Richtet nicht

Richtet nicht

Es ist gut, wenn man in der Bibel nicht nur seine Lieblingsstellen liest, durch die man sich bestätigt fühlt, sondern ab und zu auch Texte, die einem querliegen. Und so will ich mich mit der Weisung Jesu beschäftigen, nicht über andere Menschen zu richten. Denn ich weiß immer nicht recht, wie das gehen soll. Ich für meinen Teil komme gar nicht drum herum, mir über andere Menschen eine Meinung zu bilden. Und wenn ich dann nicht gut finde, was sie sagen oder tun, habe ich schon wie ein Richter ein Urteil gefällt. Ja, bei kritischer Betrachtung der Welt fälle ich ständig solche Urteile. Ich finde manches „ok“ – und anderes „verwerflich“. Ich versuche das Richtige als „richtig“ und das Falsche als „falsch“ zu erkennen, schon um selbst keinen Fehltritt zu tun! Wenn ich dann aber eine Lüge „Lüge“ nenne und den Egoisten einen „Egoisten“ – habe ich dann nicht automatisch das getan, was Jesus seinen Jüngern verbietet? Er sagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 7,1). Doch eben dieses Richten kann ich unmöglich vermeiden. Denn wie sollte ich aufhören, das tägliche Geschehen kritisch zu betrachten? Ist es nicht angesichts von Missständen sehr notwendig, die Verantwortlichen zu benennen? Und sehen wir die nicht gerade darum kritisch, weil wir ihr Verhalten an Gottes Geboten messen? Sollen wir das etwa nicht? Und tut nicht auch Jesus genau das, wenn er in der Bergpredigt so hohe Maßstäbe anlegt, wenn er seine Jünger zurechtweist und mit den Pharisäern hart ins Gericht geht? Heißt etwa „nicht richten“, das Verkehrte gutzuheißen und auch das Tiefschwarze noch „weiß“ zu nennen? Mir schien immer, das Böse zu entschuldigen oder zu beschönigen hieße, das Böse in Schutz zu nehmen! Wer das aber tut – steht der selbst noch auf der Seite des Guten? Oder gibt‘s da einen Trick, wie man sich ein Urteil bilden kann, ohne dadurch zum „Richter“ zu werden? Nun, bei einem klugen Mann habe ich gelesen, das Urteilen sei zwar in der Tat unvermeidlich. Was Jesus ablehne, sei aber die selbstgerechte Haltung, in der wir es tun. Nicht die Beurteilung der Tat an sich sei das Problem, sondern der Geist, in dem wir sie vollziehen. Und tatsächlich: Wer sich auf diese Unterscheidung einlässt, kann Regeln finden, um Kritik zu üben in einer nicht gehässigen, sondern konstruktiven Weise. Die lauten etwa so: 

 

1. REGEL 

Man fange mit dem strengen Urteilen immer bei sich selbst an und messe andere Menschen nie an Maßstäben, die man selbst nicht erfüllt. Denn wie glaubwürdig ist ein Kritiker, der nicht zuerst „vor der eigenen Tür kehrt“ und in allem, was er fordert, mit gutem Beispiel vorangeht? Kann er das nicht, so kritisiere und belehre er nicht andere, sondern erst einmal sich selbst! Denn so sagt es Jesus ja auch: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst“ (Mt 7,3-5). 

 

2. REGEL

Man urteile nie in der Absicht, sich selbst dadurch zu erhöhen und im Vergleich mit dem Kritisierten besser dazustehen. Denn das ist ein häufiges und sehr durchschaubares Manöver. Durch Kritik streicht man heraus, dass man kompetent ist, das Fehlverhalten des anderen zu bewerten. Und man selbst beginnt auf dem Hintergrund seines Versagens umso mehr zu glänzen. Da man korrigierend eingreift, steht man offenkundig über ihm. Und während man als Besserwisser mit bedauernder Miene seine Schwächen benennt, bringt man die eigenen Vorzüge umso schöner zur Geltung. Gewissenhaft, wie man ist, beseufzt man fremde Fehler und macht dazu ein trauriges Gesicht. Doch insgeheim ist man voller Schadenfreude und lässt auch alle Welt wissen, in welchen Fettnapf der Kollege getreten ist. Solch eine missgünstige „Kritik“ ist natürlich nicht konstruktiv. Sie eignet sich vielleicht, um von eigenen Schwächen abzulenken. Sie lässt dabei aber auf der einen Seite Selbstgerechtigkeit und auf der anderen viel Verbitterung entstehen. 

 

3. REGEL

Man urteile nur über die Worte und Taten eines Menschen, urteile aber nicht über die Person insgesamt, denn sonst drängt man sich – verwerfend und begnadigend – in Gottes Amt und Befugnis hinein. Nur dem Höchsten steht es zu, jemanden zu verdammen oder freizusprechen. Nur er schaut in die Herzen hinein und ist dadurch ein kompetenter Richter. Wir Sünder hingegen, die wir selbst unseren Platz auf der Anklagebank haben, dürfen Gottes Richteramt nicht an uns reißen. Denn keiner von uns weiß, ob er nicht – an die Stelle des anderen und in dessen Umstände versetzt – noch viel schlimmere Schandtaten begehen und noch tiefer sinken würde. So reicht unser Horizont zwar aus, um einzelne Taten und Worte an Gottes Gebot zu messen und als falsch zu erkennen. Aber unser Blick reicht nicht tief genug, um einen Mitmenschen in Gänze zu verdammen. Wir wissen von keinem, dass er verwerflicher ist als wir selbst. Vielleicht sind wir nur noch nicht so heftig versucht worden wie er! Darum sollten wir uns tunlichst darauf beschränken, einzelne Taten zu kritisieren – und nicht den Mensch pauschal und als Person. Denn wer sich da nicht zurückhält, greift Gottes Urteil vor und maßt sich an, an des Höchsten Stelle über seinen Bruder zu richten – obwohl er nicht wissen kann, ob Gott vielleicht schon morgen aus diesem großen Sünder einen großen Heiligen machen will.

 

4. REGEL

Man urteile nie so, dass der Zorn über ein Fehlverhalten die Liebe zum Bruder ganz verdrängt. Denn den Nächsten zu lieben ist uns nicht geboten, weil er das verdiente, sondern weil er’s nötig hat. Und so ist es Christenpflicht, dem Beispiel Gottes zu folgen, der ja auch seinerseits bereit ist, Menschen anzunehmen, deren Taten unannehmbar sind. Gott ist freudig bereit, einen Sünder von seiner Sünde zu unterscheiden! Und wenn er nur ein wenig Reue zeigt, ist Gott in seiner Liebe sehr froh, dass er ihn nicht verdammen muss. Von solcher Gnade leben wir alle! Und daher steht es uns nicht zu, über einen anderen so lieblos hart zu richten, dass wir ihn aufgeben, verwerfen und seinem Schicksal überlassen – ohne ihm weiter beizustehen und nachzugehen. Auch ein noch so berechtigter Zorn darf die Liebe nicht völlig verdrängen. Denn sonst liegt der Verdacht nahe, dass man vielleicht nur streng richtet, um nicht lieben zu müssen, und nur kritisch ist, um nicht helfen zu müssen. Ja, soll die Verurteilung des anderen am Ende die Kälte meines Herzens legitimieren, deren ich mich sonst schämen müsste? Will ich ihn vielleicht für verwerflich halten, um meiner Feindschaft gegen ihn einen moralischen Anstrich zu verleihen? In dem Fall wäre ich verwerflicher als er! Und ob das so ist, lässt sich leicht prüfen. Denn nur ein negatives Urteil, das ich um des anderen willen als schmerzlich empfinde, zeugt auch von Liebe. Wenn ich jenen anderen, den ich tadeln muss, viel lieber loben würde und ehrlich bedauere, es um der Wahrheit willen nicht zu können, bin ich noch in der Liebe. Habe ich hingegen nur nach Fakten gesucht, die meinen Bruder belasten, und keine Sekunde nach dem, was ihn entschuldigt – habe ich also nur Argumente gesammelt, die ich ihm wie Steine an den Kopf werfen kann, dagegen aber rein gar nichts, was für ihn spräche – so habe ich mich damit selbst der Lieblosigkeit überführt. 

 

5. REGEL 

In gutem Geist zu urteilen kann nicht bedeuten, wie ein schadenfroher Henker aufzutreten, der sein Opfer verdammt, sondern nur wie ein mitfühlender Arzt, der mit echtem Bedauern eine Diagnose übermittelt, um anschließend auch zu helfen. So ein Arzt deckt Wunden nur in der Hoffnung auf, sie heilen zu können. Und so sollte man als Christ die Fehlleistungen eines Mitmenschen nur in einer Weise zur Sprache bringen, die ihm zu nützen vermag. Vielleicht muss man ihm im Zweiergespräch die Augen öffnen und dabei riskieren, dass er es übel nimmt. Doch ihn öffentlich „in die Pfanne zu hauen“ und hämisch vor aller Welt seine Schwächen bloßzulegen, wird selten nützlich sein. Es führt nur dazu, dass man ihn mit solchen Kränkungen zwingt, verbittert und verzweifelt zurückzuschlagen. Man treibt ihn nur noch tiefer in seine Fehler hinein. Kann ich also zu dem Versagen eines anderen nicht schweigen, so rede ich darüber nicht zuerst mit seinen oder meinen Freunden, sondern mit ihm allein unter vier Augen. Denn der Liebe geht es ja nicht darum, gegen den Betroffenen Recht zu behalten. Die Liebe ringt gar nicht gegen den anderen, sie ringt um ihn! Und dazu muss sie eine Form finden, die es ihm möglich macht, die Kritik auch anzunehmen.

 

Mit alledem ist nicht das Urteilen an sich verboten, sondern nur das Urteilen in liebloser, selbstgerechter Haltung. Und doch sind die Einschränkungen erheblich. Denn wenn ich diese fünf Regeln immer beachten soll, dass ich zuerst vor der eigenen Tür kehre und mich über niemanden erhebe, dass ich nicht etwa den Menschen, sondern nur seine Taten verwerfe, dass ich ihn nur in Liebe tadele – und das auch noch auf so hilfreiche Weise, dass er es annehmen kann – ja dann macht das so befreiende Schimpfen gar keinen Spaß mehr, sondern erscheint als eine ziemlich mühsame und schwer zu erlernende Kunst. Die spontane Freude, die es uns bereitet, schlecht über andere zu reden, ist damit glatt verdorben. Denn all das beiläufige Lästern und Sticheln fällt weg. Und wenn zwei sich treffen, dürfen sie über einen abwesenden Dritten nicht herziehen, sondern müssen sich bemühen, ihm nicht das denkbar Schlechteste, sondern erst einmal das Allerbeste zu unterstellen. Wollten wir das ab morgen so umsetzen, käme wohl mancher in Gefahr, an all seinen (dann heruntergeschluckten) Bosheiten zu ersticken! Denn kritisieren, ohne zu verletzen, tadeln, ohne zu demütigen, urteilen, ohne zu richten, aufdecken, ohne bloßzustellen und korrigieren, ohne zu belehren: Wer kann das schon? Da könnte man es für einfacher halten, alle Missstände schweigend zu übergehen! Doch auch das wäre nicht im Sinne des Neuen Testaments. Denn dort sind uns zu viele Beispiele gegeben, dass auch Jesus und seine Apostel um die Unterscheidung der Geister nicht herumkamen. Und offenbar fanden sie es nicht verwerflich, sondern sehr nötig, von der Gottesgabe der Urteilskraft Gebrauch zu machen. Nicht nur die Propheten des Alten Testament konnten gut austeilen, sondern Jesus steht ihnen nicht nach. Er findet scharfe Worte, wenn er von falschen Propheten spricht, von Heuchlern und Kleingläubigen, von fehlgeleiteten Schriftgelehrten und vom Sauerteig der Pharisäer. Jesus geißelt Ehebrecher und Machtgierige, Hartherzige und untreue Knechte, törichte Jungfrauen und unbußfertige Städte, missgünstige und stolze Menschen, Mörder und blinde Blindenführer. Er redet Klartext gegen alle, die zum Abfall verführen, die den Heiligen Geist verlästern und als Unkraut unter dem Weizen wachsen. Die Pharisäer und Schriftgelehrten bezeichnet er als „Schlangen“ und „Otternbrut“ und droht ihnen mit der Hölle! Jesus gehört also keineswegs zu denen, die beide Augen zudrücken und Böses „gut“ nennen, bloß um keinem auf die Füße zu treten (Jes 5,20). Und die Apostel folgen seiner Spur. Hananias und Saphira wird auf den Kopf zugesagt, dass sie den Heiligen Geist belogen haben (Apg 5,1-11). Petrus konfrontiert den Hohen Rat damit, dass er den Tod Jesu verschuldet hat (Apg 5,30). Und Stephanus wird auch nicht gesteinigt, weil er der Priesterschaft geschmeichelt hätte (Apg 7). Der Zauberer Simon wird ohne Umschweife verdammt, weil er meinte, göttliche Macht kaufen zu können (Apg 8,20). Und Paulus zögert nicht, den Zauberer Elymas als „Sohn des Teufels“ zu bezeichnen und mit Blindheit zu schlagen (Apg 13,6-12). Der Konflikt um die Heidenmission wird unter den Aposteln mit harten Bandagen ausgefochten (Gal 2,11-14). Paulus scheut sich nicht, jeden zu verfluchen, der ein anderes Evangelium lehrt (Gal 1,8-9). Die Gemeinde in Korinth wird von ihm scharf zurechtgewiesen. Und Paulus verlangt auch, dass sie bestimmte Gemeindeglieder verstößt und exkommuniziert (1. Kor 5, vgl. 1 Tim 1,20). 

Wer also meint, fromme Menschen fänden für andere immer nur lobende und entschuldigende Worte, der irrt. Und wenn er denkt, das sei besonders christlich, jeden noch so großen Dreck mit Barmherzigkeit zu bemänteln, kennt er das Neue Testament sehr schlecht. Denn natürlich wurde und musste zu jeder Zeit geurteilt werden. Die Kirche hätte nicht 2000 Jahre bestehen können, ohne ständig das Richtige vom Falschen zu unterscheiden – sie hätte sonst jede Orientierung verloren! Und so können wir im Rückblick zwar bedauern, dass aus dem notwendigen Urteilen allzu oft ein liebloses Richten wurde. Doch bleibt auch uns nichts anderes übrig, als beide Forderungen immer wieder neu unter einen Hut zu bringen – dass wir nämlich die Sünde klar erkennen, benennen und verdammen, dabei aber nicht zugleich den Sünder verdammen, den wir lieben sollen. Nicht gegen den anderen sollen wir ringen, sondern um ihn, und sollen seine Fehler nur aufdecken, um sie zu heilen. Wir sollen den Irrtum als Irrtum enthüllen, ohne uns deshalb auf unsere bessere Einsicht etwas einzubilden. Und während der Gegner auf uns einschlägt, müssen wir immernoch bemüht sein, ihn nicht zu bloßzustellen. Wahrlich – kritisieren, ohne zu verletzen, tadeln, ohne zu demütigen, aufdecken, ohne zu blamieren, korrigieren, ohne zu belehren – das ist viel verlangt. Denn das Brett, das die anderen vorm Kopf haben, scheint uns immer viel dicker als unser eigenes! Und trotzdem verlangt Jesus, dass wir mit dem Balken im eigenen Auge anfangen. Darum lassen sie uns zu guter Letzt die Perspektive umkehren und fragen, ob wir denn selbst Kritik vertragen. Haben die anderen es leicht, uns auf Fehler aufmerksam zu machen? Oder sind wir bereit, jeden verbal niederzuschießen, der unsere Vollkommenheit in Zweifel zieht? Der andere muss nicht mit jedem Vorwurf recht haben – das ist schon klar! Aber gebe ich ihm eine Chance und prüfe mich selbst? Natürlich beteuert jeder, er könne sachliche Kritik annehmen und sei für Korrekturen offen. Wenn’s aber konkret wird, verfallen wir doch rasch in Abwehr und wollen uns um jeden Preis rechtfertigen. Oft genug sind wir ja schon mit uns selbst unzufrieden. Und das Letzte, was wir dann brauchen, sind andere, die in unserer Wunde stochern! Doch wenn wir uns deshalb die Wahrheit und den Konflikt gar nicht erst zumuten, kann keiner von uns mehr klüger oder besser werden. Einander in Ruhe zu lassen, bringt uns nicht weiter – das Ergebnis ist nur, dass wir dann heimlich übereinander reden, statt offen miteinander. Sollte es mein Mitmensch also bereuen, wenn er den Mut hat, mich auf etwas hinzuweisen? Christen lieben Gemeinschaft, Harmonie und gutes Einvernehmen! Aber wenn (aus Angst, zu verletzen) keiner mehr Fehlentwicklungen beim Namen nennt – was wird dann aus der guten Ordnung? Und wenn (um Ärger zu vermeiden) niemand mehr dem Irrtum widerspricht – wo bleiben dann die Wahrheit und die reine Lehre? Es muss möglich sein, das Böse zu tadeln. Und dazu trage ich bei, wenn ich es anderen möglich mache, auch an mir zu tadeln, was ihnen verkehrt erscheint. Vielleicht schickt mir der Himmel so einen Kritiker, um mich wieder in die Spur zu bringen! Und wenn er es zunächst unter vier Augen versucht, wie von Jesus geboten (Mt 18,15-17), warum sollte ich ihn nicht geduldig anhören? Wir dürfen da nicht zu schnell beleidigt sein. Denn eigentlich können wir nur gewinnen. Erweist sich der gegen uns erhobene Vorwurf als unberechtigt, so hat der andere in den Wind geredet. Erweist er sich aber als berechtigt, gibt uns das die Chance, besser zu werden. Beides kann uns recht sein! Darum sollten wir uns nicht nur darin üben, einander in Liebe die Wahrheit zu sagen, sondern sie auch ohne Zorn zu hören.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Ausschnitt aus "Die Kreuztragung Christi"

Hieronymus Bosch oder Nachahmer, Public domain, via Wikimedia Commons