Bullinger - Heilige Schrift

 

Heinrich Bullinger

Das Zweite Helvetische Bekenntnis

(Confessio Helvetica Posterior 1566)

 

Bullinger über die Heilige Schrift:

 

I. KAPITEL: DIE HEILIGE SCHRIFT, DAS WAHRE WORT GOTTES

 

Wir glauben und bekennen, dass die kanonischen Schriften der heiligen Prophe-ten und Apostel beider Testamente das wahre Wort Gottes sind, und dass sie aus sich selbst heraus Kraft und Grund genug haben, ohne der Bestätigung durch Menschen zu bedürfen. Denn Gott selbst hat zu den Vätern, Propheten und Aposteln gesprochen und spricht auch jetzt noch zu uns durch die Heiligen Schriften. Und in dieser Heiligen Schrift besitzt die ganze Kirche Christi eine vollständige Darstellung dessen, was immer zur rechten Belehrung über den seligmachenden Glauben und ein Gott wohlgefälliges Leben gehört. Deshalb wird von Gott deutlich verboten, etwas dazu oder davon zu tun (5. Mose 4,2). Wir sind darum der Ansicht, dass man aus diesen Schriften die wahre Weisheit und Frömmigkeit, die Verbesserung und Leitung der Kirchen, die Unterweisung in allen Pflichten der Frömmigkeit und endlich den Beweis der Lehren und den Gegenbeweis oder die Widerlegung aller Irrtümer, aber auch alle Ermahnungen gewinnen müsse, nach jenem Apostelwort: „Jede von Gottes Geist eingegebene Schrift ist auch nütze zur Lehre, zur Überführung usw.“ (2. Tim. 3,16). Und wiederum sagt der Apostel zu Timotheus (1. Tim. 3,15): „Dies schreibe ich dir..., damit du wissest, wie man sich verhalten muss im Hause Gottes“. Ferner schreibt derselbe Apostel an die Thessalonicher: „...dass ihr das von uns ge-predigte Wort Gottes, als ihr es empfingt, aufgenommen habt nicht als Wort von Menschen, sondern wie es in Wahrheit ist, als Wort Gottes usw. (1. Thess. 2,13). Denn der Herr hat selbst im Evangelium gesagt (Mt. 10,20; Luk. 10,16; Joh. 13,20) „Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der Geist eures Vaters ist's, der in euch redet. Deshalb: wer euch hört, der hört mich, und wer euch verwirft, der verwirft mich.“ Wenn also heute dieses Wort Gottes durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, glauben wir, dass Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen vernommen werde, dass man aber auch kein anderes Wort Gottes erfinden oder vom Himmel her erwarten dürfe: Und auch jetzt müssen wir auf das Wort selber achten, das gepredigt wird, und nicht auf den verkündigenden Diener; ja, wenn dieser sogar ein arger Bösewicht und Sünder wäre, so bleibt nichtsdestoweniger das Wort Gottes wahr und gut. Nach unserer Ansicht darf man jene äußere Predigt auch nicht deshalb für gleichsam unnütz halten, weil die Unterweisung in der wahren Religion von der inneren Erleuchtung des Geistes abhänge: deshalb, weil geschrieben stehe (Jer. 31,34): „Da wird keiner mehr den andern, keiner seinen Bruder belehren und sprechen „Erkennet den Herrn“, sondern sie werden mich alle erkennen...„ Und (1. Kor. 3,7): „Somit ist weder der etwas, welcher pflanzt, noch der, welcher begießt, sondern Gott, der das Gedeihen gibt.“ Obwohl nämlich (Joh. 6,44) niemand zu Christus kommen kann, es sei denn, dass der Vater ihn ziehe, und dass er inwendig vom Heiligen Geist erleuchtet sei, wissen wir doch, dass Gott will, man solle sein Wort überall auch öffentlich verkündigen. Gott hätte freilich den Cornelius – in der Apostelgeschichte – auch ohne den Dienst des heiligen Petrus durch seinen Heiligen Geist oder durch den Dienst eines Engels unter-weisen können, er wies ihn aber nichtsdestoweniger an Petrus, von dem der Engel sagt: „Dieser wird dir sagen, was du tun sollst“ (Apg. 10,6). Denn der, der durch die Gabe des Heiligen Geistes die Menschen inwendig erleuchtet, derselbe gibt seinen Jüngern den Befehl: „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evange-lium allen, die erschaffen sind!“ (Mk. 16,15). Daher predigte Paulus in Philippi der Purpurkrämerin Lydia das Evangelium äußerlich, innerlich aber „tat ihr der Herr das Herz auf“ (Apg. 16,14). Ebenso kommt Paulus (in Röm. 10,13-17) nach einer feinen Entwicklung seiner Gedanken zu dem Schluss: „Also kommt der Glaube aus der Predigt, die Predigt aber durch das Wort Christi.“ Wir geben allerdings zu, Gott könne Menschen auch ohne die äußere Verkündigung erleuchten, wann und welche er wolle: das liegt in seiner Allmacht. Wir reden aber von der ge-wöhnlichen Art, wie die Menschen unterwiesen werden müssen, wie sie uns durch Befehl und Beispiel von Gott überliefert ist. Wir verwerfen daher alle Irrlehren des Artemon, der Manichäer, der Valentinianer, des Credo und der Marcioniten, die geleugnet haben, dass die Heiligen Schriften vom Heiligen Geist gewirkt seien, oder die einige davon nicht anerkannt, andere mit Einschüben versehen oder verstümmelt haben. Indessen verhehlen wir keineswegs, dass gewisse Bücher des Alten Testaments von den Alten „Apokryphen“ von andern „Ecclesiastici“ genannt worden sind, da sie zwar wollten, dass sie in den Kirchen gelesen, jedoch nicht, dass sie zur Bekräftigung des Glaubens herbeigezogen werden. Wie auch Augustin im 18. Buch seiner Schrift „Der Gottesstaat“, Kapitel 38, daran erinnert, dass in den Königsbüchern Namen und Bücher gewisser Propheten angeführt seien, aber beifügt, diese befänden sich nicht im Kanon, und für die Frömmigkeit genügten die Bücher, die wir hätten.

 

II. KAPITEL: DIE AUSLEGUNG DER HEILIGEN SCHRIFTEN, DIE KIRCHEN-VÄTER, DIE ALLGEMEINEN KIRCHENVERSAMMLUNGEN UND DIE ÜBER-LIEFERUNGEN

 

Der Apostel Petrus hat erklärt, die Auslegung der Heiligen Schriften sei nicht dem Belieben jedes Einzelnen anheimgestellt (2. Pet. 1,20). Deshalb billigen wir nicht alle möglichen Auslegungen. Also anerkennen wir auch nicht ohne weiteres als wahre und ursprüngliche Auslegung der Schriften, was man die Auffassung der römischen Kirche nennt, das heißt eben, was die Verteidiger der römischen Kirche schlechtweg allen zur Annahme aufzudrängen suchen. Vielmehr aner-kennen wir nur das als recht gläubige und ursprüngliche Auslegung der Schriften, was aus ihnen selbst gewonnen ist durch Prüfung aus dem Sinn der Ursprache, in der sie geschrieben sind, und in Berücksichtigung des Zusammenhanges, ferner durch den Vergleich mit ähnlichen und unähnlichen, besonders aber mit weiteren und klareren Stellen. Das stimmt mit der Regel des Glaubens und der Liebe überein und trägt vor allem zu Gottes Ehre und zum Heil der Menschen bei. Deshalb verachten wir nicht die Auslegungen der heiligen griechischen und lateinischen Kirchenväter, und wir mißbilligen auch nicht ihre Auseinander-setzungen und Abhandlungen über heilige Dinge, sofern sie mit den Schriften übereinstimmen; immerhin lehnen wir sie in aller Bescheidenheit ab, wenn es sich ergibt, dass sie den Schriften fremde oder gar ihnen widersprechende Gedanken vorbringen. Und wir glauben ihnen dann keineswegs Unrecht zu tun, da sie alle einstimmig ihre eigenen Schriften den kanonischen – das heißt biblischen – nicht gleichgestellt haben wollen, sondern geradezu auffordern zu prüfen, ob sie mit jenen übereinstimmen oder von ihnen abweichen, und verlangen, dass man das Übereinstimmende annehme und vom Widersprechen-den abstehe. Mit den Kirchenvätern in eine Reihe stellen wir die Erklärungen und Richtlinien der Kirchenversammlungen. Deshalb lassen wir uns in strittigen Punkten der Religion und des Glaubens weder durch bloße Sätze der Kirchen-väter oder durch Konzilsbeschlüsse, noch viel weniger durch angenommene Gewohnheiten oder durch die Menge derer, die derselben Meinung sind, noch durch die Einrede des Besitzes während langer Zeit in die Enge treiben. Darum anerkennen wir in Sachen des Glaubens keinen anderen Richter als Gott selbst, der durch die Heiligen Schriften verkündigt, was wahr und was falsch sei, was man befolgen und was man fliehen müsse. So geben wir uns bloß zufrieden mit Urteilen, die von geisterfüllten Menschen stammen und aus dem Worte Gottes gewonnen sind. Jeremia wenigstens und andere Propheten haben die Ver-sammlungen der Priester, die wider das Gesetz Gottes gerichtet waren, schwer missbilligt und nachdrücklich die Warnung erhoben, dass wir nicht auf die Väter hören und den Weg jener Leute betreten sollten, die nach ihren eigenen Fündlein wandelten und sich von Gottes Gesetz abgewandt haben. Gleicherweise lehnen wir die menschlichen Überlieferungen ab. Sie mögen sich mit noch so schön klingenden Titeln schmücken, als ob sie göttlichen und apostolischen Ursprungs seien, indem sie durch mündliche Überlieferung der Apostel und schriftliche Überlieferung apostolischer Männer der Kirche von Bischof zu Bischof übergeben worden seien, die aber, wenn man sie mit den Schriften vergleicht, von ihnen abweichen und gerade durch diese Widersprüche beweisen, dass sie nicht im geringsten apostolisch sind. So wie die Apostel nichts einander Widersprechen-des gelehrt haben, so haben auch die apostolischen Väter nichts den Aposteln Entgegengesetztes weitergegeben. Es wäre doch wahrlich gottlos zu behaupten, die Apostel hätten durch das mündliche Wort ihren Schriften Widersprechendes überliefert. Paulus sagt unzweideutig, er habe in allen Gemeinden dasselbe gelehrt (1. Kor. 4,17). Und abermals sagt er: „Wir schreiben euch nichts anderes, als was ihr lest oder auch erkennt“ (2. Kor. 1,13). Anderswo bezeugt er weiter, dass er und seine Schüler, das heißt apostolische Männer, denselben Weg gehen und gleicherweise im selben Geiste alles tun (2. Kor. 12,18). Wohl hatten auch die Juden einst ihre Überlieferungen der Alten, aber diese sind vom Herrn scharf zurückgewiesen worden, indem er zeigte, wie deren Beobachtung dem Gesetze Gottes den Weg versperre, und dass man Gott durch solche Über-lieferungen vergeblich verehre (Mt. 15,8-9; Mk. 7,7).