August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):

Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.


I. Die Theologie, ihre Meister und Jünger.

 

Niemand hat allein für sich die Theologie; wer sie hat, hat sie nur mit Andern und für Andere. Eine weltliche Wissenschaft kann der Inhaber derselben auch wohl für sich besitzen: der Bibliophile kann seine Bücher und die Exzerpte aus denselben hüten und, wie ein Drache den Schatz, vor fremdem Auge, geschweige denn vor fremder Benutzung, sorgfältig bewahren; der Philosoph kann (S.5) seine Esoterika für sich und wenige Vertraute behalten, und darf in Zorn entbrennen, wenn man sie ihm publiziert; der Eine wie der Andere bleibt dennoch ein Mann der Wissenschaft, vielleicht ein angesehener, und nicht mit Unrecht. Ein Theolog, welcher seine Theologie für sich behält, allein für sich hat, ist ein Widerspruch mit sich selbst; er ist kein Theolog, er hat keine Theologie; denn die Theologie, und wäre sie nur ein Wissen von Gott, ist der unbedingteste Gegensatz des Egoismus, des abgeschlossenen Fürsichseins, der Esoterik. Das Wissen von Gott welches sich Theologie nennt, ist zugleich ein Reden von Gott. Und das Reden von Gott geht hinaus in die Welt, in das Leben der Menschen. Die Theologie dient dem wirklichen Leben, dem wirklichen Leben in dieser Welt und in der Ewigkeit, und jeder Blick, welchen der Theolog neben dem wirklichen Leben vorbei tut, ist ein falscher Blick, ein Augenverdrehen, ein Schielen; jeder Tritt welchen die Theologie neben das wirkliche Leben tut, ist ein Fehltritt, welcher zum Falle und endlich unfehlbar zum Zerschellen führt, falls er wiederholt wird. Die Theologie teilt mit was sie hat, ganz und unverkürzt, kann nicht leben ohne diese Mitteilung ihres ganzen und vollen Inhalts, und lebt wiederum selbst von der Rückwirkung dieser Mitteilung, von dem Empfangen der Empfangenden, aber dies alles darum, weil dieser Inhalt für die Empfangenden die Lebensluft, die unentbehrliche Nahrung ist, nicht anders wie Luft und Sonnenlicht und Brot, und weil kein Mensch auf Erden leben kann, der nicht das empfinge, was von der Theologie ausgehet. Wer nicht das tiefe Bedürfnis hat, zu lehren und mitzuteilen in unbeschränkter Fülle, und nicht das sichere Wissen, dass diesem seinem Bedürfnis ein eben so tiefes und ein völlig allgemeines Bedürfnis des Empfangens entspricht, schon der ist kein Theolog. Das Bedürfnis des Empfangens aber besteht in dem Hunger und Durst nach dem Worte Gottes, nach der Gewissheit des ewigen Lebens, nach der Gewissheit der Seligkeit. Gegeben und empfangen werden soll in der Theologie das Wort Gottes, die Gewissheit, die unzweifelhafte, die unangreifbare Gewissheit des ewigen Lebens, der Seligkeit. Die Theologie hat das Hirtenamt zu (S.6) üben in der Weise, dass sie das heranwachsende Geschlecht anleite, wie dasselbe zu einem Geschlecht treuer Hirten werden könne, welche die Schafe zusammenzuhalten, ihnen nachzugehen, sie zu suchen und wiederzufinden im Stande und bereit sind; sie hat Hirten zu erziehen, welchen diese rastlose und mühevolle Arbeit des Hütens, Weidens und Suchens der Schafe zur andern Natur gemacht worden ist, so dass ihnen das Herz wehe tut, wenn sie nicht von früh bis spät der ganzen Herde und jedes einzelnen Gliedes derselben pflegen, die ihr Leben in dieser Sorge verzehren, und deren Sorge erst mit dem letzten Lebenshauche erlischt. Wer nicht ausschließlich sein Augenmerk darauf gerichtet hat, Pastoren zu erziehen, der ist kein Lehrer der Theologie. Dass den künftigen Hirten auch Waffen müssen in die Hand gegeben werden, die Diebe und Mörder und den Wolf von der Herde abzuwehren, und dass unter diesen Waffen insbesondere in unserer Zeit auch solche sein müssen, welche gegen die „Wissenschaft“ dienen, versteht sich von selbst und soll im Verfolg noch mehr als einmal berührt werden; aber wenn der künftige Hirte nicht erfährt, wer der Wolf ist, wer die Diebe und Mörder sind, wozu dann die Waffen? Wenn der künftige Hirte nicht einmal Schafe zu hüten und zu weiden angewiesen wird und lernt, oder sogar nicht weiß, dass er Schafe zu hüten haben, dass er ein Hirte sein wird, wozu dann Waffen? Dann sind sie ihm nur ein Spielwerk, aber ein gefährliches. Und noch immer gibt es Viele, sehr viele unter den Jüngern der Theologie, welche nicht wissen, und in dem ganzen Verlaufe ihrer theologischen Studienzeit nicht inne werden, dass sie Hirten werden und eine Herde weiden sollen, für welche sie mit ihrem Leben einzustehen haben. Von Allem ist die Rede in den theologischen Hörsälen, und häufig und wiederholt von Allem, aber nur selten und flüchtig von dem furchtbaren Ernste, mit welchem das bevorstehende wirkliche Leben jene Jünglinge, Besucher dieser Säle, anblicken wird. Ja es gibt theologische Auditorien, in welchen noch niemals ein Wort von diesem Ernste des Weltgerichts geredet worden ist, mit welchem das Pfarramt dem Jünger der Theologie in die Augen schaut. (S.7) Sie sollen nicht banausisch gebildet werden, sagt man, diese Jünglinge der theologischen Zukunft, man will sie „nicht zu früh zu Praktikern bilden“, man fürchtet, wie schon im 17. Jahrhundert gefürchtet wurde, „sie möchten sich auf die Postillen legen“ und am Ende gar beim Dormi secure anlangen. Wohl! Ihr bildet sie nicht banausisch, aber rhetorisch, nicht zu Praktikern, aber zu Vokabulisten und Grammatisten, nicht zu Postillenreitern, aber zu Heftreitern, nicht zu Müßiggängern auf den Bänken des Auditoriums, aber zu Müßiggängern im Amt, weil sie nie gelernt haben, dass es im Amte Arbeit, und harte Arbeit gibt. Hat unsere theologische Jugend im Ganzen Freude an ihrem Studium und der mit demselben verbundenen Arbeit, wie sie der Jünger der Naturwissenschaften, und zum Teil in hohem Grade, wie sie der Mediziner noch jetzt größtenteils hat und der Jurist wenigstens bis vor Kurzem hatte? Wer will es versuchen, diese Frage zu bejahen? Und warum, wenn dieselbe verneint werden muss, warum haben sie jene Freude nicht? Die kurze Antwort ist die: weil ihr Studium ihnen kein ernsthaftes Ziel, ja überhaupt gar kein Ziel vor Augen hält. Aufgaben für das Leben gestellt zu bekommen, Taten zu tun, verlangt jeder Jüngling gesunden Leibes und gesunder Seele; wer stellt unsern theologischen Jünglingen Aufgaben für das Leben? wer zeigt ihnen Taten? Wer zeigt ihnen, dass die Kirche Jesu Christi die Herrscherin in der Welt der Geister ist? wer zeigt ihnen, dass diese Herrschaft von den Dienern der Kirche, und von diesen allein, und zwar ohne alle äußerliche Mittel, nur durch das demütige aber ehern unbeugsame und dadurch mächtige Wort Gottes, nur durch das unscheinbare aber weltüberwindende Sakrament ausgeübt werde? Wer zeigt ihnen in unserer Zeit, in welcher die Stützen weltlicher Art, auf die wir uns eintausend Jahre lang gelehnt haben, morsch geworden sind und den sichern Einsturz drohen, in welcher das Erbe unserer Väter an natürlicher Zucht, Ordnung und Sitte augenscheinlich auf die letzte Neige geht und in wenig Menschenaltern völlig ausgeschöpft sein wird, in unserer Zeit, welche auf das Ende unseres Volkes, und zwar auf ein Ende mit Schrecken, unzweifelhaft hinweist – wer zeigt ihnen in dieser Zeit, dass sie, (S.8) sie allein mit dem lebendigen Worte Gottes im Herzen und im Munde diesen Verfall aufhalten können, und dass sie, wenn derselbe dennoch eintritt, unversehrt aus dem allgemeinen Ruin hervorgehen und auf den Trümmern der gegenwärtigen Ordnung der weltlichen Dinge mit unbewegtem Herzen und festem Blicke als Sammler eines neuen Volkes stehen sollen? Wer zeigt ihnen, dass sie, sie allein die eherne Mauer sein können, von welcher der Prophet (Jerem. 15, 20) spricht, und wodurch sie dies sein können? Wer zeigt ihnen, dass niemand als sie, fähig sei die Geister zu prüfen und zu unterscheiden, dass dies aber nicht allein ihre Fähigkeit, sondern auch ihre Pflicht und ihr Recht fei, ihre Pflicht und ihr Recht, in die ihnen anbefohlenen Seelen mit kräftigem geistigem Arme hineinzureichen und die Seelen und die Geister mit der Gewalt des allmächtigen Gottes zu regieren? Wer zeigt ihnen, dass niemand im Stande sei, jeder Erscheinung der Welt auf den Grund zu sehen, ob sie mit Christus gehe oder Ihm zuwiderlaufe, als sie, eben sie, also auch niemand das Bestehen oder den Untergang der zeitlichen Zustände, den Lauf und das Ende der Welt zu beurteilen vermöge als wieder nur sie? Und wer zeigt ihnen, auf welche Weise, durch welche Seelenstellung, durch welche Übungen, durch welche Arbeiten, durch welche Mühen und Kämpfe jene Geisterprüfung und Geisterscheidung, diese Einsicht in die Ereignisse der Welt, dieses sichere Urteil über den Gang und das Ende der zeitlichen Dinge erlangt werde? Wer zeigt ihnen, in welche Tiefen der Seele hinabgestiegen werden müsse, um die Seelen zu heilen vom ewigen Verderben? wer bereitet sie vor auf das Grauen, hineinzublicken in eine tiefe, aber finstere und kalte Seele, aus deren Grunde die funkelnden Augen des Drachen, der alten Schlange, hervorleuchten? und wer leitet sie an, nicht allein das Grauen zu besiegen, sondern auch festen Auges hinabzublicken, und wiederum, nicht nur hinabzublicken, sondern mit der eigenen Seele hinabzusteigen in jene, finstre Seele, und mit dem Feinde Auge in Auge, Seele an Seele zu ringen und ihn zu überwinden? Wer zeigt dies alles den Jüngern der Theologie? wer lehrt sie dies? Geschähe es, würden diese Aufgaben gezeigt und würde (S.9) die Lösung derselben gelehrt, so möchte die Zahl derer, welche sich der Theologie widmen, vielleicht abnehmen, aber der Rest eine Freude an dem künftigen Berufe finden, wie so leicht keine anderen Berufsjünger. Sehen wir ja doch, dass, wo in der neueren Zeit die Tatsachen des kirchlichen Lebens, selbst in ihrer dermalen noch unvollkommenen Form, den Studierenden in angemessener Weise nahe gelegt werden, eine Teilnahme für das theologische Studium und ein Eifer in der Behandlung dieser Tatsächlichen Fragen erweckt worden ist, wovon wir seit mehr als drei Generationen nichts mehr gewusst haben. Und eine Einführung in diese Aufgaben, von denen hier nur einige wenige der hervorragendsten beispielsweise genannt, nicht beschrieben, geschweige denn genauer bezeichnet werden konnten, eine Unterweisung in der Behandlung, eine Anleitung zur Erledigung derselben sollte eine banausische Bildung genannt werden dürfen? Eine sorgfältige Vorbereitung auf das Verständnis und eine Vorübung auf die Lösungsarbeit dieser Aufgaben dürfte man vorzeitige (vielleicht gar: rohe) Praktik, Postillenreiterei und Begünstigung der Untätigkeit nennen? Glaube man doch ja nicht, dass dies alles lediglich „Pastoraltheologie“ sei, und somit in dem Semester, in welchem dieselbe gehört wird, füglich abgemacht werden könne; um diese Fragen nur an ihren äußersten Enden fassen zu lernen, diesen Aufgaben nur äußerlich nahe treten zu können, dazu gehört eine sehr lange und sehr eindringende Beschäftigung mit dem Worte Gottes; freilich aber reichen dazu vereinzelte Kollegien über diesen und jenen vereinzelten Teil der heiligen Schrift nicht aus, am wenigsten, wenn dieselben nach Art der Vokabulisten und Grammatisten gelesen werden. Dazu gehört eine lange und eindringende Beschäftigung mit der Geschichte und den Ordnungen der christlichen Kirche, also auch mit den achtzehnhundertjährigen Erfahrungen der christlichen Kirche in Lehre und Leben, was wir Dogmatik und Ethik zu nennen pflegen. Es sollen diese Disziplinen den Jüngern der Theologie nicht erlassen, es sollen eher noch die Forderungen an dieselben in Beziehung auf diese Disziplinen verschärft werden, aber das ist unbedingt zu fordern, dass innerhalb dieser Disziplinen das Auge des Lehrers unverwandt auf die bezeichneten Ziele gerichtet (S.10) bleibe, und dass die Blicke der Zuhörer mit Energie diesen Zielen zugewendet werden. Damit aber dieses geschehen könne, müssen die Lehrer eben nicht bloß Lehrer, die Zuhörer nicht bloß Zuhörer und Schüler, die ersteren müssen Meister sein, damit die andern Jünger sein können. Diese Meister müssen alles das, wovon so eben die Rede war, selbst erlebt und erfahren, sie müssen die Kämpfe selbst bestanden, die Arbeiten selbst getan, die Aufgaben selbst gelöst haben, und in diese ihre Erlebnisse, in diese ihre Erfahrungen, und damit ich es kurz sage, in die ewige Gotteskraft des persönlich nahen und unmittelbar gegenwärtigen Herrn Jesus Christus, des Erlösers, der auferstanden ist und dem Tode die Macht genommen hat, müssen die Meister ihre Jünger einführen, einführen durch die Kraft des heiligen Geistes. Diese Meister müssen erfüllt sein von der Verantwortlichkeit, die sie für die Seelen ihrer Jünger nicht allein, sondern für die vielen Tausend, für die vielen Millionen Seelen tragen, welche diesen Jüngern werden anvertrauet werden – und auch die kleinste Universität legt in dieser Weise immer viele Hunderttausende von Seelen auf die Seelen ihrer theologischen Lehrer. Auch sind die wahrhaften Meister von dieser Verantwortlichkeit in der Tat tief durchdrungen, weil sie wissen, dass sie dereinst, nicht figürlich, sondern wirklich, vor das Angesicht des Herrn Jesu Christi werden gestellt werden, um dort nicht tropisch, sondern buchstäblich Rechenschaft abzulegen von ihrem Haushalte, von der Sorge für die Seelen, welche dem Herrn Christus angehören, und die Er, als sein Eigentum, von den Händen der Hirten und Hirtenführer fordern wird. Diejenige Theologie nun, welche die Notwendigkeit dieser Meisterschaft nicht zugestehet, welche diese Verantwortlichkeit nicht, oder nur figürlich, oder nur „mit Beschränkungen“ anerkennt, welche jene Aufgaben nicht für Aufgaben, sondern für willkürliche auf Ansichten ruhende Probleme hält, diejenige Theologie, welche von einem Jesus Christus weiß, welcher gewesen, aber nicht von einem Jesus Christus, welcher noch heute persönlich gegenwärtig und nahe ist, diejenige Theologie, welche die Auferstehung des Herrn Christi lehrt, ohne dabei das Fortwirken dieser Tatsache für den gegenwärtigen Augenblick zu fassen und fassbar zu machen, diejenige Theologie (S.11) endlich, welche eine Lehre vom heiligen Geist, aber nicht den heiligen Geist kennt und bekennt – diese Theologie ist die Theologie der Rhetorik. Esoterisch, nicht für das Volk bestimmt, theoretisch, nicht in der Praxis anwendbar noch für dieselbe bestimmt, Erlebnisse vermeidend und Erfahrungen scheuend, vielleicht weder die einen noch die andern anerkennend, der wirklichen Welt mithin fremd und nur in der Diskussion heimisch, dem wirklichen Leben ausweichend und nur der Literatur vertraut steht sie auf allen Punkten der Theologie der Tatsachen, von welcher ich ausgegangen bin, gegenüber. Betrachten wir die eine und die andere nunmehr teils in ihren allgemeinen, teils in den einzelnen, in dem Bisherigen zum Teil schon angedeuteten Erscheinungen und Äußerungen.


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