Mut

Mut

Wenn wir einen Menschen bewundern und ihm Respekt zollen, kann das verschiedene Gründe haben. Doch oft liegt es daran, dass dieser Mensch besonderen Mut gezeigt hat. Und solchem Mut kann man die Achtung kaum verweigern. Jemand springt ins eiskalte Wasser, um einen Ertrinkenden zu retten. Jemand wagt sein Leben, um Kinder aus einem brennenden Haus zu holen. Jemand spricht eine Wahrheit aus, die ihm den Hass der Mehrheit einträgt. Oder er riskiert Gefängnis, weil er in einem Unrechtsstaat Widerstand leistet. Solche Menschen finden wir „mutig“ – und sind uns darin meist einig. Denn viele andere verhalten sich in derselben Lage eher „feige“. Doch wenn wir näher beschreiben sollen, was „Mut“ eigentlich ist, wird es schwierig. Denn schließlich grenzt der Mut an den „Leichtsinn“ und den „Übermut“, die gewiss keine Tugenden sind. Und die oft so verachtete Feigheit ist mit der „Vorsicht“ und der „Besonnenheit“ verwandt, die man vernünftigerweise niemandem vorwerfen kann. Was ist also „Mut“? Was zeichnet ihn aus? 

1. 

Vielleicht kommt uns als erstes in den Sinn, dass Mut etwas mit Stärke zu tun haben müsste. Denn je stärker sich ein Mensch fühlt, desto mutiger tritt er auf. Meint er, überlegene Fähigkeiten und große Ressourcen zu haben, sieht er keinen Grund zögerlich zu sein, sondern geht furchtlos an die Sache heran. Im Hochgefühl seiner Kraft und Kompetenz fühlt er sich der Herausforderung gewachsen. Und wenn die Aufgabe nicht schwer erscheint, so dass er keinen großen Widerstand erwartet, muss er am Erfolg seines Handelns auch nicht zweifeln. Ja, wer mit großer Kraft eine kleine Aufgabe bewältigen soll, hat‘s leicht, entschlossen aufzutreten. Und ebenso klar ist, dass einem eher schwachen Menschen im Bewusstsein seiner Schwäche der Mut sinkt. Denn wenn die eigene Kraft im Verhältnis zur Aufgabe gering erscheint, schwindet die Zuversicht. Wo das Projekt die eigenen Möglichkeiten übersteigt, wird man ihm nicht gewachsen sein. Das Scheitern ist vorprogrammiert. Und am besten versucht man’s gar nicht erst. Wenn ein Schwacher aber trotzdem sein Schicksal herausfordert – ist der dann „mutig“? Oder ist er einfach nur „dumm“? In beiden Fällen kommen Zweifel auf, ob man wirklich von „Mut“ reden soll. Denn ein Starker, der schon absehen kann, dass er die Herausforderung „mit Links“ meistern wird, braucht ja gar keinen Mut. Er ist der Sache auf jeden Fall gewachsen. Und der Schwache, der kaum eine Chance hat und es wider besseres Wissen trotzdem wagt, scheint sich unvernünftig zu überschätzen und verdient kein Lob dafür, wenn er leichtsinnig in sein Unglück läuft. Der Starke, der gute Chancen hat, riskiert wenig und braucht daher keinen „Mut“. Wenn aber der Schwache überfordert ist und sich trotzdem in ein Wagnis stürzt, wirkt es wie blanke Unvernunft. So hat der Starke gar keine Gelegenheit, Mut zu zeigen. Und beim Schwachen wirkt er unangebracht. Denn es ist keine Tugend, die eigene Kraft für groß zu halten, wenn sie klein ist. Und es ist auch keine Tugend, die Risiken für klein zu halten, wenn sie groß sind. Sollte man das also „Mut“ nennen, wenn einer seine Chancen positiver bewertet, als sie in Wahrheit sind? Oder sollte das „Mut“ sein, wenn er eine Zuversicht zur Schau trägt, von der alle wissen, dass sie nicht begründet ist? Das Umgekehrte – wenn ein Starker ohne ersichtlichen Grund zaudern wollte – wäre natürlich auch nicht besser. So einer schiene uns „feige“! Aber zum Verständnis dessen, was „Mut“ ist, haben wir trotzdem nichts gewonnen. Denn in der Bewertung von Chancen und Risiken kann es nur um Realismus gehen. Und wenn sich dann einer verhält, wie es seiner Lage nicht entspricht – was soll daran vorbildlich sein? Schwerlich liegt das Wesen des Mutes in der Einschätzung der Situation. Denn diese Einschätzung kann weder „tapfer“ noch „feige“, sondern nur „richtig“ oder „falsch“ sein. Und vermutlich handelt dann jeder genau so, wie es ihm angemessen erscheint. Wäre es also denkbar, dass jeder gerade so entschlossen handelt, wie es ihm möglich und nötig scheint – und also seiner Einschätzung nach „gerade richtig“? 

2. 

„Mut“ und „Feigheit“ wären dann vielleicht bloß Zuschreibungen von außen! Denn tatsächlich nehme ich mich als Beobachter zum Maßstab. Wer weiter geht und riskanter handelt, als ich es mir in seiner Lage zutrauen würde, den nenne ich „mutig“. Und wer zögerlich hinter dem zurückbleibt, was ich mir in seiner Lage zutrauen würde, den nenne ich „feige“. So besagt mein Urteil im Grunde wenig über den Menschen, den ich beurteile (und der meint, gerade das Angemessene zu tun), es besagt aber viel über mich und meine abweichende Beurteilung der Situation. Jener Mensch wäre also nicht „an sich“ mutig oder feige (nicht in einem objektiven Sinne), sondern nur im Verhältnis zu mir und zu dem, was ich mir in seiner Lage zutrauen würde oder nicht. Denn ähnlich urteilen wir auch sonst. Ich finde alle Menschen „klein“, die kleiner sind als ich selbst. Und ich finde nur die wirklich „groß“, die größer sind als ich. Ich nenne diejenigen „alt“, die älter sind als ich selbst. Und ich halte alle für ziemlich „jung“, die jünger sind als ich. Da ist ein subjektiver Faktor im Spiel. Denn dem Zehnjährigen erscheinen seine Eltern sehr „alt“, während es für seinen Großvater noch „junge Leute“ sind. Aber auch wenn das stimmt, besagt es doch nicht, dass alles nur Zuschreibung wäre –und es die Unterschiede, auf die sich das Urteil bezieht, gar nicht gäbe. Denn die Unterschiede in Körpergröße und Lebensalter sind auch dann real, wenn verschieden Beobachter sie perspektivisch verschieden wahrnehmen. Und wenn sich das mit dem Mut genauso verhält, holt uns die Frage wieder ein, worin denn Mut eigentlich besteht. 

3. 

Besteht er vielleicht darin, das, was man will, besonders heftig zu wollen – also in der Stärke der Motivation, die vorhandene Risiken „sehenden Auges“ in Kauf nimmt? Dann wäre es der unbedingte Wille zum Erfolg, der einen Menschen mutig macht. Und dieser Wille hätte zweifachen Antrieb. Denn entweder handeln wir entschlossen, weil wir einen zu erringenden Gewinn leidenschaftlich erstreben – oder weil wir einen drohende Verlust sehr fürchten. Beides kann uns „Beine machen“, beides kann der Sache Dringlichkeit verleihen, so dass wir, was wir wollen, sehr wollen und dafür Risiken in Kauf nehmen. Lockt auf der einen Seite überragende Freude, und droht auf der anderen entsetzliche Schmach, so stärkt das unsre Motivation. Umgekehrt aber, wenn in einer Sache nicht viel zu gewinnen ist, und gleichzeitig der Misserfolg nicht allzu tragischen Folgen hätte, erlahmt unser Schwung. Ist es also Mut, wenn einer das, was er will, besonders heftig will und sein Ziel kompromisslos verfolgt „koste es, was es wolle“? Mut wäre dann die Bereitschaft, das, was man hat, aufs Spiel zu setzen für etwas, das man noch nicht hat. Man riskiert das Leben, das man hat, für ein Königreich, das man gerne hätte. Man tötet den Drachen, um die Jungfrau zu retten. Man setzt im Casino sein ganzes Geld auf eine Karte. Man riskiert seine Ehe für ein amouröses Abenteuer. Oder man wirft sich als Soldat ins wildeste Gefecht, um entweder als Held heimzukehren – oder gar nicht. Das alles scheint im landläufigen Sinne „Mut“ zu erfordern! Aber ist es der „wahre Mut“, den wir als Tugend bewundern? Können sich nicht krankhafter Ehrgeiz, Gier und Ruhmsucht genauso äußern? Und wenn ein fehlgeleiteter Wirrkopf seine dummen Ziele kompromisslos verfolgt, hat das dann „menschliche Größe“ – oder ist es bloß Verwegenheit? Vielleicht will so ein Draufgänger nur mit dem Kopf durch die Wand, um zu beweisen, dass er es kann. Vielleicht giert er bloß nach Anerkennung – und was er seinen „Mut“ nennt, erleben andere als Rücksichtslosigkeit. Extremsportler und Stierkämpfer, Freeclimber und Trainsurfer rühmen sich vielleicht ihrer „Todesverachtung“. Aber „verachten“ sie nicht eher ihr Leben, da sie es ohne Not aufs Spiel setzen? Sie handeln ohne Rücksicht auf Verluste. Aber tun das nicht auch Raser im Straßenverkehr, Zocker an der Börse und Terroristen? Auch die sind heftig „motiviert“ und „risikobereit“! Und trotzdem lobt niemand ihren Mut. Denn tatsächlich ist entschlossener Einsatz nur zu bewundern, wenn er auch würdigen Zielen dient. Und wer Verstand hat, wird das unterscheiden. Nur dann ist die an den Tag gelegte Courage wirklich vorbildlich, wenn der Einsatz würdigen Zielen dient, die das Wagnis wert sind. Denn Entschlossenheit, die Bösem oder Unvernünftigem dient, ist auch selbst nichts Gutes oder Vernünftiges, sondern muss, weil sie Verderben wirkt, als verderblich gelten. 

4. 

Jeder Draufgänger will sich durchsetzen, koste es, was es wolle. Aber das ist nicht wahrer Mut. Sondern man muss in die Betrachtung mit einbeziehen, was dieser Mensch einsetzt – und wofür. Denn es ist zwar sinnvoll, ein niederes Gut für ein höheres einzusetzen. Es ist aber Dummheit, ein höheres Gut für ein niederes zu riskieren. Und so halten wir nicht den für einen „Helden“, der sich ausschließlich für sich selbst einsetzt – egoistische Entschlossenheit lassen wir nicht als Tugend gelten. Sondern wir loben und bewundern speziell den Mutigen, der sich mit allem, was er hat, für höhere Ziele oder für andere Menschen einsetzt. Wer andere unter hohem persönlichen Risko aus dem Wasser oder aus dem Feuer rettet, nimmt ihr Leben offenbar genauso wichtig wie sein eigenes. Und wer sich in Gefahr begibt, um der Gerechtigkeit, um der Freiheit oder um der Wahrheit willen, der nimmt diese Werte wichtiger als sich und seine kleine Existenz. So einer stellt das eigene Dasein als Mittel bereit für einen höheren Zweck. Und wenn er auch hofft unbeschadet davon zu kommen, wäre er doch bereit, sich nötigenfalls zu opfern. Wer wirklich mutig ist, ordnet sein persönliches Interesse einem höheren Interesse unter. Und die Verblüffung derer, die ihn bewundern, beruht darauf, dass wir‘s gewöhnlich umgekehrt machen. Gewöhnlich versucht der Mensch, seine Umwelt zu dem Mittel zu machen, das ihm selbst (als dem übergeordneten Zweck) dienen soll. Der Mutige aber weicht von dieser traurigen Normalität ab und lässt erkennen, dass er der eigenen Person nicht oberste Priorität zuschreibt. Er kennt höhere Werte, für die sich zu leben lohnt, und für die er notfalls auch sterben würde. Und eben das verleiht ihm die innere Größe und Einsatzfreude, die andere in Staunen versetzt. Denn der Mutige kennt etwas, das ihm wichtiger ist als seine eigene Unversehrtheit – und ist damit zu echter Hingabe fähig. Er liebt etwas mehr, als er sich selbst liebt! Und so können wir wahren Mut definieren als die Fähigkeit, das, was man ist und hat, um eines als höher erkannten Zweckes willen aufs Spiel zu setzen. Solcher Mut schließt das Empfinden von Furcht keineswegs aus. Doch die Furcht lässt den Mutigen nicht erstarren, sondern er überwindet sie, setzt sie entschlossen beiseite und geht persönliche Risiken ein um des Guten willen, das ihm als Pflicht vor Augen steht. Ja, der Mutige nimmt Gefahren in Kauf, weil er das sittlich Notwendige als vorrangig erkennt. Er sieht, dass es getan werden muss. Und er hat die innere Kraft, in Übereinstimmung mit dieser Erkenntnis zu handeln. 

5. 

Das aber bedeutet – mit anderen Worten –, dass der wahre Mut ein Kind der Liebe ist, nämlich der Liebe zum Wahren und Guten, zu Gott und den Menschen. Solcher Mut verleiht uns Flügel, denn Mut ist selbstvergessene Hingabe. Und nur wer liebt, ist zu solcher Hingabe überhaupt fähig, weil er um des Geliebten willen die Gefahr vergisst und das Opfer nicht scheut, sondern sich selbst investiert, um das Geliebte zu verteidigen, wie eine Grizzly-Bärin ohne Rücksicht auf Verluste ihre Kinder verteidigt. Und so erkennen wir bei jedem Mutigen auch die Liebe, die ihn motiviert. In Pestzeiten haben viele Ärzte eine Ansteckung riskiert, um Patienten helfen zu können. Sie erkannten diese ganz praktische Form der Liebe als ihre Berufung. In Diktaturen haben oft Dissidenten und Journalist Verbrechen angeprangert aus Liebe zur Gerechtigkeit. Und mancher Jude versuchte noch, die heiligen Schriften aus der brennenden Synagoge zu retten, aus Liebe zu Gottes heiligem Wort. In der Gefahr wirft sich die Mutter bedenkenlos vor ihre Kinder. Sie tut es aus Liebe. Und ein guter Hirte, der seine Schafe liebt, kämpft furchtlos mit den Wölfen. Für das aber, was einer nicht liebt, riskiert er entsprechend wenig. Und so ist der Mutige ein Liebender, der sich selbst um eines als höher erkannten Zweckes willen aufs Spiel setzt.

6. 

Werfen wir aber einen Blick in die Bibel, so finden wir gerade dort eine Vielzahl mutiger Menschen, weil es ganz generell zum Glaube gehört, den Willen Gottes wichtiger zu nehmen als die eigene Existenz. Der Glaube übt Menschen darin, Gott Priorität einzuräumen und sich selbst an die zweite Stelle zu setzen. Und folglich sind sie bereit, ihr irdisches Dasein einzusetzen, wie man Mittel einsetzt für ein höheres Ziel. Die Gemeinschaft mit Gott ist ihnen jedes Wagnis wert. Darum bewies Abraham Mut, als er seine Heimat verlies, und Mose zeigte Courage, als er zu Pharao ging (1. Mose 12,1ff.; 2. Mose 5,1ff.). Lot verteidigte mutig seine Gäste gegen die Sodomiter, und Elia forderte kühn den König heraus (1. Mose 19,1ff.: 1. Kön 18,17ff.). David legte sich unerschrocken mit Goliat an (1. Sam 17,1ff.). Jeremia hielt unter Anfeindungen tapfer an seiner Botschaft fest (Jer 1,1ff.). Und Daniel scheute nicht einmal die Löwengrube (Dan 6,1ff). Auch die anderen Propheten bewiesen Mut, wenn sie Völker und Mächtige mit unliebsamen Wahrheiten konfrontierten. Die Apostel Jesu brauchten Mut, um das Evangelium in die heidnische Welt hinaus zu tragen, die ihnen mit Hass begegnete (2. Kor 11,24ff.). Und nähmen wir noch all die Märtyrer dazu, die in Zeiten der Christenverfolgung tapfer und furchtlos für ihren Glauben starben, kämen wir mit der Liste der Mutigen nie zu Ende. Denn an jedem Einzelnen könnte man den Grundsatz demonstrieren: Wahrer Mut ist die Fähigkeit, sich um eines höheren Zweckes willen aufs Spiel zu setzen. Und die Liebe zu diesem höheren Zweck ist die eigentliche Quelle des Mutes. Wir aber – die wir in einer so langen Reihe mutiger Zeugen am vorläufigen Ende stehen –, sollten wir nicht auch ein wenig couragierter und kühner für unsere Überzeugungen eintreten? Ich erlebe in der Kirche viel Kleinmut und Leisetreterei, Leidensscheu und defensives Kuschen – und will darum mit einer Bitte schließen: Gott verleihe uns noch einmal den kühnen Geist Elias, die Tapferkeit Jeremias und die Entschlossenheit Davids. Er gebe uns noch einmal den Geist der ersten Zeugen, der Apostel und der Märtyrer, den Mut der Reformatoren und aller wahren Bekenner. Denn wir haben ihn wahrlich nötig.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Gale

Winslow Homer, Public domain, via Wikimedia Commons