Gottes Liebe und menschliche Liebe

Gottes Liebe und menschliche Liebe

Wer sich in christlichen Kreisen allgemeiner Zustimmung versichern will, muss nur ein Loblied auf die Liebe anstimmen. Denn wie verschieden man sonst auch denken mag – gegen die Liebe ist am Ende keiner. Sie scheint der gemeinsame Nenner zu sein, auf den sich alle einigen können. Man darf nur nicht nachfragen, was mit dem Zauberwort gemeint ist! Denn um wessen Liebe geht es überhaupt? Wem gilt sie – und wie zeigt sie sich? Preisen wir eine Liebe, die wir selbst verströmen – oder eine, die wir empfangen? Feiern wir die Liebe, weil wir sie so stark empfinden – oder weil wir sie so arg entbehren? Ist sie eine aktuelle Erfahrung – oder ein guter Vorsatz für später? Ist die Liebe gebend oder nehmend – ist sie eher gefühlig oder tätig? Oder ist das alles egal, weil sich unter „Liebe“ sowieso jeder denken kann, was er will? 

Zumindest ist nicht egal, ob von Gottes Liebe die Rede ist, die er uns erweist, oder von unserer Liebe, mit der ein Mensch den andern liebt. Denn die erste Liebe, die sich im Evangelium zeigt, ist so unendlich wie der Gott, von dem sie kommt. Und die menschliche Liebe ist so begrenzt wie das Geschöpf, das sie empfindet. Damit dieser gewaltige Unterschied aber nicht übersehen wird, soll ihn eine Geschichte illustrieren.

 

Sie spielt in den frühen Tagen der Vereinigten Staaten und handelt von einer jungen Frau namens Aurelia, die durch ein hartes Schicksal in große Verwirrung geriet. Dabei waren ihre Lebensumstände gut. Und alles fing so schön an! Aurelia verliebte sich mit großer Hingabe in einen jungen Mann, der William hieß und nur ein paar Jahre älter war, als sie selbst. Mit dem Einverständnis der Eltern verlobten sich die beiden, und es schien, als könne nichts ihr Glück trüben. Ihre Liebe war groß, und der Himmel „hing voller Geigen“. Doch dann erkrankte William an den Pocken, die, wenn man sie übersteht, hässliche Narben hinterlassen. Und als er sich von der Krankheit erholt hatte, sah sein Gesicht aus wie ein Waffeleisen, und alle Schönheit war dahin. Im ersten Schrecken dachte Aurelia daran, die Verlobung zu lösen. Aber sie hatte doch auch Mitleid mit ihrem unglücklichen Bräutigam und verschob lediglich den Hochzeitstag um ein paar Wochen. Am Tag vor der Heirat geschah es dann, dass William den Flug eines Heißluftballons beobachtete und beim Hinterherlaufen – den Blick in die Wolken gewandt – in ein Loch trat. Er brach sich dabei sein Bein auf so ungünstige Weise, dass es oberhalb des Knies amputiert werden musste. Und Aurelia hatte daran schwer zu schlucken. Denn ihr Bräutigam war nun pockennarbig und einbeinig. Die meisten Menschen würden verstehen, wenn sie sich von ihm abgewandt hätte. Doch die Liebe siegte, und William wurde Zeit gegeben, sich vor der Hochzeit erst einmal richtig zu erholen. Am 4. Juli feiern die Amerikaner mit großem Feuerwerk ihren Unabhängigkeitstag. Und bei der Vorbereitung einer Kanone für die Salutschüsse kam es zu einer vorzeitigen Entladung. Man weiß nicht wie – die Kanone ging jedenfalls los, und William verlor einen Arm. Man kann sich denken, wie der Pechvogel bedauert wurde, der nun mehrfach verstümmelt war! Aber kaum, dass die Wunde heilte, besichtigte William eine Fabrik und geriet mit dem verbliebenen Arm in eine Maschine, die ihm auch diesen Arm noch zerquetschte. Wie man sich vorstellen kann, war Aurelia am Boden zerstört. Nach und nach, ja Stück für Stück kam ihr der geliebte Bräutigam abhanden. Und (bei aller Liebe) blieb doch immer weniger übrig, woran eine junge Frau hätte Freude haben können. Nur mit dem Mut der Verzweiflung hielt sie an ihren Hochzeitsplänen fest. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit ihr. Denn als wieder der Tag der Trauung nahte, erkrankte William an Scharlach und konnte nach Komplikationen eines seiner Augen nicht mehr gebrauchen. Mit der Augenklappe im narbigen Gesicht sah er nun aus wie ein Pirat. Und man kann sich vorstellen, wie Aurelia von Freunden und Verwandten bestürmt wurde, sich von dem Unglücksraben zu trennen. Der bisherige Verlauf ihrer Beziehung ließ ja wenig Gutes hoffen! Die tapfere Braut aber war sich ihrer Liebe fast noch sicher – und hielt dagegen, ihr William sei schließlich an alledem nicht schuld. Man schob den Hochzeitstermin noch einmal hinaus. Der Bräutigam aber brachte es fertig, sich auch das Bein noch zu brechen, das ihm verblieben war. Weil sich die Wunde entzündete, musste auch dieses Bein abgenommen werden. Und falls jemand meint, soviel Unglück sei nicht mehr zu steigern, sei ihm berichtet, dass in den späten Jahren des wilden Westens nur noch ein einziger Mann von Indianern überfallen und skalpiert wurde. Und das war: William. Er überlebte – was ziemlich selten ist! Aber hübscher machte ihn die Sache nicht. Und man kann sich denken, dass Aurelia nun sehr in Verlegenheit kam, ob sie den Restbestand ihres geliebten Bräutigams noch heiraten sollte. Was die Eltern dazu sagten, ist leicht zu erraten. Sie wünschten sich für ihre Tochter einen etwas „vollständigeren“ Ehemann. Ein Ratgeber meinte jedoch, William zu heiraten sei ohne Gefahr, denn er würde es ja doch in kürzester Zeit fertigbringen, sich auch noch den Hals zu brechen, und dann sei die junge Witwe ihn los… 

 

Nun, die makabre Geschichte stammt von Mark Twain – und ist wahrscheinlich erfunden. Ja, hoffentlich ist sie erfunden! Aber das spielt keine Rolle. Denn wer sich hineinversetzt, erfährt auf jeden Fall etwas über die menschliche Liebe und ihre Grenzen. So sehr wir die tapfere Aurelia auch bewundern, werden wir ihr doch schwerlich zu dieser Ehe raten. Denn menschliche Liebe will von dem, den sie liebt, auch etwas haben. Und wenn da keine Arme mehr sind, die Aurelia umarmen könnten, wenn da keine Beine mehr sind, die ihren Ehemann tragen, und kein Gesicht, das ihr gefallen könnte – wovon soll sich ihre Liebe dann nähren? Sie mag anfangs sehr stark gewesen sein. Doch menschliche Liebe kommt an ihre Grenzen, wo ihr Gegenstand nichts Anziehendes mehr hat. Und wenn’s einer so gar nicht mehr „bringt“, wie unser armer William, kann man keine gute Prognose stellen. Denn Menschen lieben einander, wie man die Torte liebt, die man essen will. Man liebt die Torte um des Genusses willen, den sie verspricht. Wenn die Torte aber schimmelt und verdirbt, ist es mit der Liebe vorbei. Und auch die Liebe der treuen Aurelia übersteht es nur begrenzt, wenn von ihrem Bräutigam so wenig übrig bleibt. Wollen wir also jene menschlichen Liebe preisen, die so endlich ist wie der Mensch selbst? Wollen wir nicht lieber Gottes Liebe feiern, die so ewig ist wie Gott? Wahrlich: Gottes Liebe ist von anderer Art als unsere! Und erstaunlicher Weise nimmt sie beim Niedergang des Geliebten den umgekehrten Verlauf. Denn je weniger Liebenswertes sie an ihrem Gegenstand findet, umso größer und stärker wird sie. Ja, wirklich – bei Gott geht es andersherum! Die Bibel zeigt es! Denn: ist es in der Geschichte Gottes und der Menschen nicht ganz ähnlich zugegangen wie zwischen Aurelia und William? 

Die biblische Liebesgeschichte beginnt im Paradies genauso harmonisch wie die von Mark Twain. Gott und Mensch sind anfangs „ein Herz und eine Seele“ und haben ungetrübte Freude aneinander. Denn der Mensch ist Gott gegenüber aufgeschlossen und vertraut ihm. Er folgt den guten Weisungen seines Schöpfers, handelt gerecht und redet wahrhaftig. Aber dann geht es mit der Menschheit so rapide bergab wie mit dem ungeschickten William! Der Mensch tappt in die Falle, die Satan ihm stellt, und verliert im Sündenfall seine Unschuld. Das sind die Pockennarben. Und vom Bösen infiziert übertritt der Mensch Gottes Gebote. Das ist das amputierte Bein. Zur Rede gestellt, verlegt sich der Mensch auf Ausflüchte und Lügen. Das ist der abgeschossene Arm. Und bei Kain und Abel beginnt der Mensch dann Blut zu vergießen. Das ist der zweite Arm. Der Mensch misstraut Gott und versteht ihn nicht mehr. Das ist das erblindete Auge. Und an die Stelle der menschlichen Demut treten Stolz, Neid und Überheblichkeit. Wahrlich: Gott wollte sich mit der Menschheit vermählen wie mit einer schönen Braut. Doch der Sündenfall hat alles geraubt, was an dieser Gemahlin reizvoll und schön hätte sein können. Das Gute und Attraktive ist geschwunden, der ganze Leib verstümmelt. Aber das ist nun der entscheidende Punkt: Gottes Liebe schwindet deswegen nicht, sondern wird größer. Anders als Menschen-liebe ist sie nicht darauf angewiesen, Liebenswertes vorzufinden. Sondern Gottes Liebe ist in der Lage auch dort zu geben, wo sie nichts zurückbekommt. Und je schäbiger das ist, was von uns übrig bleibt, desto beharrlicher hält Gottes Liebe an uns fest. Bei Aurelia schwindet die Liebe, je weniger Genuss sie sich von ihrem Bräutigam versprechen darf. Und wir können’s ihr nicht verdenken. Doch Gott ist anders! Er verbindet sich trotzdem mit der Menschheit und vermählt sich mit ihr, wird sogar selbst ein Mensch und feiert dabei eine Art Hochzeit. Denn in seinem Sohn verbindet sich Gott mit der Menschheit, um dieser durch eigene Schuld kranken und entstellten Menschheit (mit Augenklappe und Holzbein) wieder auf die Füße zu helfen. Gott kommt wahrlich nicht zu uns, weil wir für ihn attraktiv wären! Als Sünder sind wir in seinen Augen pockennarbige Invaliden mit Prothese und Glasauge! Wir sind das Gegenteil von „attraktiv“! Aber Gottes Liebe lässt sich davon nicht beirren. Denn sie ist in sich selbst so stark und gesund, dass sie sich dem Schwachen und Kranken zuzuwenden vermag. Und obwohl Gottes Sohn den Undank derer voraussieht, die ihn bald kreuzigen werden, nimmt er dennoch Knechtsgestalt an und wird unser Bruder. Ist es also egal, was wir meinen, wenn wir von Liebe reden und von Liebe schwärmen? Nein. Denn menschliche und göttliche Liebe sind verschieden wie Himmel und Erde. Und im Grunde ist nur die göttliche wert, gefeiert und gepriesen zu werden. Menschen lieben zuerst einmal sich selbst – und wenn’s hoch kommt, noch ihre Familie. Gott aber liebt seine Feinde. Er liebt, wo nichts attraktiv ist. Er liebt die, die ihm nichts bringen. Und er stirbt sogar für die, die ihn hassen. Darum täuschen wir uns nicht: Menschenliebe und Gottesliebe spielen nicht in derselben Liga. Die eine ist vergänglich, die andere ewig. Dass wir aber trotz allem Gegenstand der göttlichen Liebe sind – das ist sehr erstaunlich und Anlass zu nicht endendem Dank…

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Bride

Anders Zorn, Public domain, via Wikimedia Commons