C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Siebenunddreißigste Abendvorlesung. (2. October 1885.)

 

Eine der nothwendigsten und wichtigsten Eigenschaften eines Predigers ist, meine Freunde, daß er von einem aufrichtigen, ja, brennenden Eifer beseelt ist, sein Amt recht zu verwalten und dadurch auch etwas Rechtschaffenes auszurichten, nämlich, jede ihm anvertraute Seele der Hölle zu entreißen, zu Gott zu führen, wahrhaft fromm zu machen und in den Himmel zu bringen. Ein rechter Prediger muß für immer aufgegeben haben, in dieser Welt gute Tage zu suchen, oder Geld und Gut, oder Ehre und Ansehen; seine höchste Freude muß vielmehr darin bestehen, daß er sieht, daß seine Arbeit nicht vergeblich ist in dem HErrn – das muß sein süßester Lohn sein für die mancherlei große, schwere Angst und Sorge. Er muß jenen Seufzer täglich und stündlich in seinem Herzen tragen, welchen der alte, treuherzige Pastor Lollmann in einem seiner schönen Morgenlieder ausspricht: „O, Gott, von dessen Brod ich zehr, wenn ich dir etwas nütze wär!“ Das höchste Beispiel wahrhaften Amtseifers sehen wir ohne Zweifel an dem theuren Heidenapostel Paulus, welcher sogar in seinem großen Eifer für die Seligmachung seiner Brüder nach dem Fleisch schreibt (Röm. (S. 368) 9,3.), daß er verbannt sein wollte von Christo für seine Brüder, die seine Gefreundten waren nach dem Fleisch. Ueber diesen Eifer urtheilt Luther in seiner Kirchenpostille: „Das Werk kann keine Vernunft erkennen, das ist viel, viel zu hoch, daß ein Prediger lieber selbst wollte verdammt werden, als daran Schuld sein, daß eine der ihm anvertrauten Seelen verloren gehe.“ Doch so nothwendig und wichtig der rechte Amtseifer ist, so gilt doch dies nicht von jedem Amtseifer. Es gibt auch einen falschen, einen ungöttlichen, einen fleischlichen Eifer, der nicht von Gott kommt, der nicht vom Heiligen Geist gewirkt ist, sondern der seinen Grund hat in der Feindschaft gegen die Anderslehrenden – darum ist mancher so eifrig – oder in Eigennutz – er weiß, wenn er recht eifrig ist, so bringt ihm das Ehre ein, sonderlich bei gewissen Gemeinden – oder endlich auch in Schwärmerei. Wie eifrig waren in ihrem Amt die Hohenpriester zu Christi Zeit, die Volksältesten, die Schriftgelehrten und Pharisäer wider Christum! Um wider ihn ihr Amt zu verwalten, scheuten sie keine Mühe, gönnten sie sich keine Ruhe. Paulus sagt daher von den Juden: „Ich gebe ihnen das Zeugniß, daß sie eifern um Gott, aber mit Unverstand.“ Röm. 10,2. Wie großen Eifer zeigten ferner die falschen Lehrer, welche die galatischen Gemeinden an der reinen evangelischen Lehre St. Pauli irre zu machen suchten! Zu diesem Zweck durchzogen sie Land und Meer! Aber der Apostel sagt von ihnen, Gal. 5,10.: „Wer euch aber irre macht, der wird sein Urtheil tragen, er sei wer er wolle.“ „Möchte er“, will er sagen, „für einen großen Glaubenshelden gelten – er hat euch irre gemacht an der evangelischen Lehre: Aus Gnaden, allein durch den Glauben, um Christi willen.“ – Welchen großen Eifer zeigten sodann zu Luthers Zeiten die Wiedertäufer! Sie verließen um ihrer Religion willen Haus und Hof, Weib und Kind, und eine große Schaar derselben hat sich lieber ersäufen lassen, als daß sie ihre Lehre widerrufen hätten. Doch, was sage ich, die ganze Kirchengeschichte beweist es, und unsere Erfahrung, namentlich in diesem Lande, bestätigt es, daß gerade die falschen Geister, die Schwarmgeister einen größeren Eifer haben, ihre Lehre den Leuten beizubringen, als die rechtgläubigen Lehrer, die reine Wahrheit in die Herzen der Menschen zu bringen. Woher mag das kommen? Es ist das leicht zu erklären. Die Prediger falscher Menschenlehre werden durch ihre Vernunft und durch ihr Fleisch und Blut nicht daran gehindert, sondern vielmehr angefeuert, während die Prediger der reinen Lehre des Wortes Gottes fort und fort zurückgehalten werden durch ihre Vernunft, durch ihr Fleisch und Blut. Das macht es ihnen tausendmal schwerer. Es ist gar leicht, aus seinem Herzen zu reden, aber schwer ist es, die Wahrheit (S. 369) zu verkündigen auf Grund des Wortes Gottes, nach ernstlichem Forschen in demselben, nach brünstigem Gebet und nach ernstlichem Ringen um Erleuchtung des Heiligen Geistes. Warum ist das aber so schwer? Vor allen Dingen darum, weil es so schwer ist, das Wort der Wahrheit recht zu theilen, was doch der Apostel Paulus von jedem unsträflichen Arbeiter im Weinberg Gottes verlangt, oder Gesetz und Evangelium recht von einander zu scheiden, und in keiner Weise diese beiden Lehren zu vermischen. Davor werden wir auch gewarnt in der dreiund-zwanzigsten Thesis.

 

Thesis XXIII.

Das Wort Gottes wird neunzehntens nicht recht getheilt, wenn man die Unwiedergebornen durch die Forderungen oder Drohungen oder Verheißungen des Gesetzes zur Ablegung von Sünden und zu guten Werken zu bewegen, und also fromm zu machen, die Wiedergebornen aber, anstatt sie evangelisch zu ermahnen, durch gesetzliches Gebieten zum Guten zu nöthigen sucht.

 

Das ist eine recht grobe Vermischung des Gesetzes und Evangeliums, wenn man die Leute durch das Gesetz will fromm machen, und wenn man sogar diejenigen, welche schon an JEsum Christum glauben, durch Vorhaltung des Gesetzes, durch Gebieten zum Guten bewegen will. Das ist ganz wider den Zweck, den das Gesetz hat nach dem Fall. Vergleichen wir unter andern folgende Stellen der heiligen Schrift, so wird uns das bald sehr klar. Jer. 31,31-34.: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HErr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen. Nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern machte, da ich sie bei der Hand nahm, daß ich sie aus Egyptenland führete; welchen Bund sie nicht gehalten haben, und ich sie zwingen mußte, spricht der HErr. Sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel machen will nach dieser Zeit, spricht der HErr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben, und in ihren Sinn schreiben; und sie sollen mein Volk sein, so will ich ihr Gott sein. Und wird keiner den andern, noch ein Bruder den andern lehren und sagen: Erkenne den HErrn; sondern sie sollen mich alle kennen, beide Klein und Groß, spricht der HErr. Denn ich will ihnen ihre Missethat vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken.“ Eine herrliche, kostbare Stelle! Eine wahre Sonne, die in der Dämmerung des Alten Testaments plötzlich aufging! Da sehen wir: (S. 370) Wohl ist das Gesetz dem Menschen vor dem Fall schon ins Herz geschrieben, aber nicht dazu, daß dieses Gesetz den Menschen fromm machen sollte; der Mensch war schon fromm. Der Mensch war schon von Gott gerecht erschaffen. Die Menschen trugen das Gesetz nur deswegen im Herzen, damit sie wüßten, was Gott wohlgefällig sei. Das thun zu wollen, bedurften sie ja keines besonderen Gebotes. Sie wollten es eben, ihr Wille stimmte vollkommen mit dem Willen Gottes überein. Anders war es nach dem Fall. Da hat Gott das Gesetz wiederholt nach dem Auszug der Israeliten aus Egypten; da hat Gott den Gesetzesbund aufs neue aufgerichtet. Und was sagt der HErr? Es hätte gar nichts geholfen, sie hätten jenen Bund nicht gehalten, er hätte sie zu allem zwingen müssen – und erzwungener Gehorsam ist eben kein Gehorsam. Da weissagt er denn nun, von einer Zeit, da wolle er es ganz anders machen. Damit wollte nun Gott nicht sagen, daß es nicht schon im Alten Testament anders gewesen wäre, aber insofern er einen Bund mit Israel gemacht hatte, war es ein Gesetzesbund. Dabei haben aber die Propheten immer das Evangelium gepredigt und auf den Messias hingewiesen. Und worin soll der neue Bund bestehen? Gott sagt: Ich will nichts gebieten, sondern ich will das Gesetz gleich in ihren Sinn schreiben und ein neues, reines Herz geben, so daß man gar nicht nöthig hat, sie mit dem Gesetz zu plagen und zu zwängen und zu drängen und zu sagen: „Du sollst! Du sollst!“ Das hilft gar nichts, das thut der Mensch doch nicht. Wir können das Gesetz auch nicht erfüllen. Wir sind von Natur fleischlich und durch das Gesetz kommt der Geist nicht heraus. „Denn ich will ihnen ihre Missethat vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken.“ Das ist die Ursache, warum das Gesetz in ihr Herz geschrieben ist. Was heißt das aber anders, als daß dies durch das Evangelium geschieht, durch die Botschaft von der Vergebung der Sünden? Die im alten Testament selig geworden sind, sind selbstverständlich auf keinem andern Weg selig geworden, wie Petrus ausdrücklich sagt auf dem ersten, apostolischen Concil. Was thun nun die, welche jetzt zur Zeit des neuen Testaments das Gesetz so verkehrt gebrauchen? Die machen aus den Christen Juden, und zwar die allerschlimmsten Juden, die nur auf den Buchstaben des Gesetzes schauen und nicht auf die Verheißung eines Erlösers. Die vermischen nicht nur, sondern die verwechseln das Gesetz mit dem Evangelium. Röm. 3,20.: „Darum, daß kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein mag; denn durch das Gesetz kommt Erkenntniß der Sünde.“ Das gibt Paulus als Grund an. Ist das nicht merkwürdig? Offenbar will er sagen: „Das Gesetz hat jetzt gar keinen andern Zweck, als dem Menschen seine Sünden zu offenbaren, nicht aber, sie ihm ab- (S. 371) zunehmen.“ Das gerade Gegentheil findet statt. Das Gesetz vermehrt nur die Sünde. Denn wenn der Mensch die böse Lust in seinem Herzen empfängt, so ruft ihm das Gesetz zu: „Du sollst nicht begehren!“ Dann meint der Mensch: es sei doch grausam, daß Gott etwas fordere, was der Mensch nicht leisten könne. Das Gesetz vermehrt also die Sünde. Die Sünde wird nicht getödtet, sondern vielmehr lebendig gemacht. Röm. 7,7-13.: „Was wollen wir denn nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde erkannte ich nicht, ohne durch das Gesetz. Denn ich wußte nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht hätte gesagt: Laß dich nicht gelüsten.“ – Eben das ist das Allerschrecklichste, daß wir Menschen von Natur unsere Erbsünde nicht erkennen, daß wir denken, wenn böse Lüste aufsteigen und wir haben nicht gerade einen Gefallen daran, dann werde sie Gott nicht anrechnen. Aber das Gesetz sagt: „Die böse Lust verdammt dich vor Gott!“ – „Da nahm aber die Sünde Ursach am Gebot, und erregte in mir allerlei Lust.“ – Das haben schon die Heiden, unter andern der gottlose Ovid, gesagt: „Nitimur in vetitum, semper cupimusque negata.“ Er sagt also: „Wir begehren gerade das, was uns verboten ist. Wenn es uns nicht verboten wäre, würden wir es vielleicht nicht begehren.“ Aber das Verbot erweckt immer die Lust: Was? Soll das verboten sein? Das sehen Sie schon an Adam. Der Teufel hatte die ersten Menschen bald herum, als er sagte: „Sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allerlei Bäumen im Garten?“ Da fielen sie! – „Denn ohne das Gesetz war die Sünde todt.“ – So lange ein Mensch das Gesetz noch nicht in seinem geistlichen Sinn erkannt hat, so liegt die Sünde wie eine erstarrte Schlange in seinem Herzen. Der Mensch beachtet nicht, was für ein grundverderbtes Wesen er ist. So lange bricht er auch gar nicht so heraus. Sobald man aber einem Menschen das Gesetz in seinem geistlichen Sinn verkündigt hat und es wird von ihm erkannt, so bricht er heraus, wird boshaftig und ruft: „Was? ich soll verdammt sein, weil sich die Sünde in mir regt?“ Ja, das verdammt dich, und wenn du es nicht glaubst, so wirst du es erfahren. Das ist alles, was das Gesetz thun kann. – „Ich aber lebte etwa ohne Gesetz.“ – Paulus will sagen, daß er das Gesetz nicht erkannte, weil er so blind war, als hätte er es nicht. Was hilft es, daß ich die zehn Gebote weiß, wenn ich ihren geistlichen Sinn nicht verstehe? – „Da aber das Gebot kam, ward die Sünde wieder lebendig. Ich aber starb; und es befand sich, daß das Gebot mir zum Tode gereichte, das mir doch zum Leben gegeben war. Denn die Sünde nahm Ursach am Gebot, und betrog mich, und tödtete mich durch dasselbige Gebot. Das Gesetz ist je heilig, und das Gebot ist heilig, recht und gut. Ist denn, (S. 372) das da gut ist, mir ein Tod geworden? Das sei ferne! Aber die Sünde, auf daß sie erscheine, wie sie Sünde ist, hat sie mir durch das Gute den Tod gewirket, auf daß die Sünde würde überaus sündig durchs Gebot.“ 2 Cor. 3,6.: „Denn der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig.“ – Wie kann ich nun durch das Gesetz wollen jemand fromm machen, wenn das Gesetz tödtet? Denn diese Worte heißen nicht etwa: „Der Buchstabe der Heiligen Schrift tödtet“, wie die Rationalisten gewöhnlich auslegen, und auch die Unirten. Die sagen: „Man soll nicht so festhalten am Buchstaben.“ Das ist eine gottlose, schändliche Verdrehung dieser Worte! Wenn man den Zusammenhang nachsieht, so erkennt man, daß der Apostel mit dem Buchstaben nichts anders meint, als das Gesetz. Das tödtet. Wenn es aber tödtet, wie kann es uns dann fromm machen? Es kann uns wohl dahin bringen, daß wir diese und jene äußerlichen Laster lassen, aber das Herz kann es nicht ändern. Ps. 119,32.: „Wenn du mein Herz tröstest, so laufe ich den Weg deiner Gebote.“ – Er sagt nicht: „Wenn du mit dem Gesetz, wenn du mit deinem Donner über mich kommst, dann laufe ich den Weg deiner Gebote!“ Nein, „dann laufe ich nicht. Aber wenn du mich tröstest, werde ich fröhlich und lustig, auf dem schmalen Weg zum Himmel zu gehen“. Das werden Sie auch an sich selbst schon erfahren haben. Wenn Sie längere Zeit noch so träge und lau gewesen sind, und Sie hassen sich selbst und wissen es doch nicht anzufangen, wie es anders werden kann – hören Sie dann einmal eine recht evangelische Predigt, dann gehen Sie wie umgewandelt aus der Kirche und denken: „Du darfst doch glauben; du bist ein Kind Gottes.“ Auf einmal merken Sie, daß es doch eigentlich gar nicht zu schwer ist, den Weg der Gebote Gottes zu gehen; Sie laufen ihn von selbst. Also, wie thöricht ist es, wenn ein Prediger denkt: „Nun will ich das Gesetz donnern lassen. Jetzt will ich ihnen die Hölle vorstellen, die Verdammniß ausmalen, dann wird’s schon anders werden!“ Das hilft gar nichts, um die Leute zu bessern. Das muß ja auch seiner Zeit geschehen, damit die sicheren Sünder erschrecken und arme Sünder werden, aber ein anderes Herz gibt das Gesetz nicht, und Liebe zu Gott und dem Nächsten gibt es nicht. Wer sich dadurch bewegen läßt, dies und jenes Werk zu verrichten, der thut es doch nur aus Zwang, wie die Israeliten gezwungen werden mußten zu dem Bund des Gesetzes. Gal. 3,2.: „Das will ich allein von euch lernen: Habt ihr den Geist empfangen durch des Gesetzes Werke oder durch die Predigt vom Glauben?“ – Die Galater hatten sich verführen lassen, die Predigt Pauli vom Glauben und allein aus Gnaden durch Christum für eine (S. 373) wenigstens sehr unvollständige Lehre zu halten, und darum freilich auch für eine gefährliche Lehre, durch welche man leicht könne ins Verderben gerathen. Da nahmen sie denn nun die Gesetzeslehre der falschen Propheten an. Mit tiefer Betrübniß hörte das Paulus, daß diese Gemeinden, welche er selbst gegründet hatte, die so wunderschön aufblühten, daß diese Gemeinden gerade zerrüttet und verwüstet worden seien durch falsche Lehrer. Da fragte er sie: „Das will ich allein von euch lernen: Habt ihr den Geist empfangen durch des Gesetzes Werke oder durch die Predigt vom Glauben?“ Er will sagen: „Ich erinnere euch daran, was für eine Veränderung mit euch vorging, als ich euch das süße Gnadenevangelium predigte. Habt ihr damals nicht den Geist empfangen?“ Er meint den Geist der Ruhe, den Geist des Friedens, des Glaubens, der Freude. Darum ruft er ihnen zu: „Wie waret ihr dazumal so selig!“ Ja, er sagt sogar: „Wenn es möglich gewesen wäre, ihr hättet eure Augen ausgerissen und mir gegeben.“ So ergriffen waren sie, und so lebendig erkannten sie, was für eine herrliche, himmlische, köstliche Lehre das sei; sie waren nach Herz, Muth und Sinn wie umgewandelt. „Habt ihr nun diesen neuen, himmlischen Frieden des Herzens, diese geistliche Freude, diese überschwängliche Zuversicht, habt ihr die bekommen durch die falschen Lehrer, die euch wieder in das Gesetz haben hineingezerrt?“ Der Apostel wußte, daß die Gemeindeglieder traurig und betrübt, ihrer Seligkeit ungewiß dahingingen, aber sie waren wie bezaubert. „Denn“, dachten sie, „die Seligkeit ist ein großes Gut, dafür muß man auch etwas Großes thun. Das haben auch die späteren Lehrer uns eingeprägt.“ Sie meinten, dieses Elend, diese Untüchtigkeit zu allem Guten sei nur ihre Schuld und nicht die Schuld der falschen Lehre, die in ihr Herz gebracht worden war. – Merken Sie nun, was der Apostel hier sagt! Wollen Sie einst Ihre Gemeinde lebendig machen, daß der Geist des Friedens, der Freude, des Glaubens, der Zuversicht, des kindlichen Sinnes, der Ruhe der Seele bei Ihren Gemeindegliedern einzieht, so dürfen Sie doch um Gotteswillen nicht das Gesetz dazu gebrauchen. Und wenn die Gemeinde im allerschlimmsten Zustande wäre, so müssen Sie freilich auch das Gesetz verkündigen, aber gleich hinterdrein das Evangelium bringen. Sie können nicht heute das Gesetz bringen und das Evangelium versparen auf spätere Zeiten. Sobald das Gesetz sein Werk gethan hat, soll das Evangelium an seine Stelle treten. Diese schändliche Vermischung des Gesetzes und des Evangeliums treiben am allergröbsten die Rationalisten. Es gibt in der That rationalistische Prediger, welche denken, das Evangelium sei eine gefährliche Lehre, die Leute würden nur sicher dadurch gemacht, daß sie nicht nach (S. 374) der Frömmigkeit trachteten, weil sie da immer hörten: „Der Mensch wird allein durch den Glauben gerecht und selig.“ Sie predigen dann mit allem Ernst die Moral und wollen die Leute so fromm machen. Was wirken sie aber? Auch die allereifrigsten Rationalisten wirken weiter nichts, als daß manche vielleicht zu einer gewissen Ehrbarkeit gebracht werden, sich enthalten aller groben, schändlichen Laster und Verbrechen, aber daß man ein anderes Herz erhalten muß, daß sie Gott und den Nächsten wahrhaft lieben sollen, daran ist nicht zu denken. Wenn ich in einer solchen Gemeinde in voller Freude sagte: „Ich liebe Gott über alle Dinge. Gott ist mein Ein und Alles“, da würden sie alle denken: „Dieser Mensch ist ja von Sinnen!“ So wenig haben solche Leute eine Ahnung, daß es möglich sei, Gott über alles zu lieben. Wie es mit der ersten Tafel geht, so ist es auch mit der zweiten Tafel. Wie viel weiß davon ein Glied einer „freien“ Gemeinde etwa, wenn der Prediger auch noch so eifrig Tugend und Frömmigkeit predigt? Nichts! Er geht nach Hause und betrügt die Leute, daß denen die Augen übergehen. Ein solcher Mensch geht in die Kirche und morgen weiß er den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, und denkt dabei: „Das ist Geschäft.“ Er lebt in Sünden und Schanden bis über die Ohren und gilt für einen außerordentlich rechtschaffenen Mann. Wenn etwas gegeben werden soll, gibt er auch reichlich. Ja, da gibt er vielleicht hundert Thaler, und morgen betrügt er die Leute wieder um tausend Thaler. Er will sich immer der Nächste sein. Wenn man ihm sagt: „Was? du treibst dein Geschäft nicht dazu, um deinem Nächsten zu dienen, sondern um dir eine erkleckliche Summe zurückzulegen?“ so hält er das für Schwärmerei. Mit dem Gesetz können wir eben nichts als elende Heuchler heranziehen. Ebenso geht es bei den Papisten. Dieselben wissen nichts von der freien Gnade in JEsu Christo. Da wird immer Moral gepredigt und nur hineingemischt allerhand von Maria und den Heiligen, aber vom Evangelium predigen sie nichts. Sie weisen den armen Sünder nicht auf Christum hin, sagen vielmehr: „Christus ist der Richter aller Welt. Gehe zu dem und dem Heiligen, der wird für dich bitten, daß Christus dir solle gnädig sein.“ Das ist die teuflische Lehre des antichristischen Pabstthums. Und was erzielen sie damit? Was ist die Frucht dieser Lehre? Man lese die Berichte über die Länder, wo die Papisten die Herrschaft haben, wo sie nicht inspicirt werden von den Protestanten! Da geht es auf das Allergreulichste her, die Priester leben auf das Schändlichste. Die Leute wissen: „So und so viel uneheliche Kinder hat er, aber er hat ja doch die Priesterweihe; durch die kann man Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit bekommen.“ Und wer sind hier die (S. 375) allertreuesten Katholiken? Die Irländer z. B. sind ein rohes Volk. Die treiben lauter Schurkereien, und dann gehen sie zu Ostern zur Beichte. Da sagen sie dem Priester alles und der legt ihnen eine Geldstrafe auf, oder sie sollen fasten oder doch nur Fische essen an dem und dem Tage und – damit ist alles abgemacht. Ist das nicht scheußlich? Ist das nicht greulich? Doch nicht nur die Rationalisten und Papisten vermischen so das Gesetz und das Evangelium, es geschieht das auch von vielen in der rechtgläubigen Kirche. Es geschieht erstens von solchen, die erst nach vielem Kampf und nach großer Angst zur Gewißheit ihres Gnadenstandes gekommen sind, die vielleicht Jahre lang gekämpft haben und haben sich nicht trösten lassen, weil sie die reine Lehre nicht erkannt hatten. Wenn solche nun die reine Lehre verkündigen wollen, so kommen immer solche Worte zwischen das Evangelium, daß die Zuhörer seufzen: „Der Mann muß wohl ein frommer Mann sein, aber er weiß nicht, was für arme Menschen wir sind. Wir können das nicht leisten.“ Das sind noch die Allerbesten. Zweitens geschieht diese Vermischung auch, wenn die Prediger merken, daß alles Predigen nichts helfen will. Immer noch kommen die groben Sünden des Fleisches vor; es gibt vielleicht noch Trunkenbolde, es kommt vielleicht gar Schlägerei vor. Solche Leute kommen dann und wann einmal in die Kirche, gehen selten zum heiligen Abendmahl; mit einer Collecte darf man gar nicht kommen. Da denkt der Prediger wohl: „Halt, du hast zu viel Evangelium gepredigt! du mußt es anders anfangen! du mußt mit dem Evangelium schweigen und eine Zeit lang nichts als Gesetz predigen! dadurch wird es wohl anders werden!“ Doch wie irrt sich ein solcher Prediger! Es wird nicht anders. Die Leute werden erbost, daß der Prediger sie nicht will thun lassen, was sie doch mit so großer Lust thun. – Wenn er eine Collecte sammelt und es sind 20 Cents darin – und er hat vielleicht 20 Dollar erwartet – denkt er: „Ich will nächsten Sonntag ihnen einmal Tod, Hölle und Verdammniß vorhalten!“ Ja, es mag sein, daß nun ein paar Dollars mehr darin sind, aber was erzwungen ist, das gilt vor Gott gar nichts. Wird sich wohl ein Plantagenbesitzer freuen über seinen Sclaven, wenn er sieht, wie der Sclave nur an die Arbeit geht, wenn die Peitsche knallt, wie er sonst aber sich in den Winkel setzt und träge ist? Nein, gewißlich nicht! So will auch Gott keinen erzwungenen Dienst. Solche Prediger sollen darum ja nicht denken, daß sie etwas Großes ausgerichtet haben, weil sie das und das abgeschafft haben. Auch die allerverkommenste Gemeinde kann durch nichts anderes wieder zurechtgebracht werden, als durch das allersüßeste Evangelium. Ist eine Gemeinde so verkommen, so ist immer die Ursache, daß die Prediger das Evangelium nicht genug gepredigt haben. Das ist kein Wunder, wenn (S. 376) man dann nichts wirkt; denn das Gesetz tödtet, aber der Geist, das Evangelium, macht lebendig. Hören Sie nun, was Luther schreibt zu den Worten Röm. 12,1.: „Ich ermahne euch, lieben Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes“ (W. XII, 429): „Er spricht nicht: Ich gebiete euch; denn er predigt denen, die schon Christen und fromm sind durch den Glauben im neuen Menschen, die nicht mit Geboten zu zwingen, sondern zu ermahnen sind, daß sie williglich thun, was mit dem alten, sündlichen Menschen zu thun ist. Denn wer es nicht williglich thut, allein aus freundlichem Ermahnen, der ist kein Christ;“ – Ist es nicht erschrecklich, wenn ein Prediger alles thut, um todte Werke hervorzubringen? Er will seine Gemeindeglieder zu Heuchlern machen vor Gott. Nein, wenn die guten Werke erzwungen sind durch Vorhaltung der Drohungen des Gesetzes oder selbst der Verheißung des Gesetzes, dann sind es keine guten Werke. Nur das sind gute Werke, die der Mensch aus freiem Herzen thut. Das weiß auch jeder. Wenn ein Bettler kommt, und der, welcher angesprochen wird, ist eben nicht besonders bei Geld, und er kann sich nicht recht dazu entschließen, ein Almosen zu geben, aber endlich gibt er doch etwas, da sagt ihm gleich sein Gewissen: „Das war nichts! Du hast es nur gezwungen gethan. Du hast das nicht aus Lust zur Sache gethan.“ Oder wenn jemand Sie beschenkt und Sie merken bald: „Aha, der beschenkt dich, damit du ihm das und das zu Gefallen thust!“ dann freuen Sie sich gar nicht. Nur dann freuen Sie sich, wenn Sie wissen, daß es aus reiner Liebe kommt. Ist das nicht der Fall, so ist Ihnen das schönste Geschenk zuwider. So sind auch dem lieben Gott die erzwungenen Werke zuwider. – Merken Sie sich nun diese wichtige Stelle aus Luther für die Zeit Ihres Lebens: „und wer’s mit Gesetzen erzwinget von den Unwilligen, der ist schon kein christlicher Prediger noch Regierer, sondern ein weltlicher Stockmeister.“– Der Stockmeister fragt nichts danach, wie es im Herzen aussieht, sondern Gehorsam muß sein. Er steht wohl auch da mit der Geißel und sagt: „Wenn ihr das nicht thut, so sollt ihr die Geißel auf dem Rücken fühlen.“ Aber er denkt nicht: „Die werden nun fromm sein.“ Nein, die Verbrecher liegen da in Stahl und Eisen und denken, während sie gehorchen müssen, darüber nach: „Wie willst du es machen, wenn du wieder einmal stiehlst, daß du es besser fertig kriegst, damit sie dich nicht wieder erwischen?“ So geht es mit den Gliedern einer christlichen Gemeinde bei solchen gesetzlichen Predigern. Die werden auch in Stahl und Eisen geschmiedet. – Luther schreibt nun weiter: „Ein Gesetztreiber dringt mit Dräuen und Strafen; ein Gnadenprediger lockt und reizt mit erzeigter göttlicher Güte und Barm- (S. 377) herzigkeit; denn er mag keine unwilligen Werke und unlustigen Dienst, er will fröhliche und lustige Dienste Gottes haben. Wer sich nun nicht läßt reizen und locken mit solchen süßen, lieblichen Worten von Gottes Barmherzigkeit uns in Christo so überschwänglich geschenkt und gegeben, daß er mit Lust und Liebe auch also thue, Gott zu Ehren, seinem Nächsten zu gute, der ist nichts und ist alles an ihm verloren. Wie will der mit Gesetzen und Dräuen weich und lustig werden, der vor solchem Feuer himmlischer Liebe und Gnade nicht zerschmilzt und zerfließt? Es ist nicht Menschen Barmherzigkeit, sondern Gottes Barmherzigkeit, die uns gegeben ist, und die St. Paulus will von uns angesehen haben, uns zu reizen und zu bewegen.“ – Es darf also einer nicht denken: „Wenn einer denen das Evangelium predigt, so werden sie Gottes Willen nicht thun. Ich muß das Gesetz predigen und Gottes Drohungen verkündigen.“ Ja, wenn du weiter nichts thust, so hast du nur die Leute zur Hölle geführt. Es ist besser, du spielst nicht den Polizisten in deiner Gemeinde, sondern wandelst die Herzen um, daß sie aus freiem, fröhlichem, lustigem Herzen thun, was Gott gefällt. Wer recht erkannt hat die Liebe Gottes in Christo JEsu, der erstaunt über dieses alles zerschmelzende Feuer, welches Himmel und Erde erfüllt. Sobald er das glaubt, kann er nicht anders, als Gott lieben. Er denkt nun: „Was kann ich nur thun ihm zu Liebe und zu seiner Ehre? Ich bin ihm meine Seligkeit schuldig. Ach, ich möchte ihm so gerne dafür danken!“ Aber wer auf die Darstellung der Liebe Gottes in Christo JEsu nicht zerschmilzt, wenn diese das Herz nicht fließen macht, dann nützt es gar nichts, den mit Gesetzen und Drohungen erweichen zu wollen. Das sind die rechten Prediger, die es so machen, wie Luther; aber die nur das Gesetz predigen, die erreichen nichts. Je öfter Sie das Gesetz darstellen in seinem geistlichen Sinn, desto mehr stürzen Sie die Leute im besten Fall in Verzweiflung, machen sie aber nicht fröhlich, Gott zu dienen. Hören Sie nun noch, was Luther schreibt zu den Worten des 110. Psalms: „Nach deinem Sieg wird dir dein Volk williglich opfern im heiligen Schmuck.“ Der Prophet will sagen: „Jetzt werden die Opfer nicht williglich gebracht, bloß aus Angst und Furcht vor der Hölle, aber wenn du wirst gesiegt haben, nach Vollbringung des Werkes der Erlösung, dann wird dein Volk williglich opfern.“ Luther schreibt (W. V, 1435f.): „Wenn es weiter dahin kömmt, da man auch die Leute will lehren, was Gott von uns haben will, und das Gesetz oder die zehn Gebote predigt, mit Drohung der Strafen, und Locken und Reizung der Güter, die denen Frommen verheißen werden; so mögen dennoch etliche dadurch beweget werden, daß sie sich angreifen und wollen fromm sein und Gott dienen, üben sich in des Gesetzes Werken mit Fleiß und Ernst; gleichwie St. Pau- (S. 378) lus, ehe er bekehret und ein Christ ward.“ – Saulus meinte es ganz ernstlich, aber das war doch eitel Heuchelei. Weiter wirkt das Gesetz nichts, als daß die Leute etwas äußerlich thun, was ihr Herz nicht mit thut. Der Mensch kommt zu einem pharisäischen Verstand des Gesetzes und auch nur zu einem pharisäischen Thun. – „Aber das ist noch eitel Heuchelei und nur äußerliche Frömmigkeit, durch das Gesetz erzwungen, die vor Gott nicht gilt; ist noch keine herzliche Liebe und Lust des Herzens zum Gesetz, kein rechter, innerlicher Gehorsam, Furcht, Glaube, noch Erkenntniß Gottes. Ja, solche wissen und verstehen auch nicht, daß das Gesetz solchen vollkommenen, herzlichen Gehorsam fordert, können ihre Sünden und Ungehorsam nicht sehen noch erkennen, sehen das Gesetz nur durch einen Ueberhang an, und bleiben immer in der Blindheit, daß sie nimmer verstehen, was Gott von ihnen fordert, und wie fern sie davon sind. Wo es aber zum Höchsten kommt mit dem Gesetz, und sein bestes und fürnehmstes Werk ausrichtet, nämlich daß es den Menschen zur Erkenntniß bringt, daß er siehet und verstehet, wie Gottes Gebot einen vollkommenen, herzlichen Gehorsam von ihm fordert, und wie er denselben nicht hält, noch halten kann, und also nichts denn Sünden und Gottes Zorn in und über ihm fühlet: da reget sich erst der rechte greuliche Ungehorsam gegen Gott und fühlet sich wohl, wie gar die Natur nicht vermag, noch durch Gesetze dahin zu bringen ist, daß sie könnte von Herzen und willig Gott gehorsam sein; sondern das Widerspiel findet sich. Denn wenn sie also, durch das Gesetz verdammt, unter Gottes Zorn geworfen und zur Hölle verurtheilt wird, da fähet sie an, dem Gesetz feind zu werden, und fasset einen greulichen und bitteren Zorn und Haß gegen Gott; – da wird die Sünde recht sündlich – fället also dahin in Gotteslästerung, Verzweiflung und einigen Tod, wo ihr nicht durch das Evangelium von Christo daraus geholfen wird.“

 

- FORTSETZUNG -