht, so ist das nach andrer Seite das volle Seitenstück zu Herrnhutischer spielender Vertraulichkeit mit dem Erlöser. Diese Geschmacklosigkeit ist nicht nur unter dem Gesichtspunkte der Ästhetik eine solche. Es gibt aber auch einen Mangel an Zartheit im Anfassen heiliger Dinge bei höchster ästhetischer Virtuosität.

 

11) Der Bibelkundige wird nicht antworten: das Fleisch das Offenbarende, das Wort das Geoffenbarte; denn Wort ist eben Offenbarung.

 

12) Man vergleiche beispielsweise das Unservater mit den jüdischen Gebeten, an die es in der That anklingt. Man beachte seine Benützung der Schrift.

 

13) Was hiermit gemeint ist, wurde zu einem Teile oben angedeutet, wo von seiner Einzigartigkeit die Rede war; auf andres kommt die Erörterung gegen ihren Schluß.

 

14) Es versteht sich wohl von selbst, daß diese Zusammenfassung an dieser Bibelstelle nur ihren Ausdruck, nicht ihren zureichenden Beleg gesucht hat; eines solchen bedarf es schwerlich; das neue Testament wie die Katechismen sind in diesem Betrachte wohl deutlich genug.

 

15) Th. Harnack, Luthers Theol. 2 S. 81f., vgl. auch ebd. 1 S. 111f. Thomasius, Christi Person 2. A. 2 S. 210f. Köstlin, Luth. Theol. 2 S. 155. 300f. 383.

 

16) Wenn man sich doch nicht mit dem fünften Evangelium Renans, nämlich der Geographie und Ethnographie des heutigen Palästina begnügen kann.

 

17) Die einsamen Gestalten, welche nur einen schriftlichen Nachlaß hervorbrachten, ohne auf ihre Mitwelt zu wirken, sind keine geschichtlichen Größen. Aber von dieser Art auf die Nachwelt rechnender Besonderheit, von „der Bürgerschaft derer, die da kommen sollen“ ist der dienende Menschenfreund Jesus so verschieden wie möglich.

 

18) Ein verbreiteter Sprachgebrauch veranlaßt die Meinung, Sache der Dogmatik sei willkürliches Behaupten; dagegen die Geschichtsbehandlung gebe immer das Wirkliche. So wenig leider das letzte immer gilt, weil die Historik ihre Grenzen nicht einhält oder ihre Schuldigkeit nicht thut; so wenig auch ernste historische Arbeit das immer zu leisten im stande ist, ebenso gewiß ist jene Annahme in betreff der Dogmatik zwar aus Verirrungen erklärlich, aber sachlich unbegründet. Auch die Dogmatik hat Gegebenes festzustellen, wenn auch freilich nicht bloß eine vergangene Wirklichkeit. Sie ist recht eigentlich die Vermittlerin zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, um dieser das Unentbehrliche und Probehaltige aus jener zum Dienste zuzubereiten. Darum kommt an dieser Stelle der Dogmatik die Entscheidung zu, nachdem sie sich ernstlich und gründlich über die Leistungsfähigkeit der Geschichte unterrichtet hat; es ist ihre Aufgabe, Abrechnung zu halten über den Besitzstand. Die gemeinten Thatsachen sind nun die umfassenden, nämlich erstens die Unmöglichkeit, quellenmäßige Einsicht in die Genesis des Messias Jesus zu gewinnen, und zweitens die Verständigung über das, was Christus seiner Kirche immer gewesen und jedem Bekenner auch heute ist. Diese Thatsachen sind freilich Summanden aus einer Reihe andrer bestimmter Thatsachen, wie anzudeuten versucht wurde und noch weiter angedeutet werden soll. Was die zweite betrifft, so ist eine Forderung unberechtigt, nämlich die, die Bestimmung des Wertes Christi für die Christenheit danach zu bemessen, was er auch demjenigen noch ist, der nur nicht völlig mit der Anhänglichkeit an ihn gebrochen hat. Es muß immer wieder daran erinnert werden, daß man die Anschauung vom Menschen zwar auch mit der Einsicht in seine Vorstufen als des Fötus und Unmündigen und in seine mögliche Entartung in Krüppelhaftigkeit oder Verblödung zu bestimmen hat; daß man aber für die eigentliche Feststellung dieser Anschauung mit gutem Rechte den reifen gesunden Menschen edler Gattung zu Grunde legt. Man mag so bescheiden in christologischen Formeln sein, wie irgend denkbar, aber Gegenstand des Glaubens im – wie man heut gern sagt – “streng religiösen Sinne dieses Wortes“ muß Christus demgemäß für die christliche Schätzung bleiben, sonst fallen wir aus dem Umkreis seiner Kirche heraus; also muß er auch immer Inhalt eines Bekenntnisses, eines Dogma sein. Damit ist ja eine Grenze rücksichtlich der Kreise gezogen, innerhalb deren diese Ausführungen auf Anerkennung ihrer Giltigkeit oder doch auf geneigte Erwägung derselben zählen dürfen. Sehr wohl verstehe ich es, wie man unter Leugnung oder verkümmernder Schätzung der an zweiter Stelle genannten Thatsache zu ganz andrer Stellung gelangen muß. Ist Offenbarung nur ein mißverständlicher Name für religiöses Bewußtsein in seiner geschichtlich bedingten Entwickelung; ist Jesus nur ein ursprüngliches, gradweise über uns andre hervorragendes religiöses Gemüt, dann kann freilich das neutestamentliche Glaubensbekenntnis, wie es auch den Evangelisten ihre Schilderung eingegeben hat, nur eine Verdunkelung der Thatsachen bewirken; man muß gegen das meiste oder gegen alles in jener Schilderung mißtrauisch werden. Und dann wird man nur zu dem Versuche greifen können, das Rätsel dieses Menschen, der für den Messias nicht nur gehalten sein wollte, sondern auch mit erstaunlichem Erfolge gehalten und ausgegeben worden ist, um jeden Preis aus zeitgenössischen Anschauungen und Umständen zu erklären. Ich erhebe nicht den Anspruch, meine Kritik nach ihrer behauptenden Seite unter dieser Voraussetzung zur Geltung zu bringen; nach ihrer zersetzenden Seite, sofern es die Wertung der Quellen angeht, rechne ich dagegen auf weitgehendes Zugeständnis. Im übrigen verhandelt jedoch meine Ausführung nur mit denjenigen Theologen, welche die Arbeit am ,,Leben Jesu“ im Dienste jenes Bekenntnisses treiben und zum Teil meinen, mit ihrer Arbeit mehr für die Festigung dieses Bekenntnisses zu thun, als alle Dogmatik vermag. Es handelt sich mir um die richtige Schätzung der Leistungsfähigkeit des konstruierenden geschichtlichen Verfahrens; nämlich darum, was es für die rechte Stellung zu Christo innerhalb der Kirche, der Trägerin des Evangeliums, leisten kann. Die weitere Ausführung des Vortrages macht eindrücklich, daß und warum man ein Recht hat, gegen alle spätere Zuthat zu diesem Bilde empfindlich zu sein und sich abwehrend zu stellen. Deshalb ist eine solche ausmalende Darstellung auch als theologische Facharbeit nicht ohne Bedenken. Ihre Beliebtheit und ihren Einfluß in weiten Kreisen, namentlich bei der Jugend, weiß ich mir wohl zu erklären. Man ermißt ja oft nicht genug, in welchem Maße mit den Zeiten die Stimmungen in betreff dessen wechseln, was als Maß und Ziel der Erkenntnis gilt; – ich sage mit Bedacht „Stimmungen“. Eine solche meine ich auch gegenwärtig zu beobachten. Geschichtliche Anschaulichkeit ist, bei aller Skepsis, jetzt sehr beliebt; der geschichtliche Roman hat viel zur Grenzverwischung mitgewirkt. Auch die christlichen Leser sind verwöhnt; statt den Charakter der ehemaligen Zeugen teilnehmend aufzufassen und nach der Wahrheit ihres Zeugnisses zu fragen, lassen sie sich lieber durch die Spannung des neugierig Mitlebenden, des zu leidenschaftlichem Anteile Entflammten, des am Siege des streitbaren Redners sich Erfreuenden an- und aufregen. Mag die Form der psychologisierenden Romane in Briefform zurückgetreten sein; dafür haben wir die Biographien, die fast ganz aus Tagebüchern und Briefbruchstücken zusammengesetzt sind. Deshalb sieht man auch das Ferne gern in moderner Strahlenbrechung. „Homo sum“ – überall und zu aller Zeit derselbe Mensch, und nichts als er, wie er eben auch heute ist. Man wird an eine Aufsehen erregende Novelle denken. – Trotz dieser angedeuteten Bedenken könnte man sich den theologischen Versuch gefallen lassen, wenn er sich in seinen Schranken hält oder in sie weisen läßt; man könnte sein Unbehagen bei solchem getrosten Handhaben des edlen Bildestoffes um des Bedürfnisses der Zeit willen schweigend verschließen. Anders aber steht es, wenn nun – man verzeihe den scharfen Ausdruck! – die Christus-Novelle die Kanzel besteigt. Breite Ausführungen aus der Zeitgeschichte; scheinbar tiefe Blicke in das Seelenleben der Handelnden, unterstützt durch Erörterungen über den Abstand der Auffassungen von damals und jetzt; dichterisch zugestutzte Landschaftsbilder – das alles hält den Zuhörer bei den Sachen auf, welche im Grunde gleichgiltige Träger der Vorgänge sind und hält sie von der Sache, richtiger von der einzigen Person ab, die allein der Aufmerksamkeit wert ist, von der einzigen Person in ihrer unvergleichbaren Einzigkeit. Gewiß soll keiner Zeit verwehrt sein, ihre Zunge zu reden und ihre Art innezuhalten. Aber für die Botschaft, welche der evangelische Zeuge zu bestellen hat, sollte doch die keusche Art der ersten Zeugen maßgebend bleiben; auf unsern Kanzeln sollte nur ein Bemühen Platz finden, daß nämlich den Zuhörern eben diese alten, oft gehörten, „abgegriffenen“ Geschichten, gerade so wie sie vorliegen, doch frisch und wie zum erstenmale vernommen vor die Seele treten; daß einem jeden unabweislich sich einpräge, was diese Berichte ihm selbst zu sagen haben. Bei der rechten Vertiefung und bei einer allseitigen Ausschöpfung unsrer Evangelien ohne knechtische oder bequeme Bindung an die Perikopenordnung unsers Nordostens ist dabei gar keine Gefahr der Eintönigkeit zu besorgen; es wäre denn darunter das Durchschlagen jenes einen Grundtones verstanden, welches allerdings dabei unvermeidlich ist, aber auch an sich für jeden evangelischen Prediger Pflicht und letztes Ziel (Phil. 1,18). Man irrt, wenn man meint, es sei schon viel gewonnen, sobald nur die Aufmerksamkeit der Menschen auf Jesum gerichtet werde; das „Interesse“ wird hier leicht geradezu zum Hemmnis für das Aufmerken, nämlich das Interesse für das Altertum zum Hemmnis für die Schätzung des Wertes Christi für meine Gegenwart. Bei Fernstehenden wird es nicht weniger schädlich sein, als es das für sogenannte christliche Kreise ist, wenn Christus und das Evangelium zum Inhalte der Unterhaltung werden. Man wird sich als Prediger immer strenge darauf zu prüfen haben, wie man die Gefahr vermeidet, zu unterhalten statt das Evangelium zu bezeugen; Verstand und Urteil zu beschäftigen statt mit ausreichenden Mitteln die innerste Bewegung durchgreifender Entschließung zu unterstützen und dem geistlichen Leben nachhaltige Nahrung zuzuführen. Auch unter dem Vorwande, Bibelkenntnis zu fördern, kann geistliches, oder richtiger: ungeistliches Stroh gedroschen werden.

 

19) Gegen den Rat Lessings bei Asmus 3, S. 97.

 

20) D. Heinrich Hoffmann zu Halle in einer meines Wissens nicht gedruckten Predigt.

 

21) Ich meine hier vornehmlich W. Herrmann, Verkehr des Christen mit Gott 1886. Es wird der einzelnen Anführungen nicht bedürfen. Wiefern meine weiteren Bemerkungen nur Bestätigungen des dort Gesagten oder Abweichungen und etwa Ergänzungen enthalten, muß bei der Kürze dieser Erörterung dem Urteile der Leser überlassen bleiben. Es ist mir nur um die Klarstellung der Sache unter den mir erschlossenen Gesichtspunkten zu thun.

 

22) Die Behauptung, daß das 4. Evangelium einen Logosautomaten reden lasse, darf jetzt wohl als verschollen angesehen werden. Daß sie noch umgehe und sich wieder größerer Beliebtheit erfreuen werde, bin ich fern zu leugnen. Wem das „gesetzmäßige Geschehen“, die ,,biographische Durchsichtigkeit“ das Wichtigere ist, der wird schwerlich den oben behaupteten Eindruck empfangen. Dazu gehört ein Sinn, dem die äußeren Vorkommnisse nur Zeichen sind; der geneigt ist, die Person vor allem in ihrem sittlichen und frommen Zuge aufzufassen; der Bescheidung und Geduld genug hat, so zu sagen mit ihr zu leben und sich in sie in ihrer Eigenart hineinzuleben.

 

23) Oben ist nicht wieder auf die S. 9 erörterte Sündlosigkeit besonders hingewiesen; die Erwägung gehört aber durchaus in diesen Zusammenhang, wie ein Wirklichkeit atmendes Bild des Sündlosen gezeichnet werden konnte, wenn man es aus Dichtung ableiten will. Denn die Dichtung hat eben nur die Anschauung von sündigen Menschen; daher nimmt sie, wie sie auch geartet sei, ihre lebenvollsten Gegenstände. Die „ungemischten“, die idealisierten Charaktere der Dramen tadelt man mit Grund als unlebendige Gestalten.

 

24) Es ist sehr lehrreich nachzulesen, wie D. Strauß sich mit der Unvergleichlichkeit dieses Charakters auseinandersetzt, ohne daß es ihm beikäme, auch diese Schilderung unter die Mythen zu werfen, a. a. O. S. 206 f.

 

25) Pragmatismus bezeichnet ursprünglich den ursächlichen Zusammenhang der Ereignisse; im Unterschiede von einer ,,dogmatisierenden“ Betrachtung wird er im Leben Jesu sich auf die causae secundae richten. Daneben tritt dann neuerdings die Betonung der „Entwickelung seines Bewußtseins“. Und dazu paßt es dann, daß die Teilnahme weit überwiegend der Zeit bis an das letzte Passah heran gehört; bis dahin muß man werden sehen, was sich dann nur noch zu bewähren hat. Im Gegensatz zur altkirchlichen Betonung des ,,Werkes“ soll die ,,Person“ Jesu, eben in ihrer Entwickelung, heraustreten; die Reden kommen auch mehr als ,,Äußerungen“ und „Handlungen“ in Betracht, weniger als Belehrung des Volkes und der Seinen. Das alles scheint mir so ziemlich das Widerspiel dazu, wie sich das Sein Jesu in unsren neutestamentlichen Schriften abspiegelt. Etwas herausfordernd könnte man sie Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung nennen. Markus 8,27 bis 9,13 zeigt deutlich, wohin dem Erzähler der Ton fällt; Johannes ist mit dem 7. Kap. bei der letzten Anwesenheit in Judäa. Zieht man bei Matthäus die Kindheitsgeschichte und die drei Redesammlungen ab, sieben Kapitel, so ist das Verhältnis wie bei Markus. – Wenn Johannes eine Entwickelung darstellt, so dürfte es eher die des Glaubens und Unglaubens gegenüber Jesu, als die seine und diejenige seines Geschickes sein; der Gesichtspunkt bei der Auswahl und Ausführung der Streitreden ist doch gewiß nicht geschichtliche Genauigkeit. – Wie anders die Schätzung der Stoffe im Vergleiche mit den evangelischen Berichten wird, wenn man pragmatische Biographie schreibt, zeigt das Beispiel zweier „positiver“ Biographen Jesu. B. Weiß ist am Ende seines ersten Bandes etwa in der Mitte des 2. Kap. bei Markus, des 9. bei Matth., am Schluß von Joh. Kap. 4; das ist ein Dritteil seiner Darstellung. Das letzte Dritteil seiner Erzählung beginnt, wo Johannes mit dem 7. Kap. steht. Beyschlag kommt gegen die Hälfte seines Berichtes bis zur Aussendung der Zwölf. Der Passionsgeschichte widmet Weiß noch nicht anderthalb seiner sechs Bücher, Beyschlag zwei von siebzehn Kapiteln.

 

26) Man wird hiergegen den ,,Historiker“ Lukas aufführen; in seinem Gelingen stellen ihn seine Bearbeiter doch im Grunde nicht über die andern; seine Abweichungen, was den großen Gang betrifft, genießen, meine ich, keines sonderlichen Beifalls. Übrigens unterschätzt man, wie mir scheint, für die Feststellung seiner Absicht V. 4 des Prologes behufs rechten Verständnisses von V. 1.

 

27) An dem richtigen Griff Schenkels in dieser Bezeichnung braucht die Ausführung in seinem Buche nicht irre zu machen.

 

28) Bekanntlich faßt sich Jesus nie ohne weiteres mit den andern Menschen zusammen; nicht einmal Joh. 20,17. Namentlich ist auf die Äußerungen hinzuweisen, in denen er sich den Beruf als Retter aus der Sündennot beilegt, die Sündenvergebung ausdrücklich in göttlicher Vollmacht erteilt und die Richterstellung wie selbstverständlich beansprucht.

 

29) Besonders fruchtbar ist zur Förderung in dieser Einsicht die Beschäftigung mit W. Geß, Christi Person und Werk. – Wie viel Mißverständnis und vergeblich verwendete Kunst hätten die Biographen sich z.B. ersparen können, wenn sie es mit den Leidensankündigungen und dem „Wiederkunftsgedanken“ schlicht, wie sie ausgesprochen sind, ernst genommen hätten.

 

30) Treffliche Fingerzeige für diese Zusammenschau gibt Steinmeyer, Leidensgeschichte 1868.

 

31) Matth. 24. 25 mit den Parallelen.

 

32) Mark. 3,6 (Matth.12,39 f.); Mark. 8,31 f.; 9,9. 31; 10,32 f. und die Parallelen; Joh. 1,11. 29. 36; 2,19-22; 3,14-16; 6,53 f. u.s.w.

 

33) Wenn man in den einschlagenden Verhandlungen (z.B. Herrmann a. a. O. S. 185) kurzweg von dem Christus der Evangelien spricht, so erscheint mir das nicht richtig, nämlich einerseits zu unbestimmt, anderseits willkürlich. Zu unbestimmt; – gehört Johannes zu diesen Evangelien und wie weit? Willkürlich; – wenn das vierte Evangelium dazu gezählt wird, welch’ einen im voraus feststellbaren Vorzug mißt man ihm vor den Briefen zu und mit welchem Rechte? wenn aber auch nicht, wenn man unter Evangelien – gewiß willkürlich – bloß die Synoptiker versteht, wie will man diese Heraushebung geschichtlich rechtfertigen? Es ist nicht nur unerweisbar, sondern auch unwahrscheinlich, um nicht zu sagen undenkbar, daß diese Berichte irgendwo kirchenbildend gewirkt haben ohne vorangehende Predigt eines Dogma von Christo, einer Versicherung seines Heilswertes. Wo irgend gibt es in der Kirchengeschichte einen Beleg, daß eine undogmatische Erzählung von Jesu für ihn auch nur die Aufmerksamkeit gewonnen hätte! Ein Versuch, den man erst machen will, und zwar auf einem durch die Frage: „was dünket euch um Christo?“ längst aufgepflügten Boden, wird nicht als Beweistum gelten können. – Sollte aber „Christus der Evangelien“ nicht den thatsächlich von ihnen Geschilderten, sondern jenen hinter ihnen hervorzuholenden ,,historischen Jesus“ bezeichnen, so wäre die Bezeichnung mehr als mißverständlich. Im übrigen ist oben davon die Rede gewesen.

 

34) Vgl. oben S. 11 Anm. über die Sündlosigkeit Jesu.

 

35) Die Überlieferung zeigt teils ausdrückliches Unverständnis für seine Rede und sein Handeln (Mark. 4,10-13; 7,17 f.; 8,15 f. 32 f.; 9,9. 10. 32; Joh. 2,22; 14,5f.; 20,9), teils ein Zurückbleiben hinter seinem Sinne, bei dem von einem Eindringen in den Zug seines Wirkens noch nicht die Rede sein kann, und was namentlich zu bemerken ist, einen Mangel an dem Gefühl für sein Wollen und Können (Mark. 4,38 f.; 6,35 f.; 9,28.29 vgl. 17-19. 33f.; 10,13.26.27.28 f. 41f.; 14,4f. 32f.; Luk. 9,52f.; Jo.4,31 f.; 11,7f.; 13,6 f.; 16,12 f.; Luk. 24,25 f. 37 f. (vgl. Mark. 16,14).

 

36) Vgl. S. 5 Anm. 1.

 

37) Gal. 1,12 f. und daneben 1. Kor. 11,23 f. 15,1 f. 7,10 f. 9,14 u. s. w.

 

38) Gelänge es auch, die Herkunft des vierten Evangeliums von dem Sohne Zebedäi über alle Zweifel zu erheben, so wäre das Dunkel nicht gelichtet; wie hat von Levi-Matthäus oder von Petrus und Johannes-Markus jene einseitige Schilderung ausgehen können, die uns vorliegt? Keinenfalls ist es eines der ersten Anliegen seiner Zeugen gewesen, ein maßgebendes Urbild berichtender Verkündigung von seiner Person zu entwerfen und dem Gedächtnis einzuprägen oder einer Handschrift einzuverleiben. Wir mögen ihnen dafür dankbar sein; unsre theologische Litteratur gibt uns ja die Beispiele, was harmonisierende oder kritisierende, verknüpfende und erklärende Kunst beim besten Willen und mit ehrerbietiger Liebe doch aus diesem Bilde zu machen vermag.

 

39) Ranke, Die römischen Päpste 3. A. 1 S. 5.

 

40) Lukas will nachgeforscht haben; er hat von der Entwickelungszeit nichts erfahren können. In den Kindheitsgeschichten ist doch auf alle Fälle Jesus der Gegenstand und nicht der Träger der Vorgänge. Übrigens haben diese Berichte den Psychologen das Verständnis der menschlichen Entwickelung Jesu nie erleichtert, vielmehr so erschwert, daß man sie im Namen der Psychologie oder Pädagogik entweder beseitigte oder wesentlich umgestaltete.

 

41) Es sei gestattet, hier auf meine „Wissenschaft der christlichen Lehre“ S. 351 f. (Soteriologie 1. St.) zu verweisen.

 

42) Und eben das sagt uns der ergreifende Eingang der Leidensgeschichte Joh. 13,1, wenn man ihn liest im Blick auf 15,13; 18,8.9. – Es ist auch mit andern Zügen ebenso. Den Gehorsam, der unsers Heiles Wurzel ist (Röm. 5,19), mißt Paulus an dem „bis zum Tode am Kreuz“; daß das jener gottgefällige Gehorsam sei, dafür findet er den Beleg in der Erhöhung und ihrem Bekenntnis (Phil. 2,5-11).