Dordrecht - Erwählung und Verwerfung

 

Die Lehrregel von Dordrecht (1619) über Gottes Erwählen und Verwerfen:

 

ERSTES LEHRSTÜCK:

VON DER GÖTTLICHEN ERWÄHLUNG UND VERWERFUNG

 

ARTIKEL 1

Da alle Menschen in Adam gesündigt haben und des Fluches und ewigen Todes schuldig geworden sind, würde Gott niemandem Unrecht getan haben, wenn er das ganze Menschengeschlecht in Sünde und Fluch hätte lassen und wegen der Sünde verdammen wollen, nach diesen Aussprüchen des Apostels: Die ganze Welt ist vor Gott schuldig. Sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den die bei Gott haben sollten. Und: Der Tod ist der Sünde Sold.

 

ARTIKEL 2

Aber darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass er seinen einge-borenen Sohn in die Welt gesandt hat, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

 

ARTIKEL 3

Damit aber die Menschen zum Glauben gebracht werden, sendet Gott in seiner Güte Verkündiger dieser frohen Botschaft, zu wem er will und wann er will, durch deren Dienst die Menschen zur Bekehrung und zum Glauben an Christus, den Gekreuzigten, gerufen werden: Denn wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden?

 

ARTIKEL 4

Über denen, die an dieses Evangelium nicht glauben, bleibt der Zorn Gottes. Diejenigen aber, die es annehmen und sich zu dem Heiland Jesus mit einem wahren und lebendigen Glauben bekennen, werden durch ihn vom Zorn Gottes und vom Verderben errettet und mit dem ewigen Leben beschenkt.

 

ARTIKEL 5

Die Ursache oder die Schuld dieses Unglaubens, wie die auch aller anderen Sünden, liegt keineswegs in Gott, sondern im Menschen. Der Glaube aber an Jesus Christus und die Seligkeit durch ihn sind eine Gnadengabe Gottes, wie geschrieben steht: Aus Gnade seid ihr gerettet worden durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es. Und ebenfalls: Euch ist die Gnade ge-geben, an Christus zu glauben.

 

ARTIKEL 6

Dass Gott einigen in der Zeit den Glauben schenkt, anderen aber nicht, geht aus seinem ewigen Ratschluss hervor; denn ihm sind alle seine Werke von Ewigkeit her bekannt; und: Er wirkt alle Dinge nach dem Ratschluss seines Willens. Nach diesem Ratschluss erweicht er gnädig die Herzen der Auserwählten, obwohl sie hart sind, und neigt sie gnädig zum Glauben; diejenigen aber, die nicht erwählt sind, belässt er nach seinem gerechten Urteil in ihrer Bosheit und Hartherzigkeit. Und hier erschließt sich uns besonders die tiefe, barmherzige und zugleich ge-rechte Unterscheidung der Menschen, die alle gleich verderbt sind, oder der Ratschluss der Erwählung und Verwerfung, im Worte Gottes geoffenbart. Es ist ein Ratschluss, den verkehrte, unreine und schwankende Menschen zu ihrem Verderben verdrehen, der aber den heiligen und gottesfürchtigen Seelen einen unaussprechlichen Trost gewährt.

 

ARTIKEL 7

Diese Erwählung ist ein unveränderlicher Vorsatz Gottes, durch den er vor der Grundlegung der Welt aus dem gesamten Menschengeschlecht, das aus der ursprünglichen Gerechtigkeit durch eigene Schuld in Sünde und Verderben ge-fallen war, eine bestimmte Menge von Menschen, die weder besser noch würdi-ger als andere sind, sondern mit ihnen in demselben Elend verkehren, aus lauter Gnade zur Seligkeit auserwählt hat – in Christus, den er auch von Ewigkeit her zum Mittler und Haupt aller Auserwählten und zu einem Fundament der Seligkeit gesetzt hat. Und damit sie durch ihn selig gemacht würden, hat er auch be-schlossen, sie ihm zu geben und vollmächtig zu seiner Gemeinschaft durch sein Wort und seinen Geist zu rufen und zu ziehen, oder sie mit dem wahren Glauben an ihn zu beschenken, sie zu rechtfertigen, zu heiligen und, nachdem sie in der Gemeinschaft seines Sohnes bewahrt sind, zuletzt zu verherrlichen zur Er-weisung seiner Barmherzigkeit und zum Ruhme des Reichtums seiner herrlichen Gnade. Wie geschrieben steht: Gott hat uns erwählt in Christus, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir sollten heilig sein und unsträflich vor ihm. In seiner Liebe hat er uns dazu verordnet, dass wir seine Kinder seien durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lobe seiner herrlichen Gnade, mit der er uns beschenkt hat in dem Geliebten. Und an anderer Stelle: Welche er aber verordnet hat, die hat er auch berufen; welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; welche er aber hat gerecht gemacht, die hat er auch herrlich gemacht.

 

ARTIKEL 8

Die genannte Erwählung ist nicht unterschiedlich, sondern ein und dieselbe für alle, die gerettet werden, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Denn die Schrift verkündigt uns nur ein einiges Wohlgefallen, einen einigen Vorsatz und Rat des göttlichen Willens, durch die er uns von Ewigkeit her erwählt hat, sowohl zur Gnade als auch zur Herrlichkeit, zur Seligkeit und zu dem Wege der Seligkeit, den er bereitet hat, dass wir darauf wandeln sollen.

 

ARTIKEL 9

Dieselbe Erwählung ist nicht aus dem vorhergesehenen Glauben und Gehorsam des Glaubens, aus vorhergesehener Heiligkeit oder irgend einer anderen guten Eigenschaft oder Fähigkeit geschehen, die als Grund oder Bedingung vorher in dem Menschen erforderlich wären, der erwählt werden soll, sondern zu dem Glauben, zu dem Gehorsam des Glaubens, zur Heiligkeit usw. Demnach ist die Erwählung die Quelle aller seligmachenden Güter, aus welcher der Glaube, die Heiligkeit und andere seligmachenden Gaben, und schließlich das ewige Leben selbst, als Früchte hervorgehen, nach dem Zeugnis des Apostels: Er hat uns erwählt, nicht weil wir heilig und unsträflich vor ihm waren, sondern dass wir es sein sollten.

 

ARTIKEL 10

Der Grund dieser gnädigen Erwählung ist allein das Wohlgefallen Gottes, das nicht darin besteht, dass er irgendwelche Eigenschaften oder Werke der Men-schen aus allen möglichen Bedingungen als eine Bedingung des Heils aus-wählte, sondern darin, dass er sich einige bestimmte Personen aus der allge-meinen Menge der Sünder zum Eigentum annahm, wie geschrieben steht: Ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten usw., ward zu ihr gesagt: Der Ältere soll dem Jüngeren dienstbar werden. Wie geschrieben steht: Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst. Und: Und wurden gläubig, wie viel ihrer zum ewigen Leben verordnet waren.

 

ARTIKEL 11

Und wie Gott selbst im höchsten Grade weise, unveränderlich, allwissend und allmächtig ist, so kann die durch ihn geschehene Erwählung weder ungeschehen gemacht und wiederholt, noch verändert, widerrufen oder abgebrochen werden, noch können die Erwählten verworfen oder kann ihre Zahl vermindert werden.

 

ARTIKEL 12

Dieser ihrer ewigen und unveränderlichen Erwählung zur Seligkeit werden die Auserwählten zu seiner Zeit, wenn auch in verschiedenen Graden und unglei-chem Maße, vergewissert; nicht, wenn sie die Verborgenheit und Tiefen Gottes neugierig erforschen, sondern wenn sie die untrüglichen Früchte der Erwählung, im Worte Gottes aufgezeigt (als da sind: der wahre Glaube an Christus, kindliche Gottesfurcht, göttliche Traurigkeit über die Sünde, Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit usw.) mit geistlicher Freude und heiligem Vergnügen in sich wahr-nehmen.

 

ARTIKEL 13

Der Erfahrung und Gewissheit dieser Erwählung entnehmen die Kinder Gottes täglich größere Ursache, sich vor Gott zu demütigen, die Tiefe seiner Barm-herzigkeit anzubeten, sich selbst zu reinigen und ihn, der sie zuerst sehr geliebt hat, wiederum inbrünstig zu lieben. Es ist denn auch weit davon entfernt, dass sie durch diese Lehre von der Erwählung und durch deren Betrachtung in dem Be-folgen der göttlichen Gebote lässiger oder auf fleischliche Art sorglos würden. Dies pflegt aber nach Gottes gerechtem Urteil denen zu widerfahren, die, indem sie sich der Gnade der Erwählung leichtsinnig vermessen oder eitel und leicht-fertig über sie schwatzen, auf dem Wege der Auserwählten nicht wandeln wollen.

 

ARTIKEL 14

Ferner, wie diese Lehre von der göttlichen Erwählung nach dem weisen Rat Gottes durch die Propheten, Christus selbst und die Apostel sowohl im Alten als auch im Neuen Testament gepredigt worden ist, und danach in den heiligen Schriften niedergelegt und überliefert, muss sie auch heute – zu seiner Zeit und an seinem Ort – in der Kirche Gottes (der sie ganz besonders zugeeignet ist) dargelegt werden, mit dem Geist der Unterscheidung, gottesfürchtig und in heiliger Gesinnung, ohne die Wege des Allerhöchsten in ungebührlicher Neugier zu erforschen, zur Ehre des heiligen Namens Gottes und zum lebendigen Trost seines Volkes.

 

ARTIKEL 15

Diese ewige und unverdiente Gnade unserer Erwählung weist und preist uns die Schrift am meisten dadurch an, dass sie weiter bezeugt, dass nicht alle Men-schen erwählt, sondern manche nicht erwählt und in Gottes ewiger Erwählung übergangen sind. Es sind diejenigen, über die Gott in seinem völlig freien, gerechten, untadeligen und unveränderlichen Wohlgefallen beschlossen hat, sie in dem gemeinsamen Elend, in das sie sich durch ihre eigene Schuld gestürzt haben, zu lassen, und sie nicht mit dem seligmachenden Glauben und der Gnade der Bekehrung zu beschenken, sondern sie auf ihren eigenen Wegen und unter seinem gerechten Urteil zu belassen, und sie schließlich nicht nur wegen des Unglaubens, sondern auch wegen aller übrigen Sünden, zum Erweis seiner Gerechtigkeit, zu verdammen und ewig zu strafen. Und dies ist der Ratschluss der Verwerfung, der Gott keineswegs zum Urheber der Sünde (was zu denken gotteslästerlich ist), sondern zu ihrem furchtbaren, untadeligen und gerechten Richter und Rächer macht.

 

ARTIKEL 16

Diejenigen, die den lebendigen Glauben an Christus oder die sichere Zuflucht des Herzens, den Frieden des Gewissens, die Übung des kindlichen Gehorsams, den Ruhm in Gott durch Christus noch nicht kräftig in sich fühlen, aber doch die Mittel, durch die Gott verheißen hat, dies alles in uns zu wirken, gebrauchen, müssen – wenn sie von der Verwerfung hören – sich nicht entmutigen lassen, auch sich nicht zu den Verworfenen zählen, sondern im Gebrauch der Mittel eifrig fortfahren, die Stunde der reichlicheren Gnade heiß ersehnen und sie ehrfurchts-voll und demütig erwarten. Viel weniger noch brauchen diejenigen von der Lehre der Verwerfung erschreckt zu werden, die ernsthaft begehren, sich zu Gott zu bekehren, ihm allein zu gefallen und von dem Leibe des Todes erlöst zu werden, trotzdem aber auf dem Wege der Gottseligkeit und des Glaubens noch nicht so weit kommen können, wie sie wohl wollten, weil der barmherzige Gott ja ver-heißen hat, den glimmenden Docht nicht auszulöschen und das zerstoßene Rohr nicht zu zerbrechen. Für diejenigen aber, die – Gott und unseren Heiland Jesus Christus nicht achtend – sich den Sorgen der Welt und den Wollüsten des Fleisches völlig überlassen, ist diese Lehre mit Recht schrecklich, solange sie sich nicht ernstlich zu Gott bekehren.

 

ARTIKEL 17

Da wir den Willen Gottes aus seinem Wort verstehen müssen, das bezeugt, dass die Kinder der Gläubigen heilig sind, zwar nicht von Natur, sondern kraft des Gnadenbundes, in den sie mit ihren Eltern mit einbegriffen sind, dürfen gottselige Eltern nicht zweifeln an der Erwählung und Seligkeit ihrer Kinder, die Gott in der Kindheit aus diesem Leben abruft.

 

ARTIKEL 18

Denen aber, die über diese Gnade der unverdienten Erwählung und die Strenge der gerechten Verwerfung murren, treten wir mit den Worten des Apostels ent-gegen: Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Wir aber rufen, indem wir diese Geheimnisse ehrfurchtsvoll anbeten, mit dem Apostel aus: „O, welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber ge-wesen? Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, das ihm werde wiedervergol-ten? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“.