Was ist Religion?

Was ist Religion?

A kite flying festival. Watercolour by an Indian artist. Wellcome Collection. Public Domain Mark.

 

Das Wort „Religion“ kommt aus dem Lateinischen. Und nach einer nicht gesicherten, aber einleuchtenden Deutung geht es auf das Verb „religare“ zurück, das „zurückbinden“, „anbinden“ oder „festbinden“ bedeutet. „Religion“ ist demnach „Rückbindung“ und meint das, woran man sich festhalten kann, wenn alles andere umfällt und wegfällt. Religion als „Rückbindung“ verankert uns in dem, was bleibt, wenn alles andere zerbröckelt und vergeht. Gegenstand der Religion ist also nicht das zeitlich Schwankende, sondern das ewig Stabile. Aber hat jeder Mensch das Gefühl, dass er so eine „Rückbindung“ bräuchte? Die Jungen und Starken sind eher auf Freiheit aus. Sie möchten Spielräume haben, um ihre Kraft zu erproben, sie brauchen freie Bahn, um sich zu entfalten – und setzen darum weniger auf „Bindung“ als auf „Loslösung“: Die jungen Vögel springen wagemutig aus dem Nest, um ihre eigenen Flügel zu erproben. Und da kommt man ihnen mit Religion als „Rückbindung“? Das scheint ein Widerspruch zu sein – ist es aber nur bei oberflächlicher Betrachtung. Denn selbst wenn man einen bunten Drachen steigen lässt, besteht das eigentliche Geheimnis seines Fluges in der Bindung. Oder weiß das nicht jeder? So ein Drachen braucht einen Rahmen aus verbundenen Stäben und eine darüber gespannte, leichte, aber feste Haut, in die der Wind gut greifen kann. Jeder versteht, dass der Drachen nur fliegt, wenn kräftiger Wind weht. Und natürlich braucht er Bewegungsfreiheit, um nicht gleich im nächsten Busch oder Baum hängenzubleiben. Aber auch dann fehlt noch etwas! Haben wir den Drachen, den Wind, viel Platz und sonst nichts, so wird doch etwas Entscheidendes fehlen, und der Drachen wird durchaus nicht steigen. Denn tatsächlich braucht er zu allem anderen auch noch eine Schnur, die ihn am Boden (in unserer Hand) verankert. Und ohne diese Schnur, ohne diese „Rückbindung“ geht gar nichts! Denn die Freiheit und Beweglichkeit des Drachens ist zwar schön – sie ist ebenso nötig wie der kraftvolle Wind und der Drachenschwanz, der das Ganze stabilisiert. Soll der Wind unseren Drachen aber nicht unkontrolliert über den Boden blasen und ihn dabei zerschreddern, muss er mit einer Schnur verankert sein und somit gegen die Kraft des Windes ein Widerlager haben. Erst diese Bindung macht ihn flugfähig. Nur gebunden erreicht er Höhe. Zwischen Bindung und Flugvermögen besteht also gerade kein Gegensatz! Und so ist es auch beim Menschen. Denn nur mittels einer Rückbindung, einer „Religion“, erreicht er Höhe. Was ohne Bindung ist, nennt man „haltlos“ – und es schrabbelt in willkürlichen Bewegungen am Boden dahin. Die einzige Freiheit, die dem Haltlosen zukommt, ist der freie Fall. Und genau so verhält es sich bei Menschen, die nicht stabil gebunden sind. Denn ohne „Religion“ befinden sie sich im freiem Fall, und der Wind des Lebens bläst sie, wohin er will. „Ungebunden“ können sie jede Mode mitmachen, können sich vom Zufall treiben lassen und „Hurra“ schreien, wenn alle schreien – dem Ziellosen ist Bewegung ebenso recht wie Stillstand. Doch darf man solche Beliebigkeit nicht mit Freiheit verwechseln. Und man kann sie auch keinem jungen Menschen wünschen. Denn ein junger Drachen braucht für seinen Flug zwar Sonnenschein, Wind und freien Raum. Damit er aber wirklich in die Höhe steigt, darf ihm die Schnur nicht fehlen. Damit ein Mensch steigen kann, darf nicht alles an ihm beweglich sein, wandelbar, flexibel und locker, sondern eines muss auch fest sein – und das ist die Schnur, die ihn mit Gott verbindet, das ist Religion als „Rückbindung“, oder mit einem Wort: der Glaube. Denn der Glaube ist die Verankerung, ohne die der Mensch sich verliert. Der Glaube bildet das verlässliche Widerlager gegen die Wandlungen des Lebens. Und erst dieses Widerlager befähigt den Menschen zu kritischem Denken, weil man erst Wertmaßstäbe haben muss, bevor man (anhand dieser Maßstäbe) etwas prüfen und bewerten kann. Der Glaube bindet den Menschen in aller Veränderung an das Bleibende, er verknüpft alles Bedingte mit dem Unbedingten und alles Vorläufige mit dem Endgültigen. Und sich an Gott zu binden, ist darum auch kein Hemmnis, sondern eben das ist der Schlüssel zu gelingendem Leben. Gerade die Bindung ist der Grund jener echten Freiheit, die man „ungebunden“ nicht haben kann. Denn wie den Drachen, so hält sie auch den Menschen nicht am Boden fest, sondern gerade Religion als „Rückbindung“ ermöglicht ihm den schönsten Flug. Und haltlos zu sein, ist demgegenüber keine reizvolle Alternative.