Der Kanon des Neuen Testament

Der Kanon des Neuen Testament

Haben sie sich mal gefragt, woher das Neue Testament seine Autorität nimmt? Es ist die höchste Instanz in der Kirche, ist die Richtschnur und der Maßstab, an dem christlicher Glaube und christliches Leben gemessen werden. Alles legitimiert sich durch Übereinstimmung mit dem Neuen Testament. Doch woher kommt das? Und wer sagt eigentlich, dass im Neuen Testament die richtigen Schriften versammelt sind? Warum sind es gerade diese 27 Bücher – und nicht mehr oder weniger? Tatsächlich hat die frühe Christenheit noch eine Menge anderer Schriften hervorgebracht – einen Barnabasbrief und ein Thomas-Evangelium, die Klemensbriefe, diverse Akten, Apokalypsen, Lehrschreiben und Hymnen. Manche dieser Texte sind genauso alt wie das Matthäusevangelium oder der Römerbrief. Warum finden wir die also im Neuen Testament – und jene anderen nicht? Wer hat entschieden, das eine sei Gottes Wort und das andere bloß menschliche Literatur? Wer garantiert, dass die Trennlinie an der richtigen Stelle gezogen wurde – und dass nicht etwa im Neuen Testament apostolische Schriften fehlen? An der Norm der Hl. Schrift wird alles gemessen. Aber wird sie auch selbst an etwas gemessen? Nicht jeder sieht darin eine drängende Frage. Denn es ist etwas spät, das Neue Testament nach so vielen Jahrhunderten neu zu erfinden. Doch wird die Sache dadurch zum Problem, dass sich die katholische Kirche als Lösung anbietet. Sie tut nämlich so, als habe sie das Neue Testament geschaffen und verbürge auch seine Geltung. Katholische Theologen verweisen darauf, dass kirchliche Konzilien im 4. Jahrhundert die Schriften benannt haben, die seither „kanonisch“ heißen. Und dann brüsten sie sich, die Bibel sei „ein katholisches Buch von der katholischen Kirche für die katholische Kirche“ – und sozusagen ein Geschenk der römischen Kirche an die Welt. Die habe das Neue Testament damals „erstellt“. Und ihr verdanke es darum auch seine verbindliche Geltung. Aber, kann man das so stehen lassen? Ist es nicht anmaßend und falsch? Tatsächlich entsteht die Kirche aus Gottes Wort – und nicht umgekehrt. Denn das Evangelium als Ruf muss schon ergangen sein, bevor ihm irgendein Jünger folgen kann. Die Berufenen bilden dann miteinander die Gemeinschaft der Kirche. Aber was sie verbindet, ist das vorausgehende Wort, das sie nicht etwa beschlossen oder selbst geredet, sondern von Christus gehört haben. Christen treten nicht als Gemeinschaft zusammen, um dem Evangelium Geltung zu verleihen, sondern weil es Geltung hat. Sie beugen sich unter Gottes Wort, weil es Autorität besitzt, nicht damit es Autorität bekommt. Der Christ ist zuerst ein Hörender und erst dann auch ein Redender, insofern er das Gehörte als wahr bekennt. Er bekennt sich zu Gottes Wort aber nicht, weil ihm das kirchliche Autoritäten warm empfohlen oder vorgeschrieben haben, sondern weil ihn das Wort selbst durch seinen Inhalt überzeugt. Und das heißt: Die Hl. Schrift beglaubigt sich selbst, indem sie über das Herz des Lesers Macht gewinnt. Und diese erstaunliche Macht wohnt ihr schon inne, seit Gott sein Wort niederschreiben ließ. Der Heiligen Schrift musste solche Vollmacht nicht von Menschen verliehen werden, denn sie kommt vom Heiligen Geist, dem die Bibel sowohl ihre Entstehung wie auch ihre Wirkung und ihre Geltung verdankt. Gott selbst verleiht seinem Wort durchschlagende Kraft. Und so ist Gottes Wort dann Richter über die Kirche – die Kirche aber nicht Richter über Gottes Wort. Die Kirche muss sich legitimieren, indem sie nachweist, dass sie Gottes Wort entspricht. Dieses Wort aber bedarf ebenso wenig einer Legitimation wie der Allmächtige, der’s geredet hat. Dem scheint nun zu widersprechen, dass der Kanon des Neuen Testaments durch ein Konzil beschlossen wurde. Und mancher meint, das sei so ähnlich wie bei einem Gesetz, das seine Geltung dem Mehrheitsbeschluss der gesetzgebenden Versammlung verdankt. Man denkt an einen Verein, der sich aus freien Stücken eine Satzung gibt. Und schon brüsten sich die Katholiken, die Bibel sei ihr Produkt. Sie verweisen darauf, dass es die Kirche schon gab, bevor der Umfang des Neuen Testaments ganz feststand. Sie unterstellen, erst kirchliche Konzilien hätten das Neue Testament abgegrenzt – und folglich sei die Kirche auch Garantin für die Geltung der Schrift. Die Autorität der Kirche scheint dann primär zu sein, die der Hl. Schrift wird nachträglich abgeleitet. Aber stimmt das so? Stand die Kirche dem Evangelium jemals so frei gegenüber, dass sie sich erst durch einen Beschluss daran hätte binden müssen? Bleiben wir doch bei den Fakten! Bevor die Kirche auf der Bühne erschien, war Jesus Christus schon da, als das Wort Gottes in eigener Person. Und die Apostel, seine Jünger, haben das erfahren und bezeugt. Solange die Apostel lebten, galt in den Gemeinden ihre mündliche Lehre. Und als die Apostel nach und nach starben, ging ihre Autorität auf ihre Schriften und die Schriften ihrer Schüler über. Die wurden im Gottesdienst laut verlesen und weckten über die Generationen hinweg immer wieder neuen Glauben. Doch zu keinem Zeitpunkt stand die Kirche dem apostolischen Zeugnis frei und ungebunden gegenüber. Denn wo der Ruf in die Nachfolge nicht laut wird, kann man ihm auch nicht folgen. Der Glaube kommt aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi (vgl. Röm 10,14-17). Und ohne es zu hören, kann niemand Kirche sein. Zum Glück gab es auch keine historische Situation, in der das Wort Christi verstummt wäre! Die Urchristenheit hatte entweder die Apostel bei sich – oder die von ihnen herrührenden Schriften. Und so sagt ein Historiker und Theologe völlig zurecht: „Die Kirche stand vom Augenblick ihrer Entstehung an unter der Autorität der Apostel, die Organe des Parakleten geworden waren. Eine Kirche, die davon unabhängig war und die sich also über die Autorität des apostolischen Zeugnisses, des mündlichen wie des schriftlichen, hätte schlüssig werden können oder müssen, hat es nie gegeben“ (Werner Elert). Warum fassten die Konzilien dann aber Beschlüsse? Sie wurden nur nötig, weil Irrlehrer immer wieder Verwirrung stifteten. Die Konzilsväter mussten dem entgegentreten. Sie wollten aber keineswegs „neue Normen“ aufbringen, sondern wollten lediglich festklopfen und bestätigen, was in den Gemeinden rund um das Mittelmeer bereits anerkannte Praxis war, d.h.: Man hat im Konzil die Schriften aufgezählt, deren apostolischer Ursprung keinem Zweifel unterlag und die überall auch schon in Gebrauch standen. Sie standen aber nicht in Gebrauch, weil‘s irgendein Bischof angeordnet hätte, sondern weil sich der Hl. Geist offensichtlich dieser Schriften bediente, um immer wieder Glauben zu wecken. Die neutestamentlichen Schriften imponierten also durch die ihnen innewohnende Kraft. Man hat sie immer wieder abgeschrieben und weitergegeben, während man andere vergaß. Sie setzten sich selbst durch, weil sie mehr konnten als jene anderen. Denn der Hl. Geist hatte sich in den Schriften der Apostel höchst effektive Werkzeuge geschmiedet – und er benutzte sie täglich, um Menschen für Christus zu gewinnen. Das geschah durch andere Texte nicht im selben Maße! Und so hat das Konzil dem Neuen Testament nicht eine Autorität verliehen, die vorher fehlte, sondern hat bloß festgestellt, welche 27 Schriften sie besitzen. Die wurden nicht als „kanonisch“ proklamiert, damit sie anerkannt würden, sondern weil sie anerkannt waren. Denn Gottes Wort hatte sich schon Geltung verschafft – und war dazu nicht auf Beschlüsse einer klerikalen Versammlung angewiesen, sondern diese Beschlüsse hielten nur fest, was Gottes Geist getan hatte. Zur Abgrenzung gegen Irrlehrer war das auch nötig. Es entsprach aber nicht dem Tun einer „gesetzgebenden Versammlung“, die Normen erst schafft, sondern entsprach viel eher dem Zeugnis Johannes des Täufers. Johannes verkündete, Christus sei das Lamm Gottes, und er selbst sei nicht wert, ihm die Schuhriemen zu lösen (Joh 1,27.29.36). Aber hat Johannes damit dem Sohn Gottes Autorität verliehen? Natürlich nicht! Er hat bloß kundgetan, dass Christus diese Autorität besitzt. Denn wer den Messias erkennt, hat ihn dadurch nicht zum Messias gemacht. Der Fingerzeig des Johannes konnte der Vollmacht Christi weder etwas hinzufügen noch etwas wegnehmen. Und so waren auch die biblischen Schriften schon auserwählte Werkzeuge des Hl. Geistes, bevor irgendein Kirchenmann das begriff und bezeugte. Als die Kirche die Schriften des Kanons dann benannte, wurde sie darin vom Heiligen Geist geführt. Doch leider gilt das von ihren späteren Beschlüssen nicht mehr. Wer einmal das Rechte trifft, hat darum nicht immer Recht. Sondern man muss die katholische Kirche fragen, warum sie (wenn sie doch so weise war, den Kanon des Neuen Testaments richtig abzugrenzen) später so viele Lehren aufgebracht hat, die sich aus diesem Kanon nicht begründen lassen. Es ist lobenswert, wenn der Katholizismus den Umfang der Hl. Schrift korrekt benennt. Aber warum vertritt er dann Dogmen, die in der Schrift keinen Anhalt haben? Was nützt es, sich „apostolisch“ zu nennen, wenn man nicht auch inhaltlich mit den Aposteln konform geht? Wer einmal von Gottes Geist geführt wurde, ist darum nicht unfehlbar. Denn als Petrus bekannte, Christus sei Gottes Sohn, hatte ihm das nicht Fleisch und Blut offenbart, sondern Gott selbst (Mt 16,13-17). Als er aber später seinen Herrn verleugnete, wurde er in diesem Verleugnen schwerlich vom Hl. Geist geführt (Mt 26, 69-75). Weder ist aus dem Fehltritt des Petrus zu folgern, dass er immer irrte, noch ist aus seinem Bekenntnis zu folgern, dass er jederzeit erleuchtet gewesen wäre. Und dasselbe gilt von der katholischen Kirche. Denn sie hat den Kanon zwar richtig abgegrenzt, damit er Basis und Maßstab ihrer Lehre sei. Doch sie ist der eigenen Weisheit dann keineswegs gefolgt (sie ließ die Hl. Schrift nicht als alleinige Norm gelten, wie’s richtig gewesen wäre), sondern hat als gleichrangige, zweite Quelle ihrer Lehre die „Tradition“ daneben gestellt – nämlich die mündliche Überlieferung und die Schriften der Kirchenväter. Die sollen nach katholischer Überzeugung „mit gleicher Liebe und Wertschätzung“ aufgenommen werden wie der biblische Text! Und wo „Schrift“ und „Tradition“ nicht dasselbe sagen, übernimmt es das päpstliche Lehramt, aus beiden Quellen auszuwählen, was den Katholiken dann als zu glaubendes Dogma vorgelegt wird. Mit diesem Kunstgriff schiebt sich die katholische Kirche als vermittelnde Instanz zwischen den Christen und Gottes Wort. Und niemand soll sich unterstehen, das Neue Testament anders auszulegen als das römische Lehramt! So liest man zwar die Heilige Schrift, und doch nützt es nichts, weil man ihr die „Tradition“ gleichrangig zur Seite stellt – und für Rom das Auslegungsmonopol beansprucht. Man lässt die Autorität der Schrift nicht zur Geltung kommen, weil sie angeblich so dunkel und schwer verständlich ist, dass sie einer verbindlichen Auslegung durch die römische Kirche bedarf. Der Papst maßt sich an, diejenigen Glaubenssätze zusammenzustellen, die alle Christen auf seine Autorität hin für wahr halten sollen. Und so hat man das Neue Testament zwar als Regel und Richtschnur des Glaubens gepriesen. Doch tatsächlich war das Vertrauen in die Schrift so gering, dass man den katholischen Laien zeitweise das Lesen der Bibel verbot. Statt mit dem anvertrauten Pfund zu wuchern, hat man es vergraben. Und die Strafe folgte auf dem Fuß. Denn je deutlicher sich das Lehramt über Gottes Wort stellte, desto weniger wurde die katholische Kirche durch Gottes Geist geführt. Sie entfernte sich mit unbiblischen Dogmen und abergläubischen Bräuchen immer weiter vom rechten Weg – und war selbst schuld. Denn Gottes Wort hätte „ihres Fußes Leuchte“ sein können. Sie aber begrub dieses Licht unter menschlichen Satzungen. Wenn das aber der falsche Weg ist – wie gehen wir dann mit dem Kanon um? Und worauf beruht seine Geltung? Müssen wir erst jede urchristliche Schrift daraufhin prüfen, ob sie zurecht im Neuen Testament steht – oder zurecht nicht darin enthalten ist? Wer das prüfen möchte, wird nicht gehindert, sondern bekommt drei Kriterien an die Hand:

(1.) Das authentische Evangelium wird an seinem Inhalt erkannt, weil Christus angekündigt hat, der Heilige Geist werde von ihm Zeugnis geben (Joh 15,26; 16,14). Und folglich ist nichts als „apostolisch“ und „kanonisch“ anzusehen, das nicht „Christum treibet“, das also nicht zum Glauben an Christus führt und drängt. Darin, sagt Luther, stimmen alle heiligen Bücher überein, dass sie Christum predigen – und daran erkennt man sie auch.

(2.) Weil manche Bücher aus späterer Zeit nicht minder „Christum treiben“, gilt es jene auszuschließen, die das Evangelium nur aus dritter, vierter oder fünfter Hand übernehmen – und darum der Zeit der Apostel so fern stehen, dass sie nicht als ursprüngliches, sondern nur als abgeleitetes Evangelium gelten können. Sie schöpfen aus der Quelle, sind aber nicht selbst die Quelle. Und so ist es für kanonische Schriften wesentlich, dass man sie als ursprünglichen „Originalton“ auf Apostel oder Apostel-Schüler zurückführen kann.

(3.) Darüber hinaus gehört aber nichts in den Kanon, das mit den dort versammelten Stimmen in Widerspruch steht. Denn es ist zwar offenkundig, dass der Hl. Geist im Neuen Testament durch verschiedene Autoren verschiedene Akzente setzt. Es wäre aber seltsam, wenn er durch den einen Autor behauptete, was er durch den anderen bestreitet. Und so gehören Schriften, die Irrlehren enthalten, nicht ins Neue Testament.

Wer will, kann also eine Prüfung vornehmen. Er wird auch außerhalb des Kanons Wertvolles finden – und mag dann diskutieren, ob nicht dieser oder jener Text auch im Neuen Testament stehen könnte. Doch wird das nur für wenige Christen eine drängende Frage sein. Denn eine Quelle erweist ihre Qualität dadurch, dass sie sprudelt. Und die biblische Quelle gibt seit zweitausend Jahren konkurrenzlos klares Wasser. Täte sie‘s nicht, so nützte auch kein „Beweis“ ihrer Autorität. Tut sie’s aber, braucht man keinen weiteren „Beweis“. Denn eben der Kanon, über dessen Grenzen sich die Christenheit im Wesentlichen einig ist, hat Jahrhunderte lang immer neuen Glauben geweckt. Und wann immer sich die Kirche auf die Autorität dieser Schriften besann, haben sie ihren Kurs wirkungsvoll korrigiert. Man denke nur an die gewaltige Dynamik, die das Evangelium in der Reformation entfaltete! Diesem Kanon (und keinem anderen) verdankt der einzelne Christ sein Christ-Sein, weil er Christus ja gar nicht anders kennt, als aus dem Neuen Testament. Und nun soll er diesen Schriften als „Prüfer“ gegenübertreten – nachdem er von ihrer Botschaft getroffen und zum Glauben überwunden wurde? Mir scheint das ziemlich überflüssig. Denn wenn mich die Sonne geblendet hat, muss ich dann noch prüfen, ob sie hell ist? Stehe ich seit Jahr und Tag auf dem Boden der Schrift, muss ich dann noch prüfen, ob er mein Gewicht trägt? Trinke ich täglich aus der Quelle des Neuen Testaments, muss ich dann noch prüfen, ob sie klares Wasser gibt? Fände ich Gottes Wort nicht im Neuen Testament, fände ich es doch nirgends – fände ich es aber nirgends, wäre ich auch kein Christ! So müsste mir im Grunde schon die Wirkung, die das Wort auf mich selbst hat, vollauf genügen, um seine Autorität zu beglaubigen. Hätte ich seine überführende Wirkung aber nicht erfahren – was nützte mir dann der Beschluss eines Konzils oder das Gutachten noch so vieler Gelehrter? Wenn mich Gottes Wort derart trifft, dass es mich umwirft – liegt dann der Nachweis seiner Kraft nicht schon darin, dass ich am Boden bin? Wirft es mich aber nicht um – was nützen dann die Beteuerungen anderer Leute, dieses Wort habe große Kraft? So ist eine „Prüfung“ zwar möglich. Der Nutzen scheint mir aber zweifelhaft. Denn wer glaubt, braucht sie nicht. Und wer nicht glaubt, den überzeugt sie nicht. Dem Christen ist die Autorität der Schrift evident aus der Wirkung, die sie auf ihn hat. Und dem Zweifler ist sie zweifelhaft, weil die Schrift noch nicht durchschlagend auf ihn wirkte. Keiner muss dem anderen seine innere Erfahrung bestreiten. Doch es kann auch schwerlich einer dem anderen durch Argumente auf die Sprünge helfen. Denn wenn Gott Gott ist, muss sein Wort die höchste aller Autoritäten sein. Und jede Argumentation zu seiner Beglaubigung würde die höchste Autorität von einer niederen ableiten – was schon ein Widerspruch in sich ist. Die Voraussetzungen, aus denen ich etwas folgere, müssen immer gewisser sein als das, worauf ich schließen will. Die Prämissen müssen fest stehen, um die Konklusion wahrscheinlich zu machen. Und so brächte jede historische, philosophische oder ästhetische Argumentation die Schriftautorität in Abhängigkeit von historischen, philosophischen oder ästhetischen Prämissen. Man empfiehlt dann die Hl. Schrift, weil sie alt und authentisch ist, schön und einleuchtend, berühmt und anerkannt, bewährt und weise, tief in ihren Gedanken und vornehm im Stil. Und obwohl nichts davon gelogen ist, trifft es doch nicht den Punkt. Denn Gottes Wort ist nun mal durch den verbindlich, der es redet, weil er’s redet. Dieser Sprecher hat seine Autorität von keinem anderen als von sich selbst. Und dasjenige begründen zu wollen, was seinerseits alles andere begründet, ist ein absurdes Unterfangen. Es läuft auf den Versuch hinaus, das einzige abzuleiten, was nicht abgeleitet, sondern durch sich selbst verbindlich ist. Und so empfiehlt man dann mit goldenen Worten das Wort des Höchsten, das gar keine Empfehlungen nötig hat. Denn was aus Gottes Geist gekommen ist – mit welchem menschlichen Maßstab ließe sich das messen? Gottes Wort beurteilt alles. Es kann aber selbst keiner Beurteilung unterliegen. Und so sind hier jeglicher Argumentation enge Grenzen gesetzt. Denn der Gläubige braucht sie nicht. Und den Ungläubigen überzeugt sie nicht. Vielleicht wär‘s uns sogar lieber, wenn da mit menschlichen Vernunftgründen und Machtsprüchen etwas zu erreichen wäre! Doch Gott hat sich vorbehalten, Glauben zu wecken. Und darum ist die Bibel nicht nur der Entstehung, sondern auch der Wirkung nach sein Buch und sein Instrument. Sie beglaubigt sich durch die Kraft, mit der sie uns wandelt und zur Wahrheit überführt. Und so hat Calvin völlig Recht: „Das Zeugnis des Heiligen Geistes ist besser als alle Beweise. Denn wie Gott selbst in seinem Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selber ist, so wird auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist. Denn derselbe Geist, der durch den Mund der Propheten gesprochen hat, der muss in unser Herz dringen, um uns die Gewissheit zu schenken, dass sie treulich verkündet haben, was ihnen von Gott aufgetragen war.“ Weil das stimmt (weil Gott selbst beglaubigt, was er durch die Apostel hat niederschreiben lassen), ist die Kanonsfrage nur scheinbar ein großes Problem, ist in Wahrheit aber keins. Denn wenn ich als Christ glaube, dass Gott sich in Christus nicht bloß der ersten, sondern viele Generationen offenbaren wollte, und ich dem Allmächtigen zutrauen darf, dass er sich zu seinen Zwecken auch die kommunikativen Mittel zu schaffen weiß, wenn aber die späteren Generationen durch keine andere Quelle von Christus erfahren als durch das Neue Testament, durch das schließlich auch ich selbst zum Christen wurde: Sollte ich Gott dann für einen Stümper halten, der sich zwar herrlich offenbart hat, dann aber bei der Überlieferung des Geoffenbarten Fehler machte, pfuschte und versagte? Sollte ich wirklich annehmen, der Hl. Geist habe bei der Abfassung des Neue Testaments nicht aufgepasst – und nun sei der Kanon untauglich, Gottes Ziele zu verwirklichen? Wenn ich aber (ganz im Gegenteil!) an mir selbst und an Millionen anderen sehe, wie das Neue Testament seine Aufgabe wunderbar erfüllt, Menschen durch den Glauben in die Gemeinschaft mit Gott zurückzuführen – muss ich dann noch fragen, ob das Neue Testament auch kann, was es tut, und ob es dazu die nötige Autorität besitzt? Ja, wäre ich selbst denn Christ, wenn ich das nicht bejahte, oder könnte ich Christ bleiben, wenn ich es verneinte? So ist die Normativität der Hl. Schrift für Christen kein wirkliches Problem. Und den Nicht-Christen kann allein Gott die Augen öffnen. Konzilsbeschlüsse tun dabei aber nichts zur Sache, weil der Epheserbrief ja Recht hat. Die Kirche ist erbaut „auf den Grund der Apostel und Propheten“ (Eph 2,20). Und andersherum wird es niemals sein. 

 

 

Bild am Seitenanfang: Reading Priest (Ausschnitt)

Ferdinand Hodler, Public domain, via Artvee