Schöpfung als Ordnungsprozess
Der Schöpfungsbericht im 1. Buch Mose (1,1-2,4) ist weithin bekannt. Denn wie da in sieben Tagen die Welt geschaffen wird, gibt reichlich zu denken. Dem Leser fällt auf, dass Gott kein Material benutzt, das ihm vorgegeben wäre, sondern er schafft Himmel und Erde aus „nichts“. Und zugleich fällt auf, dass Gott kein Werkzeug gebraucht als nur sein eigenes Wort. Die Werke Gottes sind offensichtlich auf die finale Erschaffung des Menschen hin geordnet, dem als Gottes „Ebenbild“ eine besondere Rolle zufällt. Und zugleich wird betont, dass die ursprüngliche Schöpfung „sehr gut“ war, so dass sie vor dem Sündenfall nichts Übles oder Verkehrtes enthielt. Besonders interessant ist aber ein Umstand, der gewöhnlich übersehen wird – dass die Schöpfung nämlich als ein von Tag zu Tag fortschreitender Ordnungsprozess dargestellt ist, der unkontrollierte Chaoskräfte nach und nach bändigt und in dem Leben förderliche Strukturen überführt. Ein großes Aufräumen, Trennen und Sortieren geht da vonstatten, in dem Gott allen Dingen ihren Platz zuweist. Und erst die damit der Schöpfung eingeschriebenen Ordnungen machen sie für den Menschen zu einem guten Lebensraum, in dem er Zusammenhänge verstehen und sich auf erwartbare Abläufe einstellen kann. Nur wenn die Natur verlässlichen Regeln folgt, kann der Mensch sich ihnen anpassen. Nur wo er Ordnungen erkennt, kann er Naturkräfte nutzen und Risiken abschätzen, kann Saat und Ernte planen und sicher wohnen. Dem Schöpfungsbericht zufolge herrscht eine lebensdienliche Ordnung aber nicht gleich von Anfang an, sondern sie entsteht erst im Laufe eines Prozesses, der zunächst mit Chaos beginnt. Im ersten Moment der Schöpfung hat Gott eine Menge Materie ins Dasein gerufen, ein wildes Durcheinander von Stoffen und Kräften. Aber in diesem chaotischen Wirbel voller Möglichkeiten ist noch kein „oben und unten“, kein „vorn und hinten“ zu unterscheiden – bis Gott in die große Wirrnis eine erste Schneise schlägt, das Licht erschafft und es der Finsternis entgegensetzt. Zu dieser Zeit gibt es noch kein Leben. Und doch dient schon der erste Schritt zur Vorbereitung des Lebens. Denn was kommt dabei heraus, wenn Licht und Finsternis heillos durcheinandergehen? Aus dieser Mischung entsteht ein schummriges Zwielicht, das die Augen trügt, weil in der Dämmerung nichts klare Konturen hat, und alles mit allem verwechselt werden kann! So müssen Tag und Nacht deutlich geschieden werden. Und in diesem Stil eines „schrittweisen Ordnens“ geht es weiter. Denn am zweiten Tag schafft Gott die Feste des Himmels, die er wie eine große Kuppel über die Erde spannt. Auch diese Scheidung von „oben“ und „unten“ dient dem späteren Leben, weil der Mensch nur so einen Richtungssinn entwickeln und räumlich unterscheiden kann, was er woher zu erwarten hat – nämlich Luft, Regen und Licht von oben, Erdenschwere und fruchtbaren Boden von unten. Die große Vertikale hat sich aufgetan! Doch fehlt am unteren Ende noch der feste Grund. Denn unter dem weiten Himmel liegen Wasser und Erde ungeschieden ineinander. Und jeder weiß, was bei dieser Mischung herauskommt: Erde mit viel Wasser vermengt ergibt Morast, Schlick, Matsch oder Schlamm – also einen sumpfigen und trügerischen Untergrund, auf dem man weder gut laufen noch ein Haus errichten, weder Getreide anbauen noch Vieh halten kann. Darum sorgt Gott dafür, dass sich am dritten Tag die Wasser sammeln an einem Ort, und das Erdreich an einem anderen. Trockenes Land und Meer separieren sich – das eine hier, das andere dort. Gott räumt weiter auf. Und schon ist der Ordnungsprozess so fortgeschritten, dass Pflanzen wachsen können. Genügend Lebensraum ist dem Chaos abgerungen. Nur fehlt der Zeit noch eine Struktur. Und die muss hergestellt werden, bevor der Mensch erscheint. Denn der kommt nur zurecht, wenn er (Vergangenes und Künftiges unterscheidend) Zeiträume und Zyklen berechnen kann. Ebbe und Flut, Geburt und Tod, Hitze und Kälte, Saat und Ernte, Ein- und Ausatmen – das alles hat seinen speziellen Rhythmus. Und der spiegelt sich seit dem vierten Schöpfungstag im regelmäßigen Lauf der Gestirne. Denn allzu verwirrend wär‘s für den Menschen, wenn ohne festen Zyklus zwei Winter aufeinander folgten – oder manchmal erst nach drei Tagen wieder eine Nacht käme. Generell herrschte Chaos, wenn die Naturgesetze nur ab und zu gälten oder sich im Laufe der Zeit änderten. Kein Mensch käme damit klar, wenn die Schwerkraft Aussetzer hätte! Ohne regelmäßige Abläufe wüsste man nicht, worauf man sich einstellen soll. Nichts wäre planbar, Kultur und Technik könnten nicht funktionieren – und wären folglich nie entstanden. Doch Gott zeigt sich als Freund des Lebens. Er unterwirft die Gestirne festen Regeln, ermöglicht damit (von ihrem Lauf abgeleitete) Kalender, Uhren, Prognosen – und damit Orientierung in der Zeit. Anschließend weist er aber jeder Kreatur den Lebensraum zu, für den sie optimal ausgerüstet ist. Am fünften Tag erfüllt er das Wasser mit Fischen aller Art und lässt am Himmel die Vögel fliegen. Am sechsten Tag bringt er die Landtiere hervor und zuletzt den Menschen, bevor der Schöpfer am siebten Tag ruht von all seinen Werken. Will der Schöpfungsbericht damit sagen, das anfängliche Chaos sei verwerflich und böse gewesen? Nein, keineswegs. Auch die Chaoskräfte des Anfangs hat Gott mit Bedacht geschaffen, denn ohne ihre Dynamik gäbe es weder Leben noch Entwicklung. Damit sich Leben stabilisiert, müssen zügellose Energien aber in sinnvolle Bahnen gelenkt werden. Denn Kraft ohne Kontrolle ist zerstörerisch. Das Leben hingegen braucht beides – es braucht Dynamik und Struktur. Und wenn die Bibel betont, Gottes ursprüngliche Schöpfung sei „sehr gut“ gewesen, meint sie damit, dass er Dynamik und Struktur, Kraft und Kontrolle, Vitalität und Vernunft auf glückliche Weise miteinander verbunden hat. Die Zuordnung stimmte. Denn weder schuf Gott Strukturen aus Beton, in denen alle Bewegung erstarren und ersticken muss – noch schuf er blinden Drang, der mit willkürlicher Gewalt alles, was entsteht, gleich wieder niederreißt. Vielmehr legte Gott der Dynamik Zügel an, kanalisierte die Kräfte und schuf so den stabilen Rahmen, in dem menschliches Leben erst möglich wurde. Der Schöpfungsprozess regelte das Regellose. Er formte das Formlose. Und im erkennenden Nachvollzug dieser Regeln und Formen besteht bis heute alle Wissenschaft und Kultur. Nebenbei erfahren wir aber auch etwas über das Wesen des Bösen. Denn das ist nichts anderes als eine Störung und Verkehrung der von Gott gewollten, das Leben fördernden Ordnung. Im Sündenfall unterlaufen Chaosmächte die sinnvolle Hierarchie, verwirren den menschlichen Willen und verleiten ihn dazu, das Band des Gehorsams zwischen Schöpfer und Geschöpf zu lösen. Sünde zerstört die gute Ordnung, von der das Leben abhängt – sie gebiert also ganz von selbst den Tod. Und Satan, der „Diabolos“, ist (wie schon der Name sagt) ein „Durcheinanderwerfer“, der an sich gut geschaffene Dinge so miteinander kombiniert, wie sie nicht harmonieren, sondern sich gegenseitig stören. Er bringt die von Gott geschaffenen Kräfte miteinander in schmerzhaften Konflikt, damit sie sich qualvoll aneinander reiben, sich wechselseitig hemmen und verderben. Der Schöpfer sieht sich das aber nicht untätig an, sondern stabilisiert das gefährdete Projekt seiner Schöpfung auch nach dem Sündenfall – und nutzt zu seiner Erhaltung Ordnungsstrukturen der sozialen Art: Er schafft die staatliche Ordnung, die durch äußere Machtmittel das Gute fördern und das Böse eindämmen soll. Er unterstreicht die Bedeutung der Ehe, um dem Chaos zwischen Männern und Frauen Einhalt zu gebieten. Er schafft damit einen stabilen Rahmen, in dem Kinder gut aufwachsen können. Und er verordnet dem Menschen die Arbeit, damit jeder seinen Lebensunterhalt durch sinnvolle Tätigkeit erwerben kann und nicht beim Nachbarn stehlen muss. Gott schreibt seine Gebote jedem Menschen ins Gewissen hinein. Und durch Mose gibt er sie der Menschheit dann auch noch „schriftlich“. Jedem Einzelnen weist er seinen Platz zu – durch die Geburt verortet er ihn in einer Familie, einem Kulturkreis und einer Epoche. Und er gibt ihm die Möglichkeit, in einem ehrlichen Beruf Erfüllung zu finden. Denn Gott hat nicht nur die tausend Willensimpulse geschaffen, die uns täglich bewegen und umtreiben. Sondern er will auch, dass sie in eine Richtung wirken, die uns und anderen guttut. Damit sie sich nicht gegenseitig behindern, müssen unsere Impulse in Herz und Gemüt koordiniert werden – Prioritäten sind zu klären, Grenzen zu markieren. Und so tritt neben die beiden Ordnungsprozesse in der Natur und im sozialen Miteinander noch ein dritter, der das Individuum formt. Denn auch das Werden unserer Person, die Erschaffung unserer inneren Welt, ist – analog zur Weltschöpfung – als Ordnungsprozess zu verstehen, der zunächst mit Chaos beginnt. Oder ist nicht jedes kleine Kind ein Wirbelwind ohne klare Richtung, ein Bündel höchst vitaler, aber unstrukturierter Kräfte? Unser aller Leben beginnt auf dynamisch-konfuse Weise. Und es ist nichts verkehrt an den wilden Energien. Doch erst wenn ein Prozess der Selbstklärung sie nach und nach sortiert und sinnvoll zueinander ins Verhältnis setzt, gewinnt der Mensch Klarheit über sein Wesen und seinen Weg. Wie die Weltschöpfung draußen, ist auch unser inneres Werden ein Ordnungsprozess. Und Gott wirkt dabei im kleinen Maßstab, was er im großen auch an Himmel und Erde tat. Denn – wie sagten wir? Bevor Gott Tag und Nacht schied, lag alles in diffusem Dämmerlicht, und nichts war mit klarer Kontur zu erkennen. So herrscht auch Dämmerlicht im kindlichen Verstand, weil das Kind Wunsch und Wahrheit, Traum und Wirklichkeit, Schein und Sein nicht sicher auseinanderhält. Erst nach und nach wachsen seine kognitiven Fähigkeiten, so dass es Wahrheit und Lüge zu trennen vermag. Wie sagten wir? Bevor Gott die Kuppel des Himmels über die Erde spannte, gab es kein „unten“ und kein „oben“. Und so fehlt auch der Seele des Kindes der Richtungssinn, so dass es Wichtiges und Unwichtiges, Vorrangiges und Nachrangiges, Wertvolles und Unnützes nicht gut auseinanderhält. Erst nach und nach unterscheidet es, was wirklich verdient, mit Liebe und Hingabe erstrebt zu werden – und was nicht. Wie sagten wir? Bevor Gott das Wasser und das trockene Land voneinander trennte, war überall Morast, auf dem man nicht bauen oder laufen konnte. Und so muss in unserer Seele das Erlaubte und Gute auf die eine Seite rücken, das Verbotene und Böse aber (weit davon geschieden) auf die andere. Erst nach und nach schärft sich das kindliche Gewissen, wir verlieren unsere Naivität und sehen moralisch klarer. Wie sagten wir? Bevor Gott durch den Lauf der Gestirne Jahreszeiten und Zyklen markierte, fehlte der Begriff der Zeit, durch den Leben erst planbar wird. Und so muss das Kind (das doch alles, was es will, immer sofort will) erst seinen Standort zwischen Vergangenheit und Zukunft erkennen, um dann zu unterscheiden, was bleiben und was vergehen wird. Erst nach und nach versteht der Mensch, dass alles „seine Zeit“ hat – und hört dann auf, an Gottes Uhren drehen zu wollen. So schafft Gott auf ordnende Weise nicht bloß die äußere, sondern auch unsere innere Welt, und bändigt dabei das Chaos, als dass wir begonnen haben. Denn von Gott lernen, heißt unterscheiden lernen: Wahrheit und Lüge, Dein und Mein, Segen und Fluch, Leben und Tod, Ehrbares und Schändliches, Heiliges und Profanes, Gesundes und Krankes – das alles stellt uns Gott geordnet vor Augen, damit seine Ordnungen sich auch in unserer Seele abbilden können und dort tiefe Zustimmung finden. Denn nur durch verständiges Nachvollziehen und Bejahen der göttlichen Gedanken wird ein Mensch weise.
Freilich – ist der große Ordnungsprozess schon zu Ende gekommen? Scheint er nicht (sowohl in der Welt als auch im Menschen) unvollendet? Offenkundig ist er das. Und immer wieder verstört das Böse, was schon gut geordnet schien. Die Zähmung des Chaos geht in der Welt ebenso weiter wie in der Seele jedes Einzelnen. Und Gott hört nicht auf, das schmerzhafte Durcheinander immer wieder in gelingendes Leben zu verwandeln. Doch ist dabei ein Ziel in Sicht. Denn das große Ringen findet seine finale Lösung, wenn Gottes Reich kommt und die verstörte Schöpfung so vollendet, wie sie von Anfang an gedacht war. Der Jüngste Tag stellt eine gute Ordnung her, die danach nichts mehr umstößt. Gott bringt das Gute endgültig „in Form“. Und dem Bösen weist er jenen Ort an, von dem es nicht wiederkehrt. Denn es fällt ja auf, wie viele Gleichnisse Jesu mit einem großen „Sortieren“ enden: Da werden die guten Fische aus dem Netz herausgelesen, und der unnütze Beifang weggeworfen (Mt 13,47-50). Der Weizen wird bei der Ernte vom Unkraut getrennt, das man anschließend verbrennt (Mt 13,36-43). Die schlechten Weinreben werden herausgeschnitten, damit die guten umso besser wachsen (Joh 15,1-8). Die Böcke kommen nach links, und die Schafe nach rechts (Mt 25,31-33). So findet letztlich alles seinen Ort und kommt „in Ordnung“. Wenn Gott aber seinen neuen Himmeln und seine neue Erde vollendet, gibt‘s darin keine Statik mehr, die vom Dynamischen gefährdet würde, und keine Dynamik, die sich am Statischen blutig scheuerte. Sondern alle Kraft ist dann kontrolliert, und alle Kontrolle ist kräftig. Alle Liebe ist machtvoll, und alle Macht ist liebevoll. Alle Ordnung ist lebendig, und alles Leben in Ordnung. Alles Reale ist dann vernünftig, und alles Vernünftige real. Am Ende macht sich Gott diese Welt passend, begradigt das Krumme und bindet die losen Enden zusammen. Das aber ist eine wahrlich „gute Nachricht“ – und ein (schon gleich im Schöpfungsbericht enthaltenes) „Evangelium“.
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Arkhip Kuindzhi, Public domain, via Wikimedia Commons