Von der guten Traurigkeit
Lasst euer Leid zur Welle werden,
die euch an das Ufer der ewigen Heimat trägt.
Fritz von Bodelschwingh
Kürzlich schrieb mir jemand, er sei oft traurig, verstimmt und griesgrämig – er sei schon immer ein schwermütig-melancholischer Typ gewesen. Und nun fühle er sich schlecht, weil‘s im Neuen Testament doch so oft heißt, dass man sich freuen soll. Ja, er zweifle an seinem Glauben, weil man doch hört, ein wichtiges Merkmal des Glaubens sei die Freude – und wenn der Glaube nicht zur Freude führe, dann sei er nicht echt. Da sitzt er dann in seinem Trübsinn und fühlt sich doppelt schlecht, weil ihn das Christ-Sein verpflichten würde froh zu sein. Aber eine Freude zu heucheln, die er nicht empfindet, wäre doch erst recht verkehrt. Was soll er also tun? Nun, zum einen erlaube ich mir den Hinweis, dass Christen zwar zur Freude befreit, aber nicht verpflichtet sind. Man bringt Gefühle nicht auf Kommando hervor. Und zum anderen gibt es in der Bibel eine Menge gläubiger Menschen, die trotzdem aus gutem Grund traurig sind. Beweinte man nicht zurecht die Kinder, die Herodes in Bethlehem ermorden ließ (Mt 2,18)? Und hat nicht Jesus über die Stadt Jerusalem geweint, deren Untergang er voraussah (Lk 19,41-44)? Hat er nicht auch im Garten Gethsemane lange getrauert und gezagt (Mt 26,37)? Und war der verlorene Sohn nicht zurecht traurig, als er hungrig bei den Schweinen saß und seine Schuld erkannte (Lk 15,11ff.)? Hat nicht Petrus bitterlich geweint, nachdem er seinen Herrn verleugnete, wie auch Jesus weinte, als Lazarus im Grab lag (Mt 26,75; Joh 11,35)? Stand der Zöllner nicht zurecht traurig im Tempel, schlug sich an die Brust und machte sich Vorwürfe (Lk 18,9-14)? Sagt nicht auch Paulus, er habe allzeit große Traurigkeit im Herzen, weil das jüdisches Volk Christus nicht als seinen Heiland anerkennt (Röm 9,1-5)? Oh, die Bibel kennt viele gute Gründe, traurig zu sein! Und sie macht keinem ein Vorwurf daraus, wenn er seine Toten beklagt, die eigene Dummheit beklagt – oder sonst ein Unglück. So sehr Freude im Glauben begründet ist, wird sie doch nirgends zum Gesetz erhoben. Und von niemand wird verlangt, er solle unempfindsam sein wie ein Klotz – oder solle grinsend durchs Leben gehen, wenn ihm nicht danach ist. Wohl hat ein Christ Grund zum Jubel, weil er erlöst ist und auf die himmlische Vollendung zugeht! Aber dass für diese Erlösung Christus sterben musste, ist nach wie vor betrüblich. Und dass die Welt derzeit noch voller Bosheit und Verderbnis ist, kann auch keiner leugnen. Traurigkeit ist darum sehr wohl erlaubt. Und unsre Frage muss eher lauten, ob sie denn auch zu etwas gut sein kann. Denn was ist das überhaupt, was wir „Traurigkeit“ nennen? Und worüber weinen wir? Ich meine, die große Betrübnis ist ihrem Ursprung nach weniger ein Gefühl als eine Erkenntnis. Traurigkeit ist die Erkenntnis, dass schlecht war, was hätte gut sein können. Oder, ins Persönliche gewendet: sie ist die Einsicht, dass wir nicht zu sein vermochten, wie wir hätten sein sollen. Traurigkeit bilanziert gute Absichten im Verhältnis zu schlechten Folgen. Und sie stellt fest, dass man eine Fülle von Chancen zu nutzen versäumte. Traurigkeit setzt Anstrengungen ins Verhältnis zu verfehlten Zielen. Sie blickt betroffen auf all das, was gut gemeint und doch vergeblich war. Und die tiefste Traurigkeit entspringt wohl der Enttäuschung, die man sich selbst bereitet hat, weil man doch großartig sein und gut von sich denken wollte, sich dazu aber nicht wirklich berechtigt findet – und auch keinen anderen weiß, dem man‘s vorwerfen könnte. Das Versagen anderer macht uns nie so traurig wie das eigene, denn fremdes Versagen verschafft uns das Gefühl relativer Überlegenheit. Doch das Missfallen an der eigenen Person, von der man gern höher dächte, das erbittert uns. Und entscheidend ist dabei das Empfinden der eigenen Ohnmacht. Denn solang wir die Möglichkeit haben, weichen wir der Traurigkeit aus. Können wir einen Verlust mit aktivem Einsatz verhindern, so werden wir tätig, packen an, greifen zu und verschieben das Trauern auf später. Könnte ein anderer den Verlust mit seinem Einsatz verhindern, dann demonstrieren und appellieren wir, schreiben Pamphlete, liegen den Mächtigen in den Ohren und verschieben das Trauern auf später. Ist der Verlust eingetreten, können wir immernoch eine Zeit lang Schuld zuweisen, Vorwürfe machen, Strafe fordern oder Rache üben. Auch so bleiben wir aktiv. Doch irgendwann, wenn wir uns eingestehen, dass wir nichts mehr tun können, holt uns die Traurigkeit ein – und das Gefühl der Ohnmacht trifft uns mit Wucht. Denn Trauer ist im Kern eine Form von Hilflosigkeit. Wir sehen, dass schlecht ist, was gut sein sollte. Und wenn sich diese Einsicht nicht in Aktivitäten ein Ventil schaffen kann, dann lähmt sie uns, setzt uns Schachmatt und legt sich mit bleierner Schwere auf unsre Schultern. Wir müssen hinnehmen, was nicht zu ändern ist. Und dass wir machtlos danebenstehen, kränkt uns gewaltig. Ja, Traurigkeit ist im Kern die Beschämung, etwas zu lieben, das wir verloren geben müssen. Denn wer das Verlorene nicht liebte, müsste nicht drum trauern. Und wer unbegrenzt mächtig wäre, müsste es sich nicht nehmen lassen. Wer aber große Liebe hat und zugleich nur kleine Macht, der ist der Traurigkeit ausgeliefert und spürt sie auch physisch. Denn abgesehen davon, dass sie die Kehle zuschnürt, geht Traurigkeit mit erschlaffter Muskulatur einher. Um aktiv Hilfe zu leisten, braucht man Körperspannung – wie auch zum Protest, zum Kampf, zur Flucht oder zum Zorn. Doch Traurigkeit ist die müde Erschlaffung des zur Passivität Verurteilten, der den Verlust nicht hinnehmen will – und doch nur hilflos und nutzlos aus den Augen tropfen und jammern kann. Er holt das Versäumte nicht zurück, seine Welt liegt in Scherben und seine Hingabe läuft ins Leere, denn was ihm kostbar ist, wird ihm genommen. Er kann es weder festhalten noch schützen, kann die Uhr nicht zurückdrehen und dem Elend nicht Einhalt gebieten. Er wird des Geschehens nicht Herr, sondern muss blutenden Herzens mit ansehen, wie seine Welt ärmer wird. Er hat keine Kontrolle, hat aber den Schaden – und ist somit ein Zuschauer des eigenen Niedergangs. Er wollte beglücken und beglückt werden – und findet nun, dass er des einen nicht fähig und des anderen nicht würdig war. Das Schicksal belehrt ihn darüber, dass er seine Rolle im Universum überschätzt hat. Er muss erkennen, dass er der Welt viel weniger bedeutet als sie ihm. Ja, er gleicht einem Mann, der sein Leben erzählt und feststellen muss, dass ihm keiner zuhört – der das aber nach einigem Nachdenken nicht mal übel nehmen kann, weil er die Geschichte seines Lebens selbst weder spannend noch erbaulich findet. Da ist dann Traurigkeit die Enttäuschung an sich selbst, weil der Mensch wider Erwarten so gar nicht Herr seiner Lage ist. In der Jugend meinte er noch, eine Zierde der Menschheit zu sein – und für viele ein wichtiger Teil ihres Lebens. Aber komisch – die meisten empfanden es gar nicht als Verlust, als er aus ihrem Leben verschwand. So trauert er dann um das, was er versäumte zu sein. Und um der Wahrhaftigkeit willen muss er gegen sich selbst Partei ergreifen. Denn zeitlebens tat er alles aus Liebe zu sich selbst – und findet sich am Ende dieses Aufwands gar nicht wert. Ja, er missfällt sich selbst und ahnt, dass er eines Tages nicht ganz zu Unrecht stirbt. Doch – ist solche Traurigkeit wirklich ein Unglück? Ist sie nicht vielleicht ein Durchbruch zu tieferer Erkenntnis – und somit als Fortschritt anzusehen? Kann der Zusammenbruch einer falschen Fassade nicht auch heilsam sein? Tatsächlich ähnelt die große Traurigkeit dem Moment, in dem einer, der sein Leben lang von Eigenliebe besoffen war, zum ersten Mal nüchtern wird. Doch wenn er dann nicht vor Schreck den Fehler macht sich zu erschießen, hat er mit einem Schlag viel an Demut und an Klarheit gewonnen. Denn was er mit Ernüchterung sieht, ist ja wahr: All unsre Kostbarkeiten versinken einmal dort, wo wir keinen Zugriff mehr haben. Wir sind überzeugt, nicht ohne sie leben zu können – und machen darum viel Geschrei. Doch danach geht es trotzdem weiter. Wohl haben wir ein Loch in der Seele und der Wind pfeift hindurch. Doch sind wir in der Schule der Traurigkeit keine schlechteren Menschen geworden, sondern – nein: Willkommen im Club der Loser, der Bankrotteure und geständigen Sünder! Hier ist der dumme Stolz gebrochen, und keiner spielt sich mehr auf. Unter den Traurigen erhebt keiner mehr große Ansprüche und keiner nimmt sich selbst zu ernst. Denn der Offenbarungseid ist geleistet, der Lack ist ab, man hat sich hinreichend blamiert – und nach der großen Traurigkeit hält sich auch keiner mehr für edel oder erhaben. In diesem Club wissen aber alle, was Gnade ist, und dass sie sie bitter nötig haben. Denn wir reden hier von der gute Traurigkeit, von der schon Paulus sagte, sie sei eine Reue, die niemanden reut (2. Kor 7,10). Freilich gibt es auch eine schlechte Traurigkeit, bei der sich einer an der Welt bloß zu Tode ärgert. Und diese Traurigkeit ist überhaupt nicht hilfreich. Da will der Mensch mit Gewalt sein Glück erzwingen, überfordert damit sich und auch den Rest der Welt, frisst die Bitternis in sich hinein, flucht seinem Schöpfer und fährt zur Hölle! Die schlechte Traurigkeit beklagt nur das Scheitern der eigenen Wünsche, denn sie kommt aus der Eigenliebe, die unbedingt Recht behalten will. Sie ist bodenlos und verschlingt den Menschen mit Haut und Haar, ja sie zieht ihn in ein schwarzes Loch der Depression, aus dem er nie wieder herausfindet. Die schlechte Traurigkeit macht selbst das madig, was (bei Licht betrachtet) gut war. Der böse Trübsinn wirkt nur Verderben und ist ein Werk des Teufels! Die gute Traurigkeit hingegen ist völlig anders, ist nötig und heilsam zugleich, weil der Weg zum Glauben nicht an ihr vorbei führt, sondern mitten durch die gute Traurigkeit hindurch. Auch da erheben wir ein großes Wehgeschrei, weil unsre Träume untergehen. Aber bevor es uns ganz zerreißt, lassen wir sie fahren und bescheiden uns stattdessen mit Gottes Barmherzigkeit. Denn durch die gute Traurigkeit tut sich die Alternative des Glaubens auf. Da sind wir innerlich ganz verarmt, werden mit der Zeit aber immer reicher in Gott. Wir finden Trost nicht mehr in dem, was wir selbst sind und können, sondern in dem, was Gott ist und kann. Und – im Blick auf uns selbst vollkommen ernüchtert – freuen wir uns nur noch an Gottes Wahrheit, an seinem Recht und seiner Herrlichkeit. Da sind wir massiv enttäuscht von uns selbst und der treulosen Welt, sind aber gar nicht enttäuscht von Gott. Und weil es ihm gefällt, uns aufzufangen und zu bewahren, ist solche Traurigkeit (zwar nicht im Prozess, aber im Ergebnis) eine fröhliche Sache. Im Rückblick bleibt es bei einem vollständigen Bankrott. Denn wir betrauern all das, was wir in unserem Leben hätten sein sollen, und nicht waren. Wir betrauern unsre vergeudeten Gaben und Potentiale – und dass wir aus unsrer Zeit so wenig Gutes gemacht haben. Wir erkennen, wie dumm es war, bestimmte Menschen zu verletzen und zu enttäuschen. Wir sehen, wo wir mit anderen zu hart und mit uns selbst zu nachgiebig waren. Wir schämen uns, weil wir für Gutes zu danken vergaßen – und dafür Schlechtem hinterhergelaufen sind. Manchem haben wir das Leben zur Hölle gemacht, bei dem wir uns heute nicht mehr entschuldigen können. Und viel Böses haben wir bloß unterlassen, weil wir nicht erwischt werden wollten. Ja, aufs Ganze gesehen ist unser Leben ein Desaster – eine ungeheure Verschwendung ungenutzter Chancen. Wir haben es Gott schlecht gedankt, dass er uns schuf. Wir könnten endlos drüber weinen! Und doch ist es kein Schaden, wenn wir dergestalt an uns selbst verzweifeln. Denn es führt uns an die Schwelle der Gnade – und schubst uns sanft hinüber. In guter Traurigkeit können wir nichts mehr von uns selbst erwarten, sondern alles nur noch von Gott. Der aber lässt uns nicht hängen. Und so ergeht es uns wie dem Schiffbrüchigen, der nach einem furchtbaren Sturm abgerissen und zerschunden ans Ufer einer herrlichen Insel gespült wird. Der Sturm hat alles zerschlagen. Unser stolzes Schiff ist gesunken und die Ladung verloren. Was unsre Eigenliebe wichtig nahm, liegt auf dem Grund des Ozeans. Doch Robinson muss dem nicht hinterherweinen. Denn angespült auf der Insel der Gnade findet er dort alles, was er zum Leben braucht. Da ist gut sein! Und so schön ist es, dass er rückblickend seinen Schiffbruch gar nicht bedauern kann. Die gute Traurigkeit hat ihn eines schlechten Lebens beraubt, um ihm dafür ein besseres zu schenken. Viel unnützer Ballast ist versunken. Aber die Freude in Gott ist besser, als der irdische Spaß je hätte sein können. Und so sei sie gesegnet, die gute Traurigkeit, deren Wellen uns an Gottes Ufer tragen! Die meisten sind ihr spinnefeind und können sie vom bösen Trübsinn der schlechten Traurigkeit nicht unterscheiden. Doch die sie kennen, wissen, dass sie nicht zu ihrem Nachteil durchs Tal der Tränen gingen. Denn der Weg zur Auferstehung führt nun mal nicht am Kreuz vorbei, sondern durch das Kreuz hindurch (Gal 6,14). Und wer mit Christus leben will, muss dieser Welt sterben (Röm 6,3-4). Wir verlieren dabei Hochmut, Dünkel und Eigensinn – gewinnen dafür aber Demut, Liebe und Dankbarkeit. Und ohne gute Traurigkeit kommt der Prozess nicht in Gang. Wie ist das also? Steht Traurigkeit im Widerspruch zum christlichen Glauben? Nein. Unsre Welt ist dermaßen zum Heulen, dass eher der Frohsinn einer Rechtfertigung bedürfte. Und jene, die mit sich und der Welt zufrieden sind, werden von Jesus sogar streng verwarnt: „Weh euch, die ihr jetzt lacht! Denn ihr werdet weinen und klagen“ (Lk 6,25). Den Traurigen hingegen wendet er sein Erbarmen zu und sagt: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen“ (Lk 6,21; Mt 5,4). Als Christen erwarten wir eine Freude, die nicht mehr von uns genommen wird (Joh 16,19-22). Und weil wir diese Zusage kennen, hält uns der Glaube in einem Zustand getroster Traurigkeit. In Anbetracht der Güte Gottes ist Resignation ausgeschlossen – sie bleibt den Gläubigen erspart! Doch liegt das wahrlich nicht an uns oder an der Welt, sondern bloß am Evangelium. Und jene, die ohne das Evangelium fröhlich sind, haben das Leben nur noch nicht tief genug verstanden. Traurigkeit hat im Glauben also sehr wohl ihren Platz. Wer aber nicht weiß, ob seine Traurigkeit von der guten oder von der schlechten Art ist, muss sich nur fragen, worin sie gründet – und weiß dann gleich Bescheid: Resultiert meine Traurigkeit nur aus der Kränkung meiner Eigenliebe, weil mir die Welt meine Wünsche nicht erfüllt, so ist diese Traurigkeit von der unnützen Sorte und ist ein bloßer Vorgeschmack der Hölle. Resultiert meine Traurigkeit aber aus der Liebe zu Gott, weil ich traurig bin, weder ihm noch meinen Mitmenschen gerecht zu werden, so ist das gute Traurigkeit, die mir nicht schadet, sondern nützt. Die Traurigkeit der Welt jammert nur darüber, dass Gott ihr widersteht. Die Traurigkeit des Glaubens beklagt dagegen, dass sie Gottes Widerstand vollauf verdient. Die schlechte Traurigkeit gründet nur darin, dass Gott und die Welt nicht meinem Willen folgen. Die gute Traurigkeit gründet darin, dass ich und die Welt nicht Gottes Willen folgen. Die erste führt zu gar nichts, weil es ja nie dahin kommen wird, dass sich Gott und die Welt meinen Wünschen beugen. Die zweite dagegen mündet in große Freude, weil einst sowohl ich als auch die Welt dem Willen Gottes gehorchen und mit ihm in Einklang sein werden. Unterscheiden wir das genau – und erlauben wir uns dann nur den Trübsinn der gesunden Sorte. Denn das falsche Streben bringt uns nach kurzer Freude eine ewige Traurigkeit. Das rechte Streben aber bringt nach kurzer Traurigkeit den Ertrag ewiger Freude.
Bild am Seitenanfang: Old Man in Sorrow
Vincent van Gogh, Public domain, via Wikimedia Commons