Warum kommt Christus zweimal?
Christus zwischen den klugen und den törichten Jungfrauen (Ausschnitt)

Warum kommt Christus zweimal?

Manchmal führt es zu Verwirrung. Aber der christliche Glaube kennt ein zweifaches Kommen Christi. Einerseits nämlich die „Ankunft“ Christi in der Welt bei seiner Menschwerdung in Bethlehem. Andererseits aber die „Wiederkunft“ Christi am Ende der Welt zum Jüngsten Gericht. Gottes Sohn kam zur Welt und verließ sie – nur um eines Tages wiederzukehren. Wir aber befinden uns zeitlich zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen, so dass wir seine irdische Gegenwart in Palästina nicht mehr erleben – und seine Wiederkunft am Ende der Zeit bis auf Weiteres noch nicht. Christus war „da“ und war dann wieder „weg“. Er kommt aber zurück. Und wir stehen etwas seltsam dazwischen. Denn, warum ist das so? Warum besucht uns Christus zweimal? Wenn wir irgendwo weggehen und wiederkommen, haben wir gewöhnlich etwas vergessen. Oder wir müssen wiederkommen, weil beim ersten Mal etwas nicht fertig wurden. Manchmal war der erste Besuch auch so erfreulich, dass wir wiederkommen wie an einen besonders schönen Urlaubsort! Aber nichts davon passt auf Christus. Über sein erstes Kommen sind wir gut unterrichtet und feiern es an Weihnachten. Rühmlich war‘s für die Menschheit aber nicht. Denn als Gott in der Gestalt Christi zur Welt kam, war er nicht willkommen. Er kam zwar in sein Eigentum. Aber die Seinen nahmen ihn nicht auf, sondern behandelten ihn wie einen unerwünschten „Eindringling“. In der Gestalt Christi ist Gott der Menschheit „auf die Pelle gerückt“. Sie aber wollte seine Nähe nicht ertragen. Sondern so „toll“ fand man Christus, dass man ihn unter einem Vorwand ans Kreuz schlug. Er war Gottes Wort in eigener Person, darum wollte man ihn zum Schweigen bringen. Und in gewisser Weise schien es gelungen. Denn durch seine Hinrichtung hat man den Mann aus Galiläa erfolgreich aus der Welt hinausgedrängt. Nach seiner Himmelfahrt war er in irdischer Gestalt nicht mehr zu sehen. Man war Gott los geworden – und konnte wieder in Ruhe „gottlos“ sein. Doch hatte Christus nicht wirklich den Rückzug angetreten. Denn einerseits wuchs seine Anhängerschaft – Evangelium und Kirche ließen sich nicht mehr beseitigen. Und andererseits hat Christus angekündigt wiederzukommen auf ganz andere Art – nämlich nicht noch einmal behutsam mit leisem Klopfen, sondern mit großer Kraft und Herrlichkeit (Mt 24,30-31). Beim zweiten Mal kommt er uns ganz anders. Denn auf verborgene Weise ist er schon jetzt „Herr der Welt“. Beim zweiten Kommen wird er aber auch so auftreten. Auf verborgene Weise sind wir heute schon gerettet. Dann aber wird es offenkundig sein. Auf verborgene Weise ist das Reich Gottes längst bei uns angekommen. Dann aber wird’s auch der Blindeste nicht mehr übersehen. Und beim zweiten Kommen lässt sich Christus auch nicht wieder herausdrängen, sondern nimmt die Welt in Besitz mit dem Recht des Eigentümers, der die Welt geschaffen hat. Fragt er wohl um Erlaubnis, seinen Grund und Boden zu betreten? Nein. Lässt er sich abweisen? Nein. Fordert er Entscheidungen? Nein. Auch das wird er am Jüngsten Tag nicht mehr tun. Denn die Zeit der Entscheidungen ist dann vorbei – und für Änderungen ist es zu spät. Wann der Jüngste Tag kommt, können und sollen wir nicht wissen. Aber dass er kommt, steht fest. Und nicht jeden stimmt es fröhlich. Denn Gottes Sohn kommt, um „zu richten die Lebenden und die Toten“. Mit den klugen Jungfrauen wird er Hochzeit feiern, aber die törichten bleiben draußen stehen. Treue Knechte und faule Knechte werden voneinander getrennt, Schafe nach rechts gestellt, Böcke nach links. Und durch viele Familien geht ein Riss, weil der eine angenommen, und der andere preisgegeben wird (Lk 17,34-35; vgl. 12,49-53). „Ja, aber…“ – werden viele sagen – „…angekündigt hat er sich zwar. Aber wie konnten wir denn wissen, dass es ernst sei? Und wer hätte geahnt, dass es so schnell konkret wird? Wir brauchen mehr Bedenkzeit, Jesus, könntest du in hundert Jahren nochmal kommen?“ So werden sie reden, werden sich aber wiederum in ihm getäuscht haben. Denn zu den Kennzeichen des Messias gehört nicht nur Milde, sondern auch Entschiedenheit. Wohl heißt er bei Jesaja Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst (Jes 9,5). Aber Jesaja sagt auch, er werde „mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten“ (Jes 11,4). Der Heiland der Welt wird sich erbarmen und den Leidenden Recht schaffen. Aber das heißt nicht, dass er die Übeltäter duldet oder schont. Gewiss kommt er zum Heil seines Volkes. Aber die dem im Wege stehen, wird er mit eisernem Zepter zerschlagen und wie Töpfe zerschmeißen (Ps 2,9). Er ist seiner Herde ein guter Hirte, ist aber gerade darum nicht nett zu den Wölfen. Und was er beim ersten Kommen erdulden musste, wird er beim zweiten Kommen nicht erneut dulden, sondern wird alles Krumme begradigen, alles Verborgene ans Licht ziehen und alles Unrechte richten. Der da wiederkommt, ist das Lamm, das der Welt Sünde trägt. Er ist aber zugleich ein Löwe. Und erst in dieser Doppelung von Löwe und Lamm ist Christus recht verstanden (Apk 5,5-6). Beim ersten Mal kam er, um uns zugute unsre Schuld zu tragen und unsren Tod zu erleiden. Doch beim zweiten Mal wird er nichts mehr erleiden, sondern die Rechte geltend machen, die er durch sein Leiden und Sterben erwarb. Was er teuer erkauft hat, wird er als sein Reich in Besitz nehmen. Und seine Krone ist dann auch nicht mehr aus Dornen. Doch will ich die Frage erneut stellen, damit wir‘s recht verstehen: Warum kommt Christus zweimal? Warum liegen zwischen Ankunft und Wiederkunft so viele Jahrhunderte? Und warum blieb er nicht gleich hier? Die Erklärung findet sich im Neuen Testament. Denn wenn Christus über seine Sendung spricht, dreht sich alles um das kommende Reich Gottes. Und von dem redet er in Gleichnissen, die einen längeren Prozess beschreiben. Er wählt keine Bilder von kurzfristigen Effekten, wo man etwas „anstößt“ – und im Handumdrehen auch schon „fertig“ wird. Sondern er vergleicht das Kommen des Himmelreichs etwa mit dem, was ein Sämann tut. Der streut Samen auf den Acker und muss anschließend ziemlich lange warten, bis es etwas zu ernten gibt (Mt 13,1-23). Er vergleicht das Kommen des Reiches mit einem Senfkorn, das klein und unscheinbar beginnt und erst nach und nach zu einem Baum heranwächst (Mt 13,31-32). Er vergleicht das Reich Gottes mit dem Sauerteig, der seine Zeit braucht, um das Mehl zu durchsäuern, aus dem man dann gutes Brot bäckt (Mt 13,33). Und er vergleicht das Kommen des Reiches auch mit dem Fischfang, wo zwischen dem Auswerfen und dem Einholen der Netze allerhand Zeit vergeht (Mt 13,47-50; vgl. Lk 5,1-11). Mal erzählt er vom Anlegen eines Weinbergs und von der Erwartung, dass er nach vielen Monaten des Wachstums und der Reife gute Erträge bringen wird (Mt 21,33-46; vgl. Jes 5,1-7). Und ein andres Mal berichtet er von drei Knechten, denen der Herr sein Barvermögen in Silber anvertraut, damit sie während seiner Auslandsreise gut damit wirtschaften (Mt 25,14-30). Die Frage, warum Christus zweimal kommt, beantwortet sich damit aber von selbst. Denn was er in seiner Zeit hier auf Erden initiiert und angestoßen hat, ist offenbar von derselben Art wie die Tätigkeiten in den Gleichnissen, die erst nach längerem Prozess zum Ziel führen und nicht „mit einem Schlag“ erledigt werden können. Im Ackerbau vergehen je nach Getreidesorte zwischen Aussaat und Ernte 5 bis 11 Monate. Ein Waldbesitzer muss je nach Art der Bäume zwischen 60 und 120 Jahren warten, bis ein Baum die „Schlagreife“ erreicht. Und will man zum Brotbacken frischen Sauerteig ansetzen, dauert die Prozedur 3 bis 4 Tage. Der Fischer, der Krebse fangen will, muss Geduld haben, nachdem er seine Reusen ausgebracht hat. Sie nach 10 Minuten wieder hochzuziehen, bringt keinen Erfolg! Nachdem ein Perlenzüchter seine Austern mit einem Fremdkörper bestückt hat, braucht es 3 bis 5 Jahre, bis er ihnen Perlen entnehmen kann. Und wenn ein Winzer ständig in die Weinfässer hineinschaut, geht’s davon mit der Gärung und Reifung auch nicht schneller. Solche Prozesse brauchen Zeit! Und offenbar hat auch Christus bei seinem ersten Kommen so einen Prozess angestoßen – und kehrt am Jüngsten Tag zurück, um den Ertrag zu einzufahren. Gott seinerseits braucht natürlich für gar nichts Zeit. Wir Menschen aber entwickeln uns nur schrittweise. Und der Rücksicht auf unsre Trägheit ist es wohl geschuldet, dass Gottes Reich nur langsam und im Verborgenen wächst, während man an der Oberfläche wenig davon sieht. Das ist enttäuschend für alle, die sich auf Gottes Reich freuen und danach Ausschau halten! Aber vom Wachstum der Saat im Boden sieht man schließlich auch nichts. Und wenn der Bauer ungeduldig an den grünen Hälmchen ziehen wollte, wüchsen sie davon nicht schneller. Vom Fischerboot aus ist nicht zu erkennen, ob unten in der Tiefe Fische ins Netz gehen. Und wenn‘s ein nervöser Fischer gleich wieder hochziehen wollte, um nachzuschauen, würde er kaum etwas fangen. Auch der Bäcker, wenn er in die Schüssel mit dem Mehl starrt, sieht vom Wirken des Sauerteigs sehr wenig. Das Entscheidende entzieht sich dem Auge. Und so weiß nur Gott allein, wann der von Christus angestoßene Prozess an sein Ende kommt! Dann aber wird Gottes Sohn wiederkehren, um die Spreu vom Weizen zu trennen und den guten Ertrag einzufahren. Sein Evangelium ist bis dahin aller Welt gepredigt worden. Und die Situation war immer so, dass jene, die dem Evangelium glauben wollten, genug Gründe fanden, um ihm glauben zu können, während jene, die nicht glauben wollten, genug Gründe fanden, um es nicht zu tun. So offenbart jeder im Laufe seines Lebens, wohin sein Herz ihn zieht – ob er lieber mit Gott oder gegen Gott sein will. Und eben diese Neigung, die sein konkretes Leben dokumentiert, wird dann im Jüngsten Gericht festgestellt. Christus aber, der Gericht hält, weiß von vornherein, dass sich an seinem Evangelium die Geister scheiden – und erwartet gar nicht, dass es „alle“ erreicht, sondern rechnet damit, dass viele verloren gehen. Denn so beschreibt er‘s in einem weiteren Gleichnis: Da sät ein Mensch guten Samen auf seinen Acker. Ein böser Feind aber sät in der Nacht Unkraut dazwischen. Die Pflanzen sind in der Frühphase des Wachstums schwer zu unterscheiden. Darum kann man das Unkraut nicht gleich ausjäten, ohne zugleich den Weizen zu gefährden. Man lässt also beides miteinander wachsen. Bis zur Erntezeit ist der Unterschied dann aber zu Tage getreten. Und so sammelt man das Unkraut, um es zu verbrennen, und sammelt den guten Weizen in der Scheune (Mt 13,24-30). Nach der Deutung gefragt sagt Jesus: „Der Menschensohn ist's, der den guten Samen sät. Der Acker ist die Welt. Der gute Same sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder des Bösen. Der Feind, der es sät, ist der Teufel. Die Ernte ist das Ende der Welt. Die Schnitter sind die Engel. Wie man nun das Unkraut ausjätet und mit Feuer verbrennt, so wird‘s auch am Ende der Welt gehen. Der Menschensohn wird seine Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reich alles, was zum Abfall verführt, und die da Unrecht tun, und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein. Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich“ (Mt 13,37-43). Mit einem doppelten Ausgang rechnet das Neue Testament nicht bloß an dieser Stelle, sondern überall. Denn seit Christus kam, stehen von jeder Generation einige auf der richtigen, und einige auf der falschen Seite. Wie Unkraut und Weizen wachsen sie gemeinsam auf. Doch am Ende werden die einen gerettet, und die anderen gehen verloren. Dass der Prozess der Scheidung schon 2000 Jahre lang läuft, ist ein Zeichen göttlicher Geduld. Denn je länger Gottes Türen offen bleiben, desto mehr Menschen können noch auf den letzten Drücker gerettet werden. Um dieser Nachzügler willen verzögert sich der Jüngste Tag (2. Petr 3,3-10). Und vielleicht verzögert er sich wirklich so lange, bis im Himmel die Reihen der Engel wieder aufgefüllt und die gefallenen Engel durch erlöste Menschen ersetzt sind – dieses „Gerücht“ war zumindest in der Alten Kirche verbreitet. Doch wie dem auch sei: Für uns erklären sich aus dem laufenden Prozess viele Widersprüche der Gegenwart. Denn solange die große Ernte nicht begonnen hat, stehen wir noch auf einem Feld voller Unkraut und wundern uns, warum niemand etwas dagegen tut. Man könnte fast meinen, Gott toleriere das Unkraut auf seinem Acker! Aber Jesu Gleichnis zeigt, wie sehr der Eindruck täuscht. Denn natürlich fängt Gott nichts an, was er nicht auch wunschgemäß zu Ende bringt. Ganz sicher wird der Tag der Ernte kommen, das Brot wird gebacken, die Fischernetze werden eingeholt und die Bäume geschlagen – es sind ja zielgerichtete Prozesse! Und wenn der Bauer im Wissen darum Geduld aufbringt, wenn Bäcker, Fischer und Forstwirte den Prozess laufen lassen ohne einzugreifen, sieht es vielleicht aus, als wären sie nicht bei der Sache. Doch warten sie aus gutem Grund. Und so wartet auch Gott mit dem Jüngsten Tag, weil der mit dem Evangelium angestoßene Prozess seiner eigenen Dynamik folgt. Ist das Ziel erreicht, wird die Wiederkunft Christi nicht ausbleiben! Bis dahin leben wir aber noch in jener eigentümlichen Spannung von „schon“ und „noch-nicht“, die für laufende Prozesse typisch ist. Und wir sollten uns nicht zu sehr darüber wundern. Als Christen stehen wir schon in der Gnade – sündigen aber trotzdem noch. Wir haben schon das ewige Leben – und müssen doch noch leiblich sterben. Wir kennen bereits die Wahrheit – und stehen trotzdem oft wie blind davor. Wir sind schon Kinder Gottes – sind’s aber auf verborgene Weise. Gottes Reich wächst von Tag zu Tag – aber äußerlich sehen wir wenig davon. Der Feind ist bereits geschlagen – denkt aber nicht daran, das Feld zu räumen. Und das verwirrt uns natürlich. Denn vieles im Christen-Leben scheint „uneindeutig“ und „provisorisch“ zu sein. Aber muss uns das im laufende Prozesse wirklich wundern? Für Gottes Reich gilt dasselbe, was Luther über den Glaubensweg des Einzelnen sagt: „Dies Leben ist nicht eine Frömmigkeit, sondern ein Fromm-Werden; nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesund-Werden; nicht eine Ruhe, sondern eine Übung: wir sind noch nicht, wir werden aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gange und Schwange; es ist nicht das Ende, sondern der Weg. Es glüht und glänzt nicht alles, es fegt sich aber alles.“ So steht‘s mit dem einzelnen Christen wie mit der Christenheit im Ganzen. Und dieser Situation „im Übergang“ entspricht es, dass wir zwischen Christi Ankunft und Wiederkunft etwas ratlos „dazwischen hängen“. Doch sind beide Ereignisse so notwendig wie der zeitliche Abstand dazwischen. Denn was wäre passiert, wenn Christus schon vor 2000 Jahren zum Gericht und zur großen Ernte erschienen wäre, ohne vorher auf Erden sein Heilswerk zu vollbringen? Wäre er gleich zum Gericht erschienen, ohne vorher stellvertretend für uns zu leiden, ohne für uns aufzuerstehen und ohne das Evangelium in die Welt zu tragen – wer hätte da im Gericht bestehen können? Doch wohl niemand! Erst durch sein Erdenleben und seinen Tod am Kreuz hat Christus die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir Sünder durch den Glauben an ihn Gnade erlangen. Das ist die Bedingung dafür, dass überhaupt jemand gerettet wird! Wollte es Christus aber umgekehrt bei der Aussaat des Evangeliums belassen und später nicht zur Ernte wiederkommen, wäre das genauso sinnlos. Denn wozu hätte er den Kreuzestod erlitten und den Weg zur Rettung geöffnet, wenn dieser Weg dann zu nichts führte? Das Evangelium ist eine Zusage, die sich erfüllt, wenn das Reich Gottes kommt. Der Glaube setzt alles auf diese Karte. Doch wenn Christus vergäße wiederzukehren in Kraft und Herrlichkeit, und mit ihm auch das Reich Gottes ausbliebe, liefe alles ins Leere, und der verschollene Christus wirkte wie ein Fischer, der die ausgeworfenen Netze nicht wieder einholt, oder wie ein Bauer, der sein reifes Getreide nicht erntet, sondern auf dem Acker verfaulen lässt. Und so kann der eine Schritt nicht sinnvoll ohne den anderen gedacht werden. Weder kann Christi erstes Kommen das zweite ersetzen noch umgekehrt. Und man hätte sie auch nicht ohne zeitlichen Abstand zusammenlegen können. Nicht wegen Gott, sondern unsretwegen braucht es Geduld, damit von jeder neuen Generation ein Teil in die auf Erden kämpfende Kirche gelangen, sich im Glauben bewähren – und anschließend in die im Himmel triumphierende Kirche hinüberfließen kann. So füllen sich Gottes Scheunen, während die Welt es nicht mal merkt! Es liegt aber in der Natur der Sache, dass wir uns im laufenden Prozess noch „unfertig“ vorkommen. Denn es stimmt: Im Glauben ist uns das Heil schon gegeben – und doch haben wir’s auf eine vorläufige Weise. Die Herrlichkeit ist in Christus schon da – und doch wird ihr Erscheinen noch erwartet. Satans Macht ist bereits gebrochen – und doch fühlen wir sie noch lebhaft. Wir sind durch das Gericht hindurchgedrungen – und fürchten uns trotzdem. Wir sind mit Christus gestorben – sind aber noch nicht mit ihm auferstanden. Wir sind von allen Sünden gewaschen – und sind doch längst noch nicht rein. Wir sind durch das Evangelium befreit – und fühlen uns trotzdem gehemmt. Wir sind von Gott geliebt – und können’s dennoch kaum glauben. Wir sind Gottes Kinder – sehen aber nicht wirklich so aus. Wir haben Gottes Geist – reden und leben aber oft, wie es dem Geist der Welt entspricht. Wir gehen durch Alter und Krankheit leiblich zugrunde – und sollen es doch als Vollendung begreifen. Wir müssen auf eine Kraft setzen, die ausgerechnet in unserer Schwäche mächtig sein will. Wir stehen mit beiden Füßen fest auf einem Felsen, den manche Zeitgenossen nicht mal sehen können. Wir gehören zu einer Kirche voller Fehler, die trotzdem ein großartiges Werkzeug des Himmels sein soll. Und obwohl mit Christus ein neues Äon begonnen hat, scheint die Welt doch weiterzulaufen wie eh und je. Ja, das ist so: Unser Heil ist in Christus gegenwärtig, ist mit ihm aber auch so tief verborgen, dass wir‘s manchmal selbst nicht recht glauben können. Alles an uns ist auf ärgerliche Weise „unausgegoren“. Doch keine Bange. Gottes Sohn, der diesen Prozess in der Welt und in jedem Einzelnen angestoßen hat, der wird auch kommen, um ihn abzuschließen. Wir werden seine Ernte sein, die er sich nicht wieder nehmen lässt. Und wenn wir das auch noch nicht mit den Augen sehen, dürfen wir’s doch voller Zuversicht glauben: „Wir sind noch nicht, wir werden aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gange und Schwange; es ist nicht das Ende, sondern der Weg. Es glüht und glänzt nicht alles, es fegt sich aber alles.“ 

 

 

 

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Salvator Mundi zwischen den klugen und den törichten Jungfrauen (Ausschnitt)

Nach Martin Schongauer, Public domain, via Wikimedia Commons