BRIEFE AN ANDRES - VOM GEWISSEN
ERSTER BRIEF
Ja wohl, lieber Andres, ist mir Deine Korrespondenz über das Gewissen will-kommen. Ich wechsle gern Wort mit Dir und am liebsten über Dinge, die Freund und Feind angehen. Schreibe nur oft und viel, und ich will Dir antworten, so gut ich kann. Wenn wir auch über diese Materie nicht viel Neues schreiben und antworten können; so kommt doch das Alte, was wir und alle Menschen davon wissen, bei der Gelegenheit in Umlauf und Bewegung. Und das kann für uns nicht ohne Nutzen abgehen. Natürlich werden bei dieser Korrespondenz Fälle vorkommen, wo nicht gehehlt werden kann, und des Herzens Grund an Tag muss. Doch Du kennst bei mir schon Hausgelegenheit, und ich will mich nicht schämen, Dich die zerbrochenen Töpfe wieder sehen zu lassen. Ich erwarte denn Deine Briefe.
ZWEITER BRIEF
Freilich gehört wohl das Wort Gewissen in die Klasse der Worte, von denen unser Freund „Pascal“ sagt, dass ein jeder ihre Bedeutung von Natur wisse und durch Erklärung auch nicht mehr davon erfahren könne. Indes kann doch eins und anders zur Erklärung versucht werden. Alles Gewissen ist Bewusstsein; aber alles Bewusstsein ist noch nicht Gewissen. Es gibt kein Gewissen ohne den Baum des Erkenntnis Gutes und Böses. So kann man von einem Engel des Himmel nicht sagen, dass er Gewissen habe; denn er kennt nur ein Gesetz, das Gesetz des Guten. Selbst von Gott kann man es nicht sagen. Gott kennt zwar das Böse; aber es besteht nicht vor ihm, und er hat eine Wagenburg um sich her, dadurch es in Schranken gehalten und alle Gemeinschaft mit ihm abgeschnitten wird.
Nur der Mensch hat zwei Gesetze in sich, eins, wie Paulus sagt, „im Gemüt“, und eins „in den Gliedern“; das eine: der inwendige Mensch, oder das verständige Gesetz, das in sich unbeweglich ist und „Lust hat an dem Unbeweglichen, dem Unsichtbaren, dem Unvergänglichen“, und das andere: das sinnliche Gesetz, das in sich beweglich ist, und dem Beweglichen, dem Sichtbaren, dem Vergänglichen anhangt und nichts „vernimmt vom Geiste Gottes“.
Wie Feuer und Wasser, so lange sie in ihrer Natur bleiben, unverträglich sind: so sind es zwei Gesetze im Menschen. Und darum ist der Mensch vom Weibe ge-boren innerlich im Streit, und ist kein Friede in seinen Gebeinen; denn er soll Herr sein des sinnlichen Gesetzes und nicht Knecht; und er weiß, wie ihm zu Mute ist. Das Bewusstsein dieser Knechtschaft ist böses Gewissen überhaupt. Gutes Ge-wissen ist Bewusstsein dieser Nicht-Knechtschaft und liegt in der Mitte zwischen bösem Gewissen und der Freiheit, oder der Herstellung des Menschen. Doch dies alles sind nur Worte, und der Mensch fühlt am besten, was Gewissen ist. Wenn er es nicht fühlt, desto schlimmer für ihn. Zu seiner Zeit hat das Gewissen notwendig in ihm gestammelt, und war es in seiner Gewalt, ihm die Zunge zu lösen oder zu lähmen. Denn wenn ein Mensch auf die Bewegungen seiner bessern Natur nicht achtet, oder wenn er der geringern die volle Gewalt lässt; so spricht das Gewissen nach und nach leiser und schweigt endlich gar. Doch schweigt es nur und wacht einmal plötzlich und schrecklich wieder auf.
Im Herbst ist die Witterung unruhig, im Winter ist sie ruhiger, wann nämlich und weil nun die Kälte einmal die Oberhand über die Wärme erhalten hat. Aber die Wärme ist keineswegs vernichtet; sie schläft nur und stößt, wenn sie plötzlich von der Sonne geweckt wird, die Kälte desto gewaltsamer von sich. Der Bösewicht kann seinem Schicksal nicht entgehen. Das Gewissen hängt an seinem Wesen und folgt ihm aus einer Welt in die andre. Und bis es erwacht, ahndet und nagt ihn immer, was ihm bevorsteht.
Cromwell und seine Gefährten schäkerten über den Königsmord und machten einander beim Unterschreiben des Todesurteils schwarze Bärte. Aber ihn ahnde-te doch in der Folge nichts Gutes: er schlief zuletzt keine zwei Nächte hinter einander in demselben Bette und Zimmer; und wir sind nicht dabei gewesen, als ihm jenseits widerfuhr, was ihm diesseits ahndete.
Die heilige Schrift lehrt und bestätigt auch das plötzliche und schreckliche Erwa-chen eines bösen Gewissens. Aber wie sie überhaupt unterrichtet, nicht sowohl durch Lehrsätze, als durch Geschichte und Facta, die kräftiger wirken und mehr zu Herzen gehen; so auch hier. Nimm nur gleich, was sie vom Judas, dem Ver-räter, erzählt, als ihm über das, was er getan hatte, die Augen aufgingen. Er lief in der Angst seines Herzens umher, suchte Trost im Tempel, gestand und be-kannte den Hohenpriestern und Ältesten, dass er unschuldig Blut verraten habe, brachte ihnen die Silberlinge wieder und warf sie, als die Buben sie nicht an-nehmen wollten, von sich hin in den Tempel, um ihrer nur los zu sein, ob ihm das vielleicht Linderung schaffen könnte. Aber es schaffte ihm keine, und er verließ den Tempel eben so trostlos wieder und ging wieder hin, wo er hergekommen war. – Und als er nirgends Trost fand und sich nicht länger ertragen konnte, griff er zum Strick und erhenkte sich. Und er ist mitten entzwei geborsten und alle seine Eingeweide ausgeschüttet, ob vielleicht die nun in ihm eingeschlossene Angst ihm den Leib gesprengt hat, oder eine andere und gewöhnliche Ursache. Denn die Evangelisten erzählen in ihrer Geschichte diesen Vorgang nicht, und Petrus führt ihn nur kurz und beiläufig an.
DRITTER BRIEF
Du hast Recht, Andres, die Frage: wie ein gutes Gewissen möglich sei, ist so leicht nicht beantwortet; und je länger man darüber nachdenkt, desto schwerer und schwieriger wird das Antworten. Mancher spricht von einem guten Gewissen, wenn er sich keiner Schand- und Freveltat bewusst ist. Aber das gute Gewissen hängt nicht sowohl mit einzelnen Handlungen, als mit der ganzen inwendigen Gestalt und Verfassung des Menschen zusammen.
Adam war zum Bild Gottes erschaffen, und sein Gesetz war: Gott anzuhangen, und ihn über alles zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen. Als er seine Freiheit missbrauchte und etwas anderm mehr anhing und vertraute, ward er dem sinn-lichen Gesetz unterworfen. – Und „er zeugte Söhne und Töchter, die seinem Bilde ähnlich waren“. In dieser Verfassung des Menschen aber, wo er nämlich dem sinnlichen Gesetz unterworfen und untertan ist, in dieser Verfassung ist ein jeder Akt, in Gedanken, Worten und Werken, dem bessern Gesetz in ihm zuwider und entgegen und macht also böses Gewissen. Wie ist denn ein gutes möglich, und wie kann es bei ihm statthaben?
VIERTER BRIEF
Allerdings! „Es ist nichts Verdammliches an denen, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.“ Aber so wandeln nur, und so können nur die wandeln, die, wie Paulus sagt, „der lebendige Geist in Christo Jesu frei gemacht hat von dem Gesetz der Sünde und des Todes“, die also wirklich hergestellt sind. Dahin kann der Mensch kommen; und dazu ist er auf Erden. Aber dahin kommen wenige!
Die Menschen bekümmern sich nicht immer um das bessere Gesetz, und auch die sich darum bekümmern und sich angelegen sein lassen, durch den Geist des Fleisches Geschäfte zu töten, auch die sind nicht los von dem Gesetz des Sünde und des Todes und sind nicht geistlich gesinnt.
Man glaubt wohl in gewissen Augenblicken geistlich gesinnt zu sein und nur das Unsichtbare lieb zu haben; aber die Täuschung währt nicht lange, und man wird bald wieder inne, dass man eigentlich das Sichtbare und Zeitliche meine. Wie denn Rat zu einem guten Gewissen? – Andres, für die Gesunden und Starken ist kein Rat, denn die Gerechtigkeit Gottes ist unerbittlich. Aber für die Kranken.
Moses, nachdem er „Himmel und Erde über das Volk zu Zeugen gerufen und ihnen geweissaget hatte, wie sie, wenn sie des Herrn vergäßen, unter die Völker zerstreuet werden, ein geringer Pöbel unter den Heiden sein und den Göttern dienen würden, die Menschenhändewerk sind, Holz und Stein, die weder sehen noch hören“, fährt so fort: „Wenn du aber daselbst den Herrn, deinen Gott, suchen wirst, so wirst du ihn finden, wo du ihn wirst von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen. – Denn der Herr, Dein Gott, ist barmherzig und wird dich nicht lassen noch verderben.“ Als Adam gefallen war und „sich mit seinem Weibe vor dem Angesichte Gottes, des Herrn, unter die Bäume im Garten versteckte“, ließ Gott sich seine Furcht und Reue rühren und versprach ihm, in seinem Ver-fall, den Helfer, der ihn herstellen sollte. Als „der verlorne Sohn in sich schlug und sich aufmachte zu seinem Vater zu gehen, sahe ihn der Vater, als er noch ferne war, jammerte ihn, lief, fiel ihm um den Hals, und küssete ihn“.
Sieh, Andres, da, und da allein, öffnet sich Aussicht zu einem guten Gewissen für uns und für alle, die noch nicht hergestellet, sondern nur auf dem Wege zur Herstellung begriffen sind. Der Sklave kann sich seiner Kette nicht ledigen; aber er kann unter der Kette in sich schlagen und zum Vater gehen wollen. Nur das ernstliche In-sich-schlagen, das Aufrichtig-zum-Vater-gehen-wollen steht dem Menschen nicht so zu Gebot. Joh. 6,44. Dieser reine Sinn liegt im Herzen eines jedweden Menschen; und das Bewegliche kann durch das Unbewegliche über-wunden und getötet werden; aber der Brunn ist tief, und das Schöpfen ist kein leichtes und geringes Werk. Indes konnte der Mensch in einer für ihn so wichti-gen Angelegenheit nicht untätig bleiben. Sein Wesen trieb ihn unwiderstehlich, sich nach Hülfe umzusehen und umzutun.
Religion allein weiß hier von Hülfe. Und da alle Religionen von einer abstammen, mittelbar oder unmittelbar, mehr oder weniger verstellt: so ist es kein Wunder, dass in diesem Felde alle Tätigkeit der Menschen sich auf Religion bezieht, und alle ihre Einrichtungen und Anstalten in diesem Stück religiösen Charakter, fast durchgehends, an sich haben. Zeno und seine Schule möchten etwa eine Aus-nahme machen; denn Pythagoras hatte auch in religiösen Quellen geschöpft. Doch, wie dem sei, die Menschen konnten in einer für sie so wichtigen Angele-genheit nicht untätig bleiben. Und zwar bedurfte es hier vor der Hand keiner gelehrten und tiefsinnigen Anleitung. Ein jedweder fühlte offenbar in sich, dass „die fleischlichen Lüste wider die Seele streiten“, dass das sinnliche Gesetz dem verständigen Gesetz in ihm widerstehe. Auch dachte und hoffte er vielleicht, dass durch Schwächung des Widerstandes die Kraft sich heben, und jener reine Sinn zum Vorschein kommen würde, und griff zum Werk.
Und so wurden denn je und immer Gymnosophisten, Jammabos, Stoiker, Mön-che, Eremiten, Asketen, Therapeuten, Styliten usw. Der Weg von innen heraus war nicht bekannt, und so suchte der Mensch von außen hinein, und versuchte seine Kräfte.
Es ist sehr interessant, die Geschichte dieser Versuche, die zu allen Zeiten und unter allen Völkern gemacht worden sind, zu studieren; zu sehen, wie die Men-schen auf so mancherlei Weise am Schloss gedrückt und gekehrt haben, bald mit mehr Besonnenheit und Überlegung, bald mit weniger; aber doch immer in einer Angelegenheit, die uns näher angeht, als manche Dinge, die hoch und weit berühmt sind. Und ich erkenne Dich ganz, Andres, dass Du Dich nicht irren lässt, und Ernst dem Kurzweil vorziehst.
Sprich denn immer mit mir von diesen Dingen. Ich bin auch nicht aufgeklärt und suchte auch lieber die Wahrheit in Wüsten und Einöden, als bei den Sophisten. Ich höre auch gerne die Jammabos auf dem Fusi und Fikoosan in der Einsamkeit klingeln; menschliche Stärke und menschliche Schwäche sind immer rührend und lehrreich. Ich will Dir denn folgen, wie Du in Deinen Briefen vorangehst. Deine Erfahrung, dass ein Entschluss, der Dir sonst Mühe machte, Dir nach einem Besuche im Krankenhause leicht geworden, ist sehr richtig und wahr. Es geht andern Leuten auch so; und darum suchen ernsthafte Gemüter oft, und sonderlich wenn sie mit einer Neigung nicht fertig werden können, solche und ähnliche Eindrücke; und darum sagt die heilige Schrift, dass es besser sei, ins Klag-Haus als ins Lach-Haus zu gehen. Man weiß freilich wohl, dass die Welt ein Jammertal, und dass darin des Leidens aller Art kein Ende ist; aber der sinnliche Eindruck wirkt gar anders und macht eine Überzeugung, die man vorher nicht kannte. Wie denn überhaupt unsere Einsichten und Begriffe allererst eigentliche Einsichten und Begriffe werden, wenn die eigne Erfahrung hinzukommt.
Was Du bei dem Vor- und Fortrücken in dem Kampf gegen sich selbst vor-schlägst, ist nicht für die Anfänger. Die haben vor der Hand zu arbeiten, dass sie sich nur zum Stehen bringen, und das Geringere das Bessere nicht mit sich fortreiße. Denn wie die Eva, als sie sich mit der Schlange in ein Pro und Contra einließ, verloren war, und wie alle Menschen, wenn sie sich mit Fleisch und Blut einlassen und besprechen, so gut als verloren sind: so ist auf der andern Seite viel für sie gewonnen, wenn sie nur ihre sinnliche Natur in kritischen Augen-blicken anhalten können und zum Stehen bringen, um mit der bessern Natur in Unterhandlung zu treten.
Ich besinne mich bei der Gelegenheit eines Griffs, den Du mir vor Jahren em-pfohlen hast: – wenn man von jemand etwas haben, ihn zu etwas bereden will, so verdirbt man oft die Sache, wenn man ihm geradezu und mit Gewalt auf den Leib rückt. Die ganze Natur widersteht dem Druck und bäumt sich dagegen. So bäumt sich der Mensch auch gegen Gewalt, und es gelingt oft viel leichter und besser, wenn man ihm von der Seite kommt, ihn mit Glimpf, guter Wendung, Vertröstung etc. umgeht. – Dies, meintest Du, sollte man auch bei sich selbst anwenden. Und es tut in gewissen Fällen wirklich gute Dienste, sonderlich dem augenblicklichen Ausbruch zu wehren, auch böse Gewohnheiten abzulegen etc. Gründlich heilen tut es freilich nicht; aber es kann als ein Opiat dienen, bis die Kräfte sich gesammelt haben. – Nun zu Deinem Briefe von gestern.
Du scheinst ein großer Freund der vorläufigen Maßregeln zu sein und nimmst die Leute in Deinen besondern Schutz, die alle Vorfälle im Leben, die kommen könnten, sorgfältig berechnen und sich einen umständlichen Plan machen, wie sie sich in jedem vorkommenden Fall benehmen, und was sie tun und lassen wollen. Ich kann Dir das nicht tadeln. Der sinnliche Eindruck, sonderlich wenn er unerwartet und unvorhergesehen kommt, ist sehr gefährlich; und es ist löblich und wohlgetan, sich darauf zu rüsten und einen Plan zu machen. Aber ausge-richtet ist es damit nicht. Ein solcher Plan wird zu Hause und fern vom Feinde gemacht, wo die Ausführung nicht so schwer dünkt. Aber im Felde und vor dem Feind ist es anders. Da wird der Plan verrückt, und das macht missmutig, und weil es wieder und wieder kommt, zuletzt niedergeschlagen und scheu vor Gott. Und das ist misslich und kann von ihm entfernen.
Du meinst zwar, man sollte die Saiten nicht gleich zu hoch spannen und mit dem, was man bestreiten kann, anfangen und nach und nach steigen. Das ist nun wohl sehr wahr; aber bei vielen ist das nach und nach nicht angebracht, und Minerva, als sie den Telemachus von der Calypso losmachen wollte, machte es anders und stürzte ihn von dem Felsen ins Meer. So haben auch die gedacht, die über ihren sinnlichen Menschen den Stab gebrochen und allem sinnlichen Genuss auf immer entsagt haben. Dem und jenem Genuss entsagt man wohl, wenn die Tür zu andern offen bleibt, oder wenigstens eine Zeit bestimmt ist; aber allem und auf immer, das kann nicht ein jeder.
Es ist zwar der Welt Sitte, diese Leute und überhaupt alle Ordensstifter und Ordensbrüder kurz und gut zu verachten und zu verdammen und sie der Schwärmerei, der Eitelkeit, des Unsinns etc. zu schuldigen. Auch ist nicht ohne, dass bei vielen von ihnen dergleichen mit eingeflossen ist, und dass Menschen-kenntnis und Vorsicht bei der Aufnahme den meisten viele Mühe hätten ersparen können und ersparen sollen. Aber Leichtgläubigkeit und überspannte Erwartung an der einen Seite, und Nachgiebigkeit, Eile und Proselytensucht an der andern sind dem Menschen natürlich. Und welche Gesellschaft, selbst die christliche von Anfang an nicht ausgenommen, hätte diese Fehler nicht gemacht und dadurch ihren Verfall bereitet! Wer so etwas unternimmt und nicht einen entschiedenen Trieb in sich hat und zu erhalten weiß, der bringt notwendig sich und andre in Verlegenheit und kann nichts anders als Unordnung, Unfug und Unwesen daraus kommen, wie die Erfahrung auch hinlänglich gelehrt und bestätigt hat. Und hier kann es allerdings nützlich und nötig werden, dass eine weise Regierung zutrete. Denn wenn der Trieb durch die Mühen und Verleugnungen herbeigeführt und geschafft werden soll, so ist die Sache misslich und gerät selten. Führt aber der Trieb die Mühen und Verleugnungen herbei, dass sie also mit Lust und Liebe getan werden, so gerät es besser. Der Trieb ist's, der Hunger und Durst nach Gott; „die Werke verzehren sich unter Händen“. Dagegen liegt es am Tage, was ein solcher Hunger und Durst ausrichten und zu Wege bringen kann, und was er in allen Zeiten und unter allen Völkern ausgerichtet und zu Wege gebracht hat. Freilich nur selten, denn die wahren Heiligen sind die Diamanten gegen die unge-heure Menge Feldsteine. Eigentlich soll niemand einen Orden zur Herstellung anderer Menschen stiften, als der selbst hergestellt ist und also seine Genossen in Wahrheit fördern kann. Und von einem solchen gebührt uns nicht zu richten und zu reden. Doch wer möchte alle andre Ordenstifter geradezu verachten und verdammen? Mögen sie auch unbesonnen und überspannt zu Werk gegangen sein. Der Most gärt und braust und schäumt auch, ehe er Wein wird. Und haben denn andre Menschen, Philosophen und Nicht-Philosophen, sich immer be-sonnen, und nimmer überspannt, oder vielmehr, haben sie sich nicht oft be-sonnen und umgespannt? Zwar viele, die verachten und verdammen, meinen es so böse nicht; sie sprechen nur nach, weil sie sich schämen, weniger als andre zu sein. Wer dieser Scham abgestorben ist, wer nichts ist, und nichts sein will, der gibt sich preis um Nutzens willen, ist billig und kehrt zum Besten.
FÜNFTER BRIEF
„Die Speise fördert uns freilich nicht vor Gott. Essen wir, so werden wir darum nicht besser sein; essen wir nicht, so werden wir darum nicht geringer sein.“ Aber Gott gebraucht oft äußere Umstände, auf bessern Weg zu bringen, und be-günstigt durch Fügung solcher Umstände einen Menschen vor dem andern. Wenn nun einer, der gerne hergestellt wäre, das siehet und hört, ihm aber in dem gewöhnlichen Leben ein Tag nach dem andern hingeht, ohne dass er dem Ziel näher käme; wenn er in der heiligen Schrift liest, dass die „Christo angehören, ihr Fleisch kreuzigen, samt den Lüsten und Begierden“; dass „wer am Leibe leidet, aufhöre von Sünden“; dass „Kreuz zu Gott führe“ usw., ihm aber kein Kreuz kommen will; so war es ihm doch zu vergeben, wenn er, anstatt die Fügungen Gottes abzuwarten, selbst fügen und Strenge gegen sich versuchen und fasten und beten wollte.
Viele Leute, Andres, verwerfen alles Fasten; aber darum ist es noch nicht ver-worfen. Man verwirft gar leicht, was man nicht mag, und Missbrauch hängt sich allenthalben an. Immer mäßig sein, sagen sie, ist besser als bisweilen fasten. Das mag wohl wahr sein. Da aber die meisten Menschen immer nicht mäßig sind, so ist es doch nicht übel, bisweilen sehen zu lassen, wer Herr im Hause ist, und zu erfahren, was sich etwa, während einer solchen Interimsregierung, Neues darin ereignet. Auch ist der Mensch oft in Gefahr und auf dem Wege, übermütig und mutwillig zu werden. Einem solchen nun ist es nötig und nützlich, irgend einen Stein auf dem Herzen zu haben. Und, wenn der liebe Gott das Schiff nicht befrachtet, so muss man Ballast einnehmen. Es segelt sich besser und sicherer. Wie oft enthält sich ein Grübler, wie Newton, um seinen Betrachtungen besser nachhängen zu können und darin weniger gestört zu werden. Warum sollte denn ein anderer sich nicht enthalten, um seiner Betrachtungen willen, die doch auch vielleicht nicht zu verachten sind? Im Essen oder Nicht-essen kann freilich nichts liegen, das begreift sich ohne sonderlichen Aufwand von Tief- und Scharfsinn, und ein vorgeschriebener Fasttag, der halb und mit Unlust und Widerwillen ge-halten wird, kann freilich keine Wunderdinge wirken. Aber die Priester und Regierungen aller Zeiten und Länder verordnen doch solche Fasttage. Und gewöhnlich, welches sonderbar genug ist, gehen strenge Fasten und Klage vor einem fröhlichen Feste vorher, wie bei den Juden die lange Nacht vor der Laub-rüst, bei den Türken der Ramadan vor dem Bairam, bei den alten Syrern die Planctus und Ejulatus vor den Tripudiis am Adonisfest usw. Die Stifter müssen doch dazu ihre Ursachen gehabt haben, auch etwa dergleichen Tage, nach Vorschrift gehalten, nötig und nützlich gefunden und gute Folgen davon erwartet haben. Die heilige Schrift führt auch mehrere Exempel an, wo gute Folgen damit verbunden werden. Und Christus selbst schreibt die Art und Weise, wie gefastet werden soll, umständlich vor und legt dem Fasten und Beten eine besondere Kraft bei.
Nun konnte, um wieder auf unsere Sonderlinge zu kommen, ein Mensch aller-dings auch unter Menschen Strenge gegen sich versuchen und in seinem Hause und bei seinem Herd fasten und beten. Wenn er aber glaubte und überzeugt war, dass die Herstellung in der Einsamkeit und Entfernung von der Welt leichter sei und weniger Schwierigkeiten habe; wenn er „zuvor saß und die Kosten über-schlug, ob er's habe, hinauszuführen“, und denn durch Verleugnung aller Art versuchte, die geringere Natur in sich zu unterdrücken und die bessere zu heben: so sollte man ihn doch nicht verachtet haben. Wenigstens hätte man solche Leute doch ehren sollen, als die eigentlichen Pfleger und Förderer der prakti-schen Psychologie, deren ernsthafte Versuche und Erfahrungen andre Resultate und andern Bescheid versprechen und geben können, als die Tischreden der Philosophen. Mangel und Entbehrung stehen überhaupt dem Menschen besser an, als Überfluss und Fülle. Je weniger der Mensch braucht, sagt Sokrates, desto näher ist er den Göttern. Und es gibt Gedanken und Empfindungen, die auf fettem Boden nicht wachsen.
Auf der andern Seite ist bei diesen Wegen, wenn sie nicht zum Ziel führen, große Gefahr, dass sie verdienstsüchtig und eingebildet machen. Die Natur will nicht umsonst arbeiten und gearbeitet haben, und das nicht allein bei den Einfältigen und Unaufgeklärten, sondern auch, und eben so, bei den Klugen und Aufgeklär-ten. Dies mag auch der Fall und Fehler bei den Stoikern gewesen sein. Ihre Gesinnungen und Taten waren kühn und trefflich, die Opfer groß, die sie auf ihren philosophischen Altar brachten; aber sie wollten das Feuer dazu mit ihrem Stahl und Stein anschlagen; sie wollten sich selbst helfen und geholfen haben, und das kann nicht gelingen. Indes, ob sie sich gleich hierin irreten, griffen sie doch die Sache beim rechten Ende an. Sie ließen sich's doch Ernst sein und kosten. Sie stiegen doch zu Pferde und Wagen, oder machten sich zu Fuß auf den Weg, um ins gelobte Land zu kommen, wenn andere es sich bequemer machten und sich, ohne von ihrem Lehnstuhl aufzustehen, hineinspekulieren wollen.
SECHSTER BRIEF
Grade das ist auch meine Meinung, Andres. Alle Wege, die zu etwas ernsthaftem führen, sind nicht gebahnt und lustig; und so gehe ein jeder den Weg, der ihm am meisten frommet. Ein jeder ist sich selbst der Nächste und muss selbst für sich antworten, was gehen ihn andre Leute an? Darum gehe ein jeder seinen Weg und tue, was ihm am meisten frommet.
Ich für meinen Teil, Andres, ich finde meine Rechnung bei dem vorläufigen Plan-machen und der ängstlichen Geschäftigkeit nicht. Mir tut ein stiller gehaltener Wunsch die besten Dienste. Und darum mache ich über die Fälle, die kommen könnten, die Augen lieber zu und hasse nur immer das Böse und entsage, nach Luther's kräftiger Taufformel, dem Teufel und allen seinen Werken und allem seinem Wesen, um so in mir dem Bösen überhaupt zu wehren und Abbruch zu tun. Wenn dem großen Strom sein Wasser geschmälert wird, so vertrocknen die kleinen Bäche, die aus ihm abfließen, von selbst. Und kommen denn die einzel-nen Fälle, so bestehe ich sie, so gut ich kann. Und geht es denn, wie es nicht gehen sollte, so grämt mich das. Aber ich zerreiße mich nicht und lasse fünf grade sein.
Dies ist nicht so gemeint, als ob man sich gehen lassen und nicht streiten und widerstehen solle. Man soll freilich widerstehen, „bis auf's Blut“, sagt die heilige Schrift. Nur man soll von sich nichts erwarten, keinen Gefallen an der Stärke seines Rosses haben, nicht stark sein wollen und lieber „stark sein, wenn man schwach ist“. Wer sich vollkommen und ohne Sünde glaubt, der trotzt der Wahr-heit, und „die Huren und Zöllner mögen eher ins Himmelreich kommen“. Wer aber „an seine Brust schlägt“ und auch „die Augen nicht aufheben mag gen Himmel“, der gibt ihr die Ehre und bereitet ihr den Weg.
Demut ist der Grundstein alles Guten, und Gott bauet auf keinen andern. Wir haben gesündiget, wir sind Fleisch und Blut; das müssen wir wissen und nicht aus dem Auge verlieren. Unsere „Untugenden scheiden uns und Gott von einander“, und unser schwacher toter Wille kann, sich selbst gelassen, die Kluft, die dadurch zwischen Gott und uns befestiget ist, nicht durchbrechen und Bahn zu ihm machen. Er kann nur wünschen, nur wünschen und hoffen. Wem Gott den Willen lebendig macht, der hat's umsonst; wir andern müssen durch innerliche Tätigkeit Rat suchen und unsern Willen stärken und üben. Denn nur im Willen ist Rat und sonst nirgends. Ein jedweder hat wohl seine Art, den Willen zu stärken und zu üben. Doch ist allen Ernst und Entschlossenheit not; denn die sinnliche Natur, die bei allen im Wege steht, ist schwer zu überwinden. Ihr wachsen für einen abgehauenen Kopf drei andre wieder; und der Mensch ist ihr Freund und redet ihr immer das Wort und ist behende und schlau, Künste und Auswege zu finden, um sie zu retten.
Zum Exempel, wenn eine Neigung in uns aufsteht, und man es fühlt und weiß, dass diese Neigung dem bessern Gesetz in uns Gewalt tut, und dass sie mit ihm unverträglich ist; so will man sich auf diese Unverträglichkeit nicht einlassen und sucht beide Kräfte mit Entschuldigungen und guten Worten hinzuhalten, dass sie sich nicht unmittelbar berühren und an einander kommen. Der Weichling fürchtet Entscheidung und fliehet deswegen den Kampf. Man soll aber Entscheidung wollen und in seiner Kammer, oder Nachts auf seinem Lager, die zwei feindlichen Kräfte an einander bringen und sie in seinem Herzen gleichsam cohibieren und sich so lange mit einander bewegen und mit einander ringen lassen, bis man sich aufrichtig bewusst ist, dass das bessere Gesetz die Oberhand erhalten habe und unsre wahre Meinung und unser wahrer Sinn sei.
Mit diesem ersten Sieg ist vieles, aber nicht alles gewonnen. Dieser Sinn wankt wieder und trübt sich wieder; aber er muss täglich und bei einem jeden Anlass wieder errungen und wieder gefasst werden, so oft und so lange, bis er in unserm Inwendigen einheimisch geworden und so fest und beständig ist, wie in dem Inwendigen einer Eiche der Trieb zu wachsen, den Wind und Wetter und andre äußerliche Zufälle und Umstände hindern und stören, aber, so lange die Eiche steht, nicht vertilgen können.
Wenn der Mensch das hat, wenn er mit Wahrheit sagen kann: „ich will mir selbst nicht leben; ich hätte gern das Hohe und Gute; wenn mir das aber nicht beschie-den ist, das Niedrige und Böse will ich nicht; Knecht will ich nicht sein“ – wenn der Mensch das zu jeder Zeit mit Wahrheit sagen kann: so ist er dem guten Gewissen nahe, bis auf die im vorigen Leben begangenen Fehltritte und Ver-gehungen mit ihren Folgen, bis auf die geschehene Beleidigung Gottes, die nicht ungeschehen gemacht werden kann.
Wenn wir nur einen rechtlichen Menschen beleidigt haben, so ist er beleidigt, und ein zartes Gemüt kann es nicht vergessen. Reue und Zeit heilen wohl die Wun-de; aber die Narbe bleibt und fordert noch immer etwas von uns. Was denn jene Beleidigung! – „Für die Gesunden und Starken ist kein Rat, denn die Gerechtig-keit Gottes ist unerbittlich.“ – Aber für die Kranken hat Gott hinter ihrem Rücken Gedanken des Friedens gehabt und durch ein kündlich großes Geheimnis seine Gerechtigkeit in seine Liebe eingewickelt. – Die Ehebrecherin ward nicht ver-dammt, und die große Sünderin durfte seine Füße küssen. In Summa, mit jenem Sinn im Herzen und im Glauben an den Stiller unseres Haders kann der Mensch, ohne hergestellt zu sein, ein gutes Gewissen haben und ruhig abwarten, dass ihm vom Himmel gegeben werde, was sich der Mensch nicht nehmen kann.
SIEBENTER BRIEF
Nun, lieber Andres, Du kennst das Glück eines guten Gewissens; und will's Gott, sind außer Dir noch viele, die dies Glück kennen und es heimlich genießen, ohne dass andre Leute davon wissen. Denn ein gutes Gewissen im Menschen ist wie ein Edelstein im Kiesel. Er ist wirklich darin; aber Du siehst nur den Kiesel, und der Edelstein bekümmert sich um Dich nicht.
Mir wird allemal wohl, wenn ich einen Menschen finde, der dem Lärm und dem Geräusch immer so aus dem Wege geht und gern allein ist. Der, denke ich denn, hat wohl ein gutes Gewissen; er lässt die schnöden Linsengerichte stehen und geht vorüber, um bei sich einzukehren, wo er bessere Kost hat und seinen Tisch immer gedeckt findet. Wehe den Menschen, die nach Zerstreuung haschen müssen, um sich einigermaßen aufrecht zu erhalten!
Doch wehe siebenmal den Unglücklichen, die Zerstreuung und Geschäftigkeit suchen müssen, um sich selbst aus dem Wege zu gehen! Sie fürchten, allein zu sein; denn in der Einsamkeit und Stille rührt sich der Wurm, der nicht stirbt, wie sich die Tiere des Waldes in der Nacht rühren und auf Raub ausgehen. Aber selig ist der Mensch, der mit sich selbst in Frieden ist und unter allen Umständen frei und unerschrocken auf und um sich sehen kann! Es gibt auf Erden kein größer Glück. Andres! – Wer doch sich und andre darnach recht lüstern machen könnte!