Die Unerforschlichkeit Gottes

Die Unerforschlichkeit Gottes

Was tut ein Mensch, wenn etwas „Neues“ in seinen Gesichtskreis tritt? Wie verhalten wir uns, wenn Unbekanntes im Horizont unseres Lebens erscheint? Nun: Gewöhnlich nähern wir uns der Sache vorsichtig und absichtsvoll. Wir betrachten das Objekt von verschiedenen Seiten, um herauszufinden, worum es sich handelt. Wir prüfen und untersuchen. Wir beobachten und testen. Wir tun das aber nicht aus reiner Neugier. Nein. Unser „Forscherdrang“ hat ganz praktische Gründe. Denn der Mensch, dem etwas „Neues“ begegnet, will herausfinden, welche Rolle es in seinem Leben spielen könnte. Gehen etwa Gefahren davon aus? Oder liegen Chancen darin verborgen? Ist sein Verhalten berechenbar? Kann man es als Werkzeug benutzen? Ist es meinen Absichten im Weg? Oder könnte es wertvoll sein?

Egal ob es sich um eine Person handelt, um eine Idee, einen Gegenstand oder etwa eine neue Gesetzgebung – unser Interesse ist stets darauf gerichtet, nutzbringende Informationen zu sammeln. Wir versuchen das Objekt möglichst umfassend zu erkennen, um es in Erfolg versprechender Weise in unser eigenes Lebenskonzept einbauen zu können. Wir setzen es zu den eigenen Wünschen und Zielen in Beziehung. Wir prüfen, inwiefern es sie fördert oder hindert. Und wir entwickeln aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse neue Strategien des Handelns. Menschliches Erkennen ist darum nie „zweckfrei“ und Forschung nie „absichtslos“. Vielmehr soll sie uns das Wissen verschaffen, das wir brauchen, um die uns umgebende Welt möglichst erfolgreich beeinflussen und steuern zu können.

Wir studieren die Naturgesetze, um uns ihrer bedienen zu können. Wir studieren die menschliche Psyche, um das Verhalten unserer Mitmenschen besser vorhersehen zu können. Wir studieren die Regeln des Marktes, um Gewinn bringend investieren zu können. Das alles ist normal. Und im Blick auf die uns umgebende Welt ist es auch ganz unproblematisch. Nur: Was geschieht, wenn wir uns in derselben Weise Gott zuwenden?

Wir tun das mit großer Selbstverständlichkeit. Denn warum sollte man vom bewährten Verhaltensmuster abweichen? Wenn Gott da ist, so wollen wir auch diesen „Faktor“ in unsere Pläne einkalkulieren. Und um das tun zu können, muss man ihn möglichst genau kennen. Also macht der Mensch „Gott“ zum Objekt seiner Studien. Er prüft, inwiefern ihm „Gott“ nützen oder schaden könnte. Und er tut das – wie gewohnt – in der Absicht, auch den Faktor „Gott“ in die eigenen Strategien einzubeziehen. Vielleicht kann man ja durch Gebete und Opfer auf Gott einwirken? Vielleicht kann man sich mit ihm verbünden? Vielleicht kann man ihn durch gute Taten günstig stimmen? Vieles, was die Menschen „Religion“ nennen, hat nur diesen einen Zweck: Nämlich mit Hilfe göttlicher Kräfte die eigenen Pläne zum Ziel zu führen.

Doch dazu muss man Gott kennen. Und darin liegt eine große Schwierigkeit. Denn Gott lässt sich ja nicht testen, messen oder wiegen. Er ist kein totes Objekt, das man unters Mikroskop legen könnte. Er entzieht sich unseren Experimenten. Und er gibt auch keine Interviews. Er lässt sich nicht wie eine Laborratte manipulieren. Und er lässt sich nicht nach Art einer chemischen Verbindung analysieren. Mit anderen Worten: Die Methodik, mit der wir uns anderen Teilen unserer Lebenswelt erfolgreich nähern, lässt sich auf „Gott“ nicht anwenden. Unser gewohntes Instrumentarium ist diesem Gegenstand nicht angemessen. Und was noch schlimmer ist: Der „Gegenstand“ Gott erweist sich bei näherer Betrachtung als ein lebendiges Gegenüber, das sich nicht in die Rolle eines „Studienobjektes“ fügt. Wenn wir von ferne beginnen, etwas von ihm zu begreifen, dann ist es seine Unbegreiflichkeit. Es ist Teil seines Wesens „unerforschlich“ zu sein. Und je näher wir ihm kommen, desto mehr kehrt sich die Rollenverteilung um.

Der Mensch, der ausgezogen war, um das Phänomen „Gott“ zu beschauen, bemerkt plötzlich, dass das „Phänomen“ ihn anschaut. Statt unsere Fragen zu beantworten, hinterfragt Gott uns. Er lässt sich nicht prüfen, sondern er prüft. Und der Mensch, dem das bewusst wird, schreckt zurück. Denn je näher er Gott kommt, desto mehr nimmt ihm Gott das Heft aus der Hand. Der Mensch wollte etwas über Gott in Erfahrung bringen. Doch plötzlich erfährt er ganz viel über sich selbst: Er erkennt Gottes Heiligkeit und erschrickt über die eigene Schuld. Er erkennt Gottes Ewigkeit und erschrickt über die eigene Vergänglichkeit. Er erkennt Gottes Gebot und erschrickt über die eigene Verantwortung. Gotteserkenntnis schlägt um in überraschende Selbsterkenntnis. Und diese Selbsterkenntnis entwickelt eine unliebsame Dynamik. Denn der Mensch spürt, dass er die Kontrolle verliert. Er spürt, dass die Nähe Gottes sein Denken und sein Leben völlig verändert. Und er zweifelt, ob er das zulassen will. Denn wenn Gott wirklich der „Herr“ ist, dann sind wir es ja nicht mehr.

Die Neugier auf „Gott“ beginnt an dieser Stelle gefährlich zu werden – gefährlich für unser Weltbild, in dem das „Ich“ beherrschend im Mittelpunkt steht. Und wenn man nicht die Notbremse zieht, dann „kippt“ die ganze Situation. Denn aus dem unverbindlichen Nachdenken über Gott wird dann eine Begegnung, in der nicht mehr „Gott“ das Objekt meiner Betrachtung ist. Vielmehr entdecke ich, dass ich von Anbeginn meines Daseins an ein Objekt seiner Betrachtung bin. Und die Frage ist plötzlich nicht mehr, was ich über Gott, sondern was er über mich denkt.

Das ist eine beunruhigende Frage. Und doch: Erst wenn ich diese Frage zulasse, nähere ich mich der Wahrheit. Denn Gott ist tatsächlich ein „Gegenstand“, der erst erkannt ist, wenn wir uns von ihm erkannt wissen. Da suchen wir dann nicht mehr, sondern wissen uns gefunden. Da durchschauen wir nicht, sondern wissen uns durchschaut. Und erst in dem Moment, wo wir dieses „Wissen“ zulassen, erst wenn wir Gottes auf uns gerichteten Blick aushalten, haben wir begonnen zu glauben...

Freilich: Viele Menschen lassen es so weit nicht kommen. Sie interessieren sich für Gott nur so lange, wie sie hoffen, ihn nutzbringend in ihr bestehendes Lebenskonzept einbauen zu können. Wenn sie aber merken, dass er dieses Lebenskonzept umkrempeln würde, schrecken sie zurück. Sie spüren, dass sie in der Begegnung mit Gott nicht „souverän“ und „autonom“ bleiben könnten. Sie müssten seine Überlegenheit anerkennen. Sie wären auf seine Gnade angewiesen. Sie müssten seinen Plänen Vorrang einräumen vor den eigenen. Und das wollen sie nicht. Darum gehen sie bald wieder auf Distanz und nehmen wieder die Rolle des kritischen Betrachters ein, der einen „Gegenstand“ untersucht.

Bevor Gott ihnen zu nahe kommt, berufen sie sich laut auf allerhand Zweifel (die man ja wohl haben darf!) – und reduzieren damit Gott wieder auf eine ungefährliche, diskutable Größe. Denn solange die Prüfung seiner Ansprüche nicht abgeschlossen ist, kann ja niemand erwarten, dass man diesen Ansprüchen genügt. „Die Sache mit Gott“ bleibt dann in der Schwebe. Und der Mensch, der diese schwebende Skepsis zur Lebenshaltung macht, hat sich erfolgreich vor Gott in Sicherheit gebracht. Nur leider: Er bleibt auf diese Weise ein „Trockenschwimmer“, der am Beckenrand steht und über das Schwimmen diskutiert, ohne jemals nass zu werden.

Statt zu glauben, denkt er über den Glauben nach. Statt religiös zu sein, spielt er mit der Möglichkeit der Religion. Und statt mit Gott zu reden, redet er „über“ ihn. Das führt natürlich zu nichts. Es ist unfruchtbar. Und darum kann man nur alle Menschen ermutigen, den Weg der Erkenntnis zu Ende zu gehen.

Wir stoßen dabei zwar an unsere Grenzen. Wir erfahren, dass Gott ein „Gegenstand“ ist, dessen wir uns nicht erkennend bemächtigen können, der sich vielmehr unser bemächtigt. Aber wo wir das zulassen, da betreten wir das Land des Glaubens – und begreifen, wie die Rollen in Wahrheit verteilt sind: Nicht wir integrieren Gott in unsere Pläne, sondern er integriert uns in seine. Und die zentrale Frage unseres Lebens ist darum auch nicht, was wir über ihn denken, sondern was er über uns denkt.

 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Der Mönch am Meer

Caspar David Friedrich, Public domain, via Wikimedia Commons