Wahrhaftigkeit

Wahrhaftigkeit

Ich will mir erlauben, von einer ganz persönlichen Sehnsucht zu sprechen, die mich immer wieder bewegt – und die vielleicht mancher mit mir teilt. Denn ich sehne mich danach und wünschte mir, dass endlich einmal alles das wäre, was es zu sein scheint – und nichts mehr anders schiene, als es in Wahrheit ist. Merkwürdig, wird vielleicht mancher sagen: Wo ist das Problem? Man hat doch Augen im Kopf! Mich aber macht es regelrecht müde, dass die Welt voller Täuschungen ist, voller falscher Fassaden, voller Etikettenschwindel und voller Mogelpackungen. Denn bei allen Schwierigkeiten, die das Leben sowieso schon mit sich bringt, wird es noch doppelt und dreifach kompliziert dadurch, dass wir einander vorspiegeln und vorgaukeln, was nicht ist. Man hat manchmal den Eindruck, dass die Hälfte der Menschheit damit beschäftigt ist, Rauchbomben und Nebelkerzen zu werfen, während die andere Hälfte sich ständig durch Rauch und Nebel hindurchtasten muss. Wundert sich aber jemand darüber? Nein! Im Gegenteil: Es gilt als normal, dass der Mensch nie die volle Wahrheit sagt. Und es gilt als klug, dass er immer einen Teil seines Wissens für sich behält. Wer Masken trägt und jedem erzählt, was er hören will, gilt als geschickt. Der Ehrliche aber ist immer der Dumme, weil er preisgibt, was andere für sich behalten. Schließlich hat mein Gegner einen Vorteil davon, wenn er weiß, wo er dran ist!

Weil aber einer dem anderen diesen Vorteil nicht gönnt, lassen wir einander im Dunkeln tappen, bluffen, täuschen und desinformieren, wenden große Intelligenz auf, um Scheinwelten zu errichten, und brauchen dann noch einmal so viel Intelligenz, um die Scheinwelten der anderen zu durchschauen. Wer aber noch nicht erlebt hat, wieviel geistige Energie dabei verschwendet wird, der versuche nur einmal ein Auto zu kaufen oder eine Versicherung abzuschließen. Meinen sie, dass sie einen Gebrauchtwagenhändler finden, der einfach die Fakten auf den Tisch legt – ohne die halbe Wahrheit zu verschweigen? Kennen sie eine Krankenversicherung, die so ist, wie ihr Werbematerial es verspricht? Gibt es Pharmafirmen, die freiwillig über die Nebenwirkungen ihrer Produkte Auskunft geben? Gibt es Stellenbewerber, die offen über ihre Schwächen reden? Werden irgendwo öffentliche Aufträge vergeben, ohne dass es im Hintergrund Absprachen gab? Hat je ein Radsportler die Tour de France gewonnen ohne gedopte zu sein? Haben sie je eine Pauschalreise gebucht, bei der das Hotel wirklich den Angaben im Prospekt entsprach? Nein?

Vielleicht sagen sie: Das ist normal! Die Welt ist voller Blender! Die Welt will belogen sein! Doch ich meine, es ist eine schlimme Normalität, die den Menschen zum Argwohn und zum Misstrauen erzieht, weil am Ende nichts mehr ist, was es zu sein scheint. Sie meinen, sie sähen ein Eichenmöbel – und doch ist es nur furniertes Sperrholz. Sie meinen, sie greifen nach einer Türklinke aus Metall – und doch ist es verchromtes Plastik. Sie meinen, sie äßen eine Bratwurst – und doch weiß keiner, was wirklich drin ist. Sie bewundern einen Parkettboden – und in Wahrheit ist es Laminat. Sie meinen, sie tränken Wein – aber was sie schmecken sind nur künstliche Aromen. Sie kaufen ein schwedisches Auto – und 95% der Teile kommen aus Japan. Ja, selbst die Kerzen, die in den Friedhofskapellen brennen, sind keine echten Kerzen mehr, sondern sind bloß Öllampen, die wie Kerzen aussehen. Das Blumengesteck im Restaurant ist aus Kunststoff. Die angebliche Live-Musik ist Playback. Die Meeresbrise kommt aus der Klimaanlage. Und wenn man bei manchen Damen das Make-up aus dem Gesicht nähme, die Perücke vom Kopf, und das Silikon aus dem Körper – so bliebe auch von deren Herrlichkeit nicht viel übrig. Ja, fragt man sich: Warum ist das so? Muss das sein? Ist denn diese Welt so schrecklich, dass wir sie ungeschminkt nicht ertrügen? Ist uns eine hübsche Lüge wirklich lieber als die nackte Wahrheit? Erscheint uns die Illusion am Ende reizvoller als die Realität?

Mir ist es jedenfalls zuwider. Und ich wünschte mir eine Welt, in der alles genau das ist, was es zu sein scheint – und ich wünschte mir Menschen, die sich genau so geben, wie sie sind. Ich meine, die Männer sollten sich ihre Angebereien sparen, das ewige Großtun und Prahlen. Und die Frauen sollten sich mit der Schönheit bescheiden, die Gott ihnen gegeben hat. Denn wenn wir uns an ungefärbte Ehrlichkeit gewöhnten, dann dürften die Kleinen endlich klein, und die Großen dürften groß sein – und keiner müsste sich mehr verbiegen, um etwas vorzustellen, was er nicht ist. Warum aber geht das nicht? Was hindert uns, in dieser Weise ehrlich und wahrhaftig zu leben? Liegt es daran, dass stets einer den anderen übervorteilen und übertrumpfen will? Liegt es an Neid, Konkurrenz und Missgunst, dass einer den anderen belauert, um seine Schwachstellen auszukundschaften? Zwingen uns die anderen zum Tarnen und Täuschen?

Das ist sicherlich ein Grund. Wissen ist Macht – und wer viel über mich weiß, hat damit auch Macht über mich. Ich muss damit rechnen, dass er meine Offenheit missbraucht. Doch gibt es noch einen zweiten Grund für das große Versteckspiel. Und der liegt darin, dass ein ehrliches und wahrhaftiges Leben, Blößen aufdecken würde, die wir nicht nur vor anderen, sondern auch vor uns selber verbergen. Mit anderen Worten: Wir wollen uns nicht geben, wie wir wirklich sind, weil wir wissen, dass wir so, wie wir sind, nicht in Ordnung sind. Wir sind mit uns selbst nicht im Reinen. Kehrten wir unser Inneres nach Außen, so müssten wir uns schämen, wir müssten Spott ertragen – und vielleicht auch den Zorn der anderen. Und darum machen wir uns selbst etwas vor, und den anderen erst recht, zeigen nach außen ein breites Lächeln – und weinen doch heimlich in uns hinein. Wir sehen unserer inneren Unordnung, sehen zugleich die Gier der anderen, unsere innere Unordnung auszunutzen – und in beidem offenbart sich das ganze Elend der menschlichen Natur. Wenn man das aber erkennt und die Gaukeleien von Herzen leid ist, kann man dann etwas tun? Ist ein Kraut gewachsen gegen das große Lügenspiel?

Ja, durchaus. Ich meine, dass wir uns mit diesem hässlichen Zustand nicht abfinden müssen. Denn der christliche Glaube kann uns zu einer echten Ehrlichkeit befreien, die nicht bloß in wahrheitsgemäßer Rede besteht, sondern in einer wahrhaftigen Lebenshaltung. Und diese Ehrlichkeit wirkt auf den Rest der Welt entwaffnend. Wenn ich nämlich akzeptiert habe, was ich in Gottes Augen bin – wenn ich vor Gott die Karten aufgedeckt habe, wenn Gott tief in mein Herz hineingeschaut, die Unordnung gesehen, und mich trotzdem nicht verworfen hat – bitte, wem muss ich dann noch etwas vormachen? Habe ich erst einmal Gnade gefunden vor Gottes Augen, muss ich dann das Urteil meiner Nachbarn noch fürchten? Nein. Denn der Glaube ist der Weg, wie ein Mensch mit Gott ins Reine kommt. Ist er aber mit Gott im Reinen, der ihn durchschaut und trotzdem liebt, so vermag dieser Mensch auch sich selbst mit all seinen Brüchen und Unvollkommenheiten anzunehmen. Er erträgt dann schonungslose Klarheit, auch wenn sie wirklich weh tut, weil er sich trotzdem von Gott angenommen weiß. Wer sich aber angenommen weiß und sich selbst annehmen kann – wozu müsste der sich noch verstellen?

Verstellt er sich aber nicht, wer könnte ihn dann entlarven? Das ist dann nicht mehr möglich, denn Ehrlichkeit entwaffnet. Wer nicht lügt, der kann auch keiner Lüge überführt werden. Wer sich nicht vor den anderen aufbläst, muss nicht fürchten, dass jemand die Luft raus lässt. Wer zu seinen Schwächen steht, weil er von Gottes Vergebung lebt, der muss die Enthüllung seiner Schwäche nicht fürchten und ist eben damit dem Teufelskreis entkommen, weil er künftig einfach sein darf, was er ist. „Ja!“, darf er den Spöttern zurufen, „ihr habt ja recht! Ich bin nicht größer als Gott mich gemacht hat, und bin viel weicher als ich sein sollte! Ja, ich bleibe zurück hinter dem Ziel, das Gott mir gesetzt hat, und bin der Geduld nicht wert, die er an mich verwendet! Aber ich weiß es wenigstens, ich geb’ es offen zu, und flüchte mich trotz allem zu Gottes großer Barmherzigkeit, die meine Schuld tilgt durch Jesu Leiden.“

Wenn ein Mensch so redet und denkt – so ist er frei geworden: Er hat sich dann vom Jahrmarkt der Eitelkeiten verabschiedet, er spielt das närrische Spiel nicht mehr mit, er muss nicht mehr prahlen, prunken und blenden. Er darf sein, der er ist, und spürt, wie leicht ihm dadurch wird. Denn, wahrhaftig sein zu dürfen, durch und durch, das ist ein großes Geschenk. Es ist eine Gabe des Heiligen Geistes – es ist die Erfüllung des 8. Gebotes. Und ganz nebenbei ist solche Wahrhaftigkeit auch der Ursprung aller tieferen Weisheit. Denn unechte Menschen gibt es schon mehr als genug. Die sehen aus wie Eichenparkett – und sind doch nur Laminat. Sie scheinen zu blühen und zu duften – und sind doch bloß Plastikblumen. Sie geben sich als edler Wein – und sind doch nur gepanschter Fusel. Manche Menschen sind Fälschungen ihrer selbst, sind trübe Gewässer aus denen niemand trinken kann – und merken es nicht einmal. Die Kinder Gottes aber dürfen anders sein. Darum gebe Gott, dass wir uns nie mit weniger zufrieden geben, als mit einem Leben in der Wahrhaftigkeit, die da kommt aus dem Glauben.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Self-portrait with Mask

Felix Nussbaum, Public domain, via Wikimedia Commons