Das Leid und die Theodizeefrage
Hiob

Das Leid und die Theodizeefrage

 

Die Ausgangsfrage des sogenannten „Theodizeeproblems“ wurde von Epikur treffend formuliert:

 

Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht:

Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft,

Oder er kann es und will es nicht:

Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist,

Oder er will es nicht und kann es nicht:

Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott,

Oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt:

Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?

 

Man erkennt leicht, dass sich die Frage der Theodizee nur dort stellt, wo bestimmte Grundvoraussetzungen gelten, nämlich:

 

1. Gott ist nicht schwach, sondern besitzt ein Maximum an Macht ( Allmacht )

2. Gott ist nicht missgünstig, sondern besitzt ein Maximum an Güte ( Allgüte )

3. Die Welt enthält Übel, Böses, Leid, das der Mensch als solches klar erkennt.

4. Der Mensch besitzt kritische Maßstäbe, die er auf Gottes Tun anwenden kann.

5. Was über Gott gesagt wird, muss widerspruchsfrei sein, wenn es als glaubhaft gelten soll.

 

Eine überzeugende Weise, an allen fünf Voraussetzungen (gleichzeitig und uneingeschränkt) festzuhalten, gibt es wohl nicht. Doch können alle Voraussetzungen einer kritischen Revision und Korrektur unterzogen werden, die dazu führt, dass sich das Theodizeeproblem nicht mehr in der geschilderten Weise stellt.

 

Zu 1. Allmacht

In der Bibel fehlt zwar ein abstrakter Begriff von „Omnipotenz“, doch ist dort Gottes Allmacht zweifelsfrei vorausgesetzt. Wenn Gott will, steht die Sonne still, das Meer teilt sich, Tote werden lebendig, Plagen kommen und Heere greifen an. Nie wird in Frage gestellt, dass Gott, was er will, auch kann. Eine Einschränkung gilt allerdings:

Gott will nur, was seinem Wesen entspricht. Er will nichts Widersprüchliches oder Böses, kann auch nicht lügen, sündigen oder gegen die eigene Ehre handeln. Gott kann nichts wollen, was sein eigenes Wesen aufheben würde. Und er will auch nichts, was seiner Gerechtigkeit oder der Treue zu seinem eigenen Wort zuwiderliefe.

Gott kann also immer, was er will. Aber er will nichts, wodurch er sich selbst verriete. Und daraus resultiert z.B. die innere Notwendigkeit seines strafenden Zorns: Gott könnte nur aufhören, dem Bösen zu widerstehen, wenn er aufhörte, das Gute zu lieben – d.h. aber, er kann damit nicht aufhören.

Die in Gottes Gesetz festgeschriebene Verknüpfung von Schuld und Strafe, durch die Gott verneint, was seine Schöpfung bedroht, kann er nicht ohne weiteres aufheben. Denn das Böse zu verneinen ist dem guten Gott eine Notwendigkeit.

 

Zu 2. Allgüte

Die Rede von Gottes „Eigenschaften“ erweist sich als problematisch, wenn diese wie „Eigenschaften“ einer Substanz aufgefasst werden. Ein Stoff hat in aller Regel gleichbleibende „Eigenschaften“, weil Stahl eben hart ist, und Butter weich. Wenn Butter plötzlich stahlhart würde, wäre sie keine Butter mehr. Und wenn Stahl butterweich wäre, würden wir nicht mehr von Stahl reden. Wenn Feuer nicht mehr heiß wäre, und Wasser nicht mehr nass, würden wir es nicht mehr Feuer oder Wasser nennen. Substanzen „können nicht anders“.

Doch in diesem Sinne muss Gott nicht gütig oder liebend sein. Er kann durchaus „anders“. Es ist nicht etwa seine Natur, zu vergeben! Zwar erweist sich Gott in konkreten Beziehungen als „liebend“ und wird (z.B. in den Psalmen) gepriesen, weil er sich in bestimmten Situationen als liebend erweist. Aber festgelegt ist er damit nicht. Denn Personen sind diesbezüglich nicht mit Substanzen vergleichbar.

Gott muss nicht allen Menschen gleich begegnen und muss sie auch nicht „alle gleich lieben“. Er schuldet es ihnen nicht, sie vor den Folgen ihrer Bosheit zu bewahren. Vielmehr ist seine Liebe stets eine freie und ungeschuldete Zuwendung. Wessen Gott sich erbarmt, dessen erbarmt er sich. Aber er muss sich niemandes erbarmen. Niemand hat einen Anspruch darauf. Denn genau wie die Liebe eines Menschen ist auch die Liebe Gottes nicht „einklagbar“.

 

Zu 3. Übel – Böses – Leid

Ein großer Teil des Übels in der Welt ist unmittelbare Folge menschlichen Fehlverhaltens, so dass dafür erst einmal der Mensch selbst haftbar zu machen ist. Tut er nicht das Gute, das Gott ihm geboten hat, so muss er sich wegen der bösen Folgen nicht wundern. Er erntet, was er gesät hat, und sollte darüber nicht klagen. Denn als Sünder unter Sündern hat er es durchaus verdient, unter solchen „hausgemachten“ Übeln zu leiden.

Ein anderer großer Teil des Übels und des Leides kann als sinnvoll verstanden und sollte mit Einsicht angenommen werden, weil er zur Erziehung des Menschen nötig ist. Zuviel Glück würde den Menschen oberflächlich, stolz und selbstsicher machen, während Erfahrungen des Leides und des Scheiterns ihm Anlass geben zur Besinnung und Reifung. Insbesondere dann, wenn man es sich im Glauben „zum Besten dienen“ lässt, ist solches Übel kein wirkliches Übel, sondern eine Hilfe.

Zweifellos bleibt, wenn man die beiden o.g. Arten des Leides abzieht, ein erheblicher „Rest“ abgründigen, nicht sinnvoll zu deutenden Übels. Doch bleibt immer zu bedenken, dass sich das, was dem Menschen als „Unglück“ erscheint, in Gottes Augen ganz anders darstellen kann:

Eine Parabel aus China erzählt von einem armen Bauern, der einen kleinen Acker mit einem alten, müden Pferd bestellte und mehr schlecht als recht mit seinem einzigen Sohn davon lebte. Eines Tages lief ihm sein Pferd davon. Alle Nachbarn kamen und bedauerten ihn wegen seines Unglücks. Der Bauer blieb ruhig und sagte: „Woher wisst ihr, dass es Unglück ist?” In der nächsten Woche kam das Pferd zurück und brachte zehn Wildpferde mit. Die Nachbarn kamen und gratulierten ihm zu seinem großen Glück. Der Bauer antwortete bedächtig: „Woher wisst ihr, dass es Glück ist?” Der Sohn fing die Pferde ein, nahm sich das wildeste und ritt darauf los. Aber das wilde Pferd warf ihn ab, und der Sohn brach sich ein Bein. Alle Nachbarn kamen und jammerten über das Unglück. Der Bauer blieb wieder ruhig und sagte: „Woher wisst ihr, dass es ein Unglück ist?” Bald darauf brach ein Krieg aus, und alle jungen Männer mussten zur Armee. Nur der Sohn mit seinem gebrochenen Bein durfte zu Hause bleiben.

 

Zu 4. Menschliche Kritik

Die Theodizeefrage zu stellen, heißt, Gottes Handeln einer moralischen Kritik zu unterziehen. Und man muss fragen, ob das überhaupt möglich ist. Denn welchem Maßstab sollte der unterliegen, der selbst das Maß aller Dinge ist? Gut ist, was Gott will. Und böse ist, was Gott nicht will. Das ist schon die ganze Definition des Unterschieds. Sie ist aber nicht etwa so zu verstehen, dass Gott sich mit seinem Willen an einen moralischen Maßstab halten würde, der (von ihm unabhängig) schon bestünde, sondern so, dass Gottes Wille selbst der alleinige Maßstab des Moralischen ist.

Gut ist nur einer – nämlich Gott selbst. Und darum will er, was er will, nicht etwa, weil es „an sich“ schon gut wäre, sondern was Gott will, wird dadurch „gut“, dass er es will. Gott hält sich an keine Norm, Gott ist die Norm. Er folgt keiner Ordnung, sein Wille ist die Ordnung. Gott respektiert nicht einen vorgegebenen Unterschied von „gut“ und „böse“, sondern indem er handelt und gebietet setzt er diesen Unterschied in Kraft.

Wie aber sollte unter diesen Umständen das Handeln Gottes von Menschen kritisierbar sein? Gottes Wollen und Regieren ist keiner Kritik unterworfen, weil er – als die Norm aller Normen – an keiner Norm gemessen werden kann. Gottes Wille unterliegt keinem Gesetz, sondern er ist das Gesetz. Er ist kein Gegenstand von Kritik, sondern ist selbst der Ursprung aller Kritik. Nicht Gott hat sich demnach vor dem Menschen zu rechtfertigen, sondern der Mensch vor Gott. Der in der Theodizeefrage implizierte Rollentausch von Richter und Angeklagtem stellt das Verhältnis von Gott und Mensch in unzulässiger Weise auf den Kopf.

 

Zu 5. Widerspruchsfreiheit

Theologie beansprucht nicht, Gottes Handeln vollständig verstehen und erklären zu können. Vielmehr erklärt sie ausdrücklich, dass ihr Vieles rätselhaft ist und wohl auch bleiben wird, bis es im Lichte der Herrlichkeit seine Erklärung findet. Dann, wenn der Glaube ins Schauen übergeht, wird auch die Theodizeefrage ihre Antwort finden. Doch wird diese Klärung nicht von uns herbeigedacht, sondern von Gott herbeigeführt. Der bleibende Gegensatz zwischen Gottes heilvollem Willen und dem Elend dieser Welt wird also nicht durch kluge Theologie „wegerklärt“ oder rational „bewältigt“, sondern geschichtlich und tatsächlich von Gott selbst überwunden, wenn er den Moment für gekommen hält. Gott selbst übernimmt es, auf alle Vorwürfe zu antworten. Darum ist es nicht die Aufgabe der Theologie gedanklich zu harmonisieren, was nicht harmonisch ist, sondern das schmerzlich Unausgeglichene beim Namen zu nennen und im Nicht-Verstehen wahrhaftig zu bleiben. Es handelt sich letztlich um eine Frage, die wir nicht gedanklich „lösen“, sondern von der uns Gott „erlösen“ wird.

 

Schlussfolgerungen

Die Theodizeefrage ist und bleibt irritierend. Aber als Widerlegung des Glaubens kann sie nicht gelten, denn durch die oben skizzierte Revision der Voraussetzungen ergibt sich eine veränderte Situation. Keine der fünf Prämissen ist in dem Sinne gültig, den die Religionskritik unterstellt. Und darum sind auch andere Folgerungen zu ziehen. Man kann nämlich lernen, Gottes Souveränität, seine Unergründlichkeit, seine Strenge, sein Freiheit und sein unhinterfragbares Recht als Herr aller Geschöpfe ernster zu nehmen, als es die Theodizeefrage tut. Daraus ergibt sich dann ein Gottesbild jenseits von naiv und nett. Denn Gott ist für den Menschen nicht nur „Grund“, sondern auch „Abgrund“. Er hat es nicht nötig, von Menschen verteidigt zu werden, weil sich keiner zu Gottes Anwalt oder Richter aufschwingen kann. Gott hingegen ist beides für uns.

Die Theodizeefrage als logisches Paradox löst sich auf, sobald man erkennt, dass sie auf falschen oder halbwahren Voraussetzungen beruht. Doch das Problem verlagert sich damit auf die Frage nach der Einheit von verborgenem und offenbarem Gott. Denn Gott und der Teufel sind im Weltgeschehen schwer zu unterscheiden. Sie auseinanderzuhalten gelingt nur, wenn man den Unterschied an Christus festmacht und Gott dort festhält, wo der Ungreifbare greifbar wurde und sich an sein Wort gebunden hat. Mehr als dieses Festhalten ist zur Zeit nicht möglich. Aber mehr braucht man auch nicht, um abzuwarten und glaubend vor Gott zu Gott zu fliehen, bis Gott selbst für Aufklärung sorgt…

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Job (Hiob)

Léon Bonnat, Public domain, via Wikimedia Commons