Gefangenschaft in der Zeit

Gefangenschaft in der Zeit

Es ist erstaunlich, wie gedankenlos man seine Jahre verbringt. Man lebt dahin, als gäbe es keine Grenze, und tut so, als hätte man sein Leben im Griff. Doch dann kommt der Tod wie ein ungebetener Gast, und belehrt uns darüber, wie machtlos wir in Wahrheit sind. Er verhandelt nicht lange, sondern er sagt „Es ist genug“ und setzt hinter unsere Lebensgeschichte einen Punkt. Er fragt nicht nach unserem Einverständnis und gewährt auch keinen Aufschub. Sondern er stellt einfach fest, dass das uns gewährte Budget an Lebenszeit aufgebraucht ist, und schneidet den Lebensfaden ab.

Wer das aber bei anderen miterlebt, muss bestürzt innehalten und muss erkennen, dass das Ablaufen unserer Zeit unaufhaltsam und nicht zu kontrollieren ist. Wir versuchen zwar stets unsere Zeit zu messen, wir versuchen sie vorausschauend zu planen und zu nutzen. Wir bemühen uns, unsere Jahre und Tage sinnvoll einzuteilen. Wir investieren Zeit als wäre sie ein Kapital, über das wir verfügen. Doch in Wahrheit wissen wir nie, wie viel wir noch haben. Ja: Im Grunde herrschen nicht wir über die Zeit, sondern die unaufhaltsam verrinnende Zeit beherrscht uns. Mal haben wir zu wenig Zeit, dann wieder zu viel. Mal verfliegt unsere Zeit und mal dehnt sie sich quälend. Wir wünschen bestimmte Zeiten herbei und fürchten zugleich, sie zu verpassen. Wir reisten gerne vor und reisten gern zurück in der Zeit, oder möchten wenigstens die Gegenwart festhalten. Aber wir haben nichts davon in der Hand. Wir sind Gefangene des Zeitenlaufes. Und dass diese Gefangenschaft schmerzlich ist, das demonstriert uns spätestens der Tod. Denn er bricht in unsere Gegenwart ein, er nimmt uns die Zukunft und verurteilt uns dazu, Vergangenheit zu werden.

Es fällt schwer und es kränkt unseren Stolz. Aber spätestens an den Gräbern unserer Lieben müssen wir dann eingestehen, dass der 103. Psalm recht hat: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.“

Im Blick auf uns selbst und auf unsere Angehörigen müssen wir diese bittere Wahrheit akzeptieren. Denn selbst ein Leben von 80 oder 90 Jahren ist nur ein kurzes Gastspiel auf Erden. Und wenn weitere 80 oder 90 Jahre vergehen, gilt auch von diesem Menschen, dass seine Stätte ihn nicht mehr kennt. Auch im eigenen Haus und in der eigenen Familie wird man sich seiner kaum erinnern können, weil nach zwei oder drei Generationen niemand mehr lebt, der ihn kannte. Die Welt kann uns offensichtlich entbehren und dreht sich ohne uns weiter. Ob das nun aber schlimm ist und beweinenswert – das ist die große Frage, der wir nicht ausweichen sollten.

Müssen wir verzweifelt sein, weil wir sterblich sind, unsere Zeit verrinnen sehen und unsere Lieben nach und nach zu Grabe tragen? Wer ohne den Glauben lebt, mag das beantworten, wie er will. Als Christ aber darf man die Frage entschlossen verneinen. Denn es stimmt zwar auch für Christen, was der 103. Psalm sagt: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras“. Doch geht’s in diesem Psalm mit einem betontem „aber“ weiter: „Die Gnade aber des HERRN währt von Ewigkeit zu Ewigkeit, über denen, die ihn fürchten.“

Der Einsicht in unsere Vergänglichkeit steht ein großes „aber“ gegenüber, das uns vor allzu großer Bedrücktheit bewahrt. Denn wir Menschen vergehen zwar, die Gnade Gottes aber, die vergeht nicht, und wenn ein Verstorbener in Gottes Gnade ruht, so bleibt er in ihr bewahrt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wer in Christus stirbt, der wird auferstehen zum ewigen Leben. Wer im Glauben stirbt, gewinnt durch den Tod mehr, als er verliert. Und das bedeutet in der Konsequenz, dass auch ein früher oder plötzlicher Tod seine Schrecken verliert, weil es in der Bilanz unseres irdischen Daseins, gar nicht auf die Zahl der Jahre ankommt, sondern auf ihren geistlichen Ertrag. Jedes Leben war zu kurz, das den Menschen nicht dazu geführt hat, in der Gnade Gottes zu ruhen – auch wenn dieses Leben 120 Jahre gedauert hätte. Und umgekehrt war jedes Leben lang genug, wenn es uns Anteil an der Gnade Gottes hat gewinnen lassen – selbst wenn es schon nach 20 Jahren endete. Alle Zeit ist vergeudet, die mich nur meinem Ende näher bringt. Das Stündchen dagegen ist gut investiert, in dem ich mich Gottes Händen anvertraue. Denn wo das einer getan hat, da trifft ihn der Tod niemals unvorbereitet…

Wenn wir das aber wissen – und zugleich wissen, dass jeder von uns jederzeit abberufen werden kann, um vor seinen Richter zu treten –, sollten wir dann nicht die verbleibende Zeit nutzen, um uns auf diesen Weg vorzubereiten und die Hand zu ergreifen, die Christus uns entgegenstreckt? Hat sich Christus nicht unseretwegen all die Mühe gemacht hat? Unseretwegen ist Gottes Sohn in die Haut eines Menschen geschlüpft! Unseretwegen hat er sich kreuzigen lassen! Unseretwegen hat er den Tod überwunden und ist auferstanden! Der ewige Gott, der ohne Anfang und ohne Ende ist, nahm unseretwegen einen Anfang in Bethlehem und nahm ein Ende auf Golgatha, nur damit wir Eintagsfliegen, die wir es wohl verdient hätten, mit der Zeit zu vergehen, den Rockzipfel der Ewigkeit ergreifen und gerettet werden können. Für uns alle hat er das getan! Wollten wir sein Angebot aber ignorieren, woran könnten wir uns dann noch halten im Strudel der verrinnenden Zeiten?

Nichts Irdisches steht still, und nichts bleibt fest in der Zeit – alles fließt dahin im Handumdrehen. Christus aber, der kam und blieb – und mit ihm bleiben die Seinen. Alles Irdische fällt und bricht, er aber steht, und mit ihm stehen wir – und dürfen bekennen, dass inmitten der Zeit etwas von ewiger Bedeutung geschah. Denn der ewige Gott ging ein in die Zeit und sprach sein barmherziges Wort: Dass er uns vom Fluch der Vergänglichkeit erlösen und uns Anteil geben will an seiner Ewigkeit. Das – und nichts anderes – feiern wir an Ostern! Jesu Auferstehung schließt unsere eigene Auferstehung mit ein! Warum also sollten wir zögern, die Osterbotschaft auch auf uns zu beziehen und zuversichtlich auf das neue Leben zuzugehen, das Christus uns schenken will?

Dieses Erdenleben ist viel Mühe und Arbeit, es ist voller Schuld und Tränen – und wer lang genug lebt, wird genug davon erfahren. In Gottes Reich aber wird Gott all unsere Tränen abwischen und der Tod wird nicht mehr sein, kein Leid, kein Streit, kein Geschrei wird mehr sein, sondern Friede wird sein, Gerechtigkeit und Jubel der Erlösten. Weil uns das aber verheißen ist, und weil Gott es wahrmachen wird, darum ist an den Gräbern unserer Lieben bei allem Schmerz doch auch Zuversicht am Platze. Vertrauen wir darauf, dass sie höchst lebendig und fröhlich sind in Christus. Vertrauen wir darauf, dass sie ihre Zukunft nicht etwa hinter sich, sondern das Beste noch vor sich haben. Vertrauen wir darauf, dass ihre Zeit nicht bloß abgelaufen, sondern dass sie übergegangen ist in Gottes Ewigkeit…

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Funeral Symphony (III)

Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, Public domain, via Wikimedia Commons