Ein tausendjähriges Reich?
Biblische Texte haben manchmal ein seltsames Schicksal. Denn sie werden im Laufe der Jahrhunderte nicht nur gelesen und ausgelegt, sondern auch für dies und das benutzt. Und je nachdem, wer sich auf eine Bibelstelle beruft, kann sie mal als „großartig“ gelten und mal als höchst „problematisch“ – bloß weil es schräge Vögel sind, die sie für sich in Anspruch nehmen. Das traurigste Beispiel dieser Art ist vermutlich die Ankündigung der Johannesoffenbarung, am Ende der Zeit (direkt vor dem Jüngsten Gericht) werde Christus wiederkommen, um gemeinsam mit vielen auferstandenen Heiligen für tausend Jahre auf Erden zu regieren (Offb 20,1-6). Nun werden sie sagen: „Was soll daran problematisch sein? Es ist doch eine gute Nachricht. Was könnte schöner sein als ein tausendjähriger Friede unter der Herrschaft Jesu Christi? Wer möchte nicht dabei sein? Das ist doch eine schöne Perspektive!“ Trotzdem wird diese Lehre ausgerechnet in den Bekenntnissen der Reformation streng verworfen (vgl. CA XVII). Und der Grund ist bloß, dass sich im 16. Jahrhundert ein Teil der Täuferbewegung missbräuchlich auf diese Bibelstelle berief und sie für sich in Anspruch nahm. Da gab es Wirrköpfe, die meinten, sie sollten dem tausendjährigen Reich Christi mit Gewalt zum Durchbruch verhelfen. Die haben schreckliche Verwirrung gestiftet, die in einem Blutbad endete. Und sie haben damit die Schriftstelle, auf die sie sich beriefen, so in Misskredit gebracht, dass selbst die bibeltreuen Reformatoren nichts mehr davon hören wollten. Nur, freilich – was kann eine Bibelstelle dafür, wenn die falschen Leute sie für sich in Anspruch nehmen? Um die Sache zu verstehen, müssen wir einen Ausflug in die Reformationsgeschichte machen, nämlich nach Münster in Westfalen. Dort wurde das berüchtigte „Täuferreich“ von Bürgern gegründet, die ursprünglich der evangelischen Lehre anhingen, die aber 1534 unter den Einfluss niederländischer Prediger gerieten und es dann strikt ablehnten, Kinder zu taufen. Weil sie die (schon als Säuglinge getauften) erwachsenen Christen alle erneut taufen wollten, wurden sie „Wiedertäufer“ genannt. Und da sie weder Katholiken noch Lutheraner waren, fanden sie auch bei den Landesfürsten keinerlei Unterstützung. Es zogen aber weitere Täufer aus den Niederlanden nach Münster und trugen dort zur Radikalisierung bei, denn sie meinten, Opfer jener Verfolgungen zu sein, die Jesus für das Ende der Welt angekündigt hat. Die in Münster ansässige Gruppe war wirklich der Meinung, die Endzeit sei bereits angebrochen, das Jüngste Gericht stehe kurz bevor, und der Heilige Geist sei gerade bei ihnen so mächtig und präsent, dass nun das tausendjährige Reich Christi auf Erden Gestalt gewänne – in einer durch sie zu errichtenden Gottesherrschaft in Münster. Dieser Teil der Täuferbewegung war nicht friedlich, sondern gewaltbereit und lehnte die weltliche Obrigkeit ab. Ja, sie fühlten sich berufen, mit dem Schwert in der Hand der Wiederkunft des Herrn den Weg zu bereiten. Und 1534 übernahmen sie in Münster die Macht. Die bis dahin verbliebenen Lutheraner und Katholiken mussten die Stadt verlassen, wenn sie die Wiedertaufe verweigerten – so sollte die „Heilige Stadt“ von allen Ungläubigen gereinigt werden. Die Häuser der Vertriebenen wurden besetzt oder zerstört. Die Täufer stürmten die Kirchen und zerschlugen dort alle Kunstwerke und Bilder. Sie konfiszierten das öffentliche Eigentum und erzwangen so etwas wie einen christlichen Kommunismus. Denn sie erwarteten das unmittelbare Erscheinen Jesu Christi in Münster als dem auserwählten Ort, wo das himmlische Jerusalem hier auf Erden seinen Platz finden würde. Sie führten ein wüstes Regime. Denn für viele Vergehen wurde die Todesstrafe angedroht, wie z.B. für Gotteslästerung, Ungehorsam, Ehebruch, Unzucht, Geiz, Raffgier, Diebstahl, Betrug, Verleumdung, Streit, Zank, Murren und Aufruhr. An vielen ihrer Mitbürger vollstreckten sie das Todesurteil. Kritik war nicht erlaubt. Alle Bücher (außer der Bibel) wurden verbrannt – und das Ratsarchiv gleich dazu. Das Geld hat man abgeschafft. Und mit Rücksicht auf den Frauenüberschuss in Münster wurde die Vielweiberei eingeführt, so dass der Anführer der Bewegung – ein durchgeknallter Holländer – zuletzt 16 Ehefrauen hatte. Dieser Jan Bockelson van Leiden ließ sich zum „König von Münster“ ausrufen. Er sah sich als den neuen „König David“ und zugleich als den großen „Propheten“, der die Welt auf die Wiederkunft Christi und auf das Jüngste Gericht vorbereitet. 47 Bürger, die das mit der Vielweiberei nicht gut fanden, wurden willkürlich totgeschlagen. Größenwahn und Brutalität führten zu einer Schreckensherrschaft im Namen Gottes. Doch dann umzingelte eine Koalition aus evangelischen und katholischen Truppen die Stadt, die Bewohner mussten hungern – und zuletzt entschloss sich einer zum Verrat. So endete das Ganze in einem großen Gemetzel, die überlebenden Anführer wurden gefoltert und hingerichtet, und ihre Leichen zur Abschreckung in eisernen Käfigen an der Lambertikirche aufgehängt, wo man die Käfige heute noch sehen kann. Unnötig zu sagen, dass da großes Unrecht geschah! Die Dinge sind ganz furchtbar aus dem Ruder gelaufen. Und mit dem Friedensreich Christi, das die Johannesoffenbarung ankündigt, hatte es sehr wenig zu tun. Die Folge war aber trotzdem, dass keiner mehr etwas von dieser Bibelstelle hören wollte – und das tausendjährige Reich in der christlichen Lehre bis heute keinen rechten Platz gefunden hat. Deutungsversuche gab es zwar schon in der Alten Kirche, im Mittelalter und im Pietismus. Doch nur im evangelikalen Amerika ist es üblich geworden, dieses Thema mit der Lehre von der Entrückung zu verbinden (1. Thess 4,15-17; 1. Kor 15,51-52; Lk 17,34-36), die erste Auferstehung von einer zweiten zu unterscheiden (1. Kor 15,22-24), das Ganze mit weiteren Bibelstellen zu verknüpfen (Offb 5,10; 1. Kor 6,2; Mt 19,28; Apg 3,20; Dan 7,13-14.27) und dann über die Chronologie der Ereignisse zu streiten, ob denn wohl Christus zu Beginn des tausendjährigen Reiches sichtbar erscheint oder erst am Ende, nach den tausend Jahren. Doch – lohnt es sich, darüber zu streiten? Ich denke, es wird genau so kommen, wie Gott es für gut befindet. Und wenn es ein tausendjähriges Reich geben soll, werden genau die dabei sein, die dabei sein sollen. Ich sehe aber keinen Grund, mir über die Einzelheiten den Kopf zu zerbrechen. Wegen einiger Verse muss man das tausendjährige Reich nicht zum „Glaubensartikel“ erheben. Und noch viel weniger hat man Anlass zu leugnen, was dort geschrieben steht. Denn wie ein Ausleger zu Recht betont, ist es eine herrliche und tröstliche Perspektive: „Das Christentum durchdringt alle Verhältnisse und die Erde ist ein Schauplatz zur Verherrlichung Christi geworden. Leicht und siegreich ist der Kampf des Geistes mit dem Fleisch und der Kirche mit den Feinden des Heils. Das Gesetz Gottes ist die allgemeine Regel aller Völker, Empörungen und Kriege haben aufgehört, Pest und Seuche sind verschwunden, die Erde ist voll Erkenntnis der Ehre des Herrn, und die Menschheit sammelt allen Segen der vorangegangenen Jahrhunderte des Kampfes in einen Brennpunkt zusammen und lebt im vollen Vorgenuss der letzten, höchsten Vollendung“ (J. F. W. Arndt). Wahrlich, wenn das morgen begänne, hätte ich nichts einzuwenden. Ist an der biblischen Verheißung aber so gar nichts falsch – was lief dann falsch in Münster? Gibt es da Lehren zu ziehen? Mir scheint, der Fehler der Wiedertäufer war derselbe, der auch danach noch oft gemacht wurde – dass nämlich ungeduldige Menschen nicht warten wollen, bis das Himmelreich von selbst kommt, sondern meinen, sie könnten es herbeizwingen und dem Reich Gottes auf die Sprünge helfen. Immer wieder maßen sich Menschen an, diese alte Erde mit Gewalt in ein Paradies zu verwandeln. Und immer wieder machen sie genau damit eine Hölle draus – und richten mit ihrer Ungeduld den schlimmsten Schaden an. Denn diese Welt bringt das Reich Gottes nicht hervor wie die Henne das Ei. Und die Welt entwickelt sich auch nicht durch menschlich-kulturellen Fortschritt zum Reich Gottes. Sondern das Reich ist eine durchaus fremde, himmlische Größe – und drängt aus eigener Kraft gemäß seiner eigenen Logik von Gott her in diese Welt hinein. Wir führen es nicht herbei, sondern empfangen es wie ein Geschenk. Es bricht herein wie ein Sturm. Und es kommt auch erst, wenn es soll. Es kommt aber gewiss nicht, wenn wir eigenmächtig und ungeduldig danach greifen. „Naja, aber es wird doch Zeit!“ rufen die Hitzköpfe. „Lasst uns nur erst die Bösen erschlagen, dann herrscht endlich das Gute! Lasst uns die Lügner beseitigen, dann siegt überall die Wahrheit! Lasst uns die Tyrannen ermorden, und schon sind die Völker frei!“ Doch genau das hat nie wirklich funktioniert. Sondern immer ersetzt nur ein neuer Despot den alten. Und das Heil, das sich die Menschheit auf diesem Wege selbst verschafft, erweist sich regelmäßig als Unheil. Denn der Mensch ist stets von dem infiziert, was er bekämpfen will. Er tauscht nur eine Fahne gegen die andere – der Mensch selbst bleibt korrupt. Er ist eben nicht die Lösung, er selbst ist das Problem! Doch will der Mensch das nicht wissen – und will auch nicht warten, bis es Gott gefällt sein Friedensreich zu errichten, sondern, nein: Man will sich selbst helfen. Man hält sich für kompetent! Und als nach der Reformation die religiöse Hoffnung schwand, ersetzte man sie durch das Versprechen der profanen Weltbeglückung. Die Aufklärung versprach, der freie Vernunftgebrauch würde den Menschen ganz von selbst moralisch machen, klarsichtig, friedfertig und weise! Aber es kam anders, und auf das Licht der Vernunft folgten neue Dunkelheiten. Der Nationalsozialismus lebte von Heilsversprechen ganz eigener Art – wieder war man besoffen von der Vorstellung eigener Größe und Herrlichkeit. Doch bald stürzten die Völker in den Weltkrieg. Der Kommunismus versprach dann eine gerechte Gesellschaft, in der alle gleich sein sollten. Doch er produzierte nichts als Armut, Diktatur, neue Ungleichheit und Planwirtschaft. Der Kapitalismus versprach daraufhin, alle Menschen durch Wohlstand und Konsum satt und glücklich zu machen. Er sagte aber nicht dazu, dass sie dafür ihre Seele verkaufen und alle anderen Werte opfern müssten. Die moderne Technik versprach, dem Menschen jede schwere Arbeit abzunehmen. Sie zerstörte dafür aber seine Umwelt und die Ressourcen der Erde. Die 68er versprachen freies Denken und freie Liebe, „Sex & Drugs & Rock’n’Roll”. Tatsächlich schufen sie aber eine orientierungslose Kultur der Beliebigkeit und zerstörten familiäre Strukturen. Die Wissenschaft versprach, an die Stelle des Glaubens zu treten und auf alle Fragen der Menschheit verlässlich Antwort zu geben. Doch tatsächlich sind die Menschen heute verwirrter als zuvor, wissen gut und böse nicht zu unterscheiden – und müssen die KI fragen, wie man einen Nagel in die Wand schlägt. Alle sind für den Frieden und führen dennoch Krieg, weil sie einander nicht trauen können. Dass sie der Erlösung bedürfen, wollen sie nicht hören, schlucken aber heimlich Tabletten gegen ihre Depression. Dass sie Christus bräuchten, sehen sie nicht ein. Aber der Psychotherapeut soll es richten. Ja, mit aller Gewalt will die Menschheit selig werden – nicht viel anders als die Wiedertäufer zu Münster! Doch es bleibt dabei: Die Tür zum Himmel lässt sich nicht von außen eintreten. Sondern sie wird sich zu gegebener Zeit von innen öffnen, wenn Gott den Moment für gekommen hält. Da hilft es nichts, die vermeintlich Bösen zu erschlagen, die vermeintlich Ungläubigen aus der Stadt zu jagen, die Bücher zu verbrennen, das Geld abzuschaffen und die Vielweiberei einzuführen! Die Herrschaft Christi lässt sich nicht herbeizwingen. Sie kommt genau dann, wenn Gott meint, es sei an der Zeit. Wir können uns diesen Segen nicht nehmen, wenn er uns nicht in aller Freiheit von Gott gegeben wird. Und wenn‘s so weit ist, wird Christus nicht kommen, weil wir ihm den Weg so schön geebnet hätten (oder weil wir besser wären als unsre Väter), sondern einfach, weil er sich irgendwann unsre traurigen Versuche der Selbstbeglückung nicht mehr mit anschauen mag. Gottes Reich wird kommen – und natürlich ist es recht, dass wir darum bitten. Aber wer ihm nachhelfen will (wie die fanatischen Münsteraner und all die anderen Schreihälse), hat nichts begriffen. Sie meinten damals, sie hätten den Heiligen Geist aus Eimern gesoffen, so dass sie der Bibel und keiner Ordnung mehr bedürften. Sie dachten, sie wären berufen, Gottes Reich mit dem Schwert durchzusetzen. Sie meinten allein die wahrhaft Frommen zu sein und wollten erzwingen, was nicht von selbst kam. Doch – da wurde nichts draus. Und mehr als ein abschreckendes Beispiel haben sie der Welt nicht gegeben. Denn Gott lässt sich von uns die Uhr nicht stellen. Sein großes Finale kommt allemal pünktlich. Aber einen Fahrplan der Endereignisse hat er uns aus gutem Grund nicht gegeben. Denn Christus will die Welt mit seiner Wiederkunft überraschen (Mt 24,42-44). Und wir sollen bis dahin nicht gebannt auf den Kalender starren, sondern sollen in Ruhe die Pflichten erledigen, die uns Christus aufgetragen hat (Mt 24,45-51). Spurgeon erzählt, an einem Tag des Jahres 1780 sei es in Connecticut so dunkel gewesen, dass man in den Häusern das Licht anmachen musste. Selbst die Vögel wurden still und versteckten sich, und das Geflügel auf den Höfen ging schlafen. Wegen der bedrohlichen Düsternis hatten die Leute den Eindruck, der Jüngste Tag und das Weltende seien nun wohl gekommen. Selbst das Repräsentantenhaus vertagte seine Sitzung. Und in der Ratsversammlung schlug man vor, es auch so zu machen, dass man lieber nach Hause ginge. Doch ein Oberst Davenport erhob Einspruch und sagte: „Entweder ist der jüngste Tag da, oder er ist noch nicht da. Wenn es nicht so ist, so haben wir keine Ursache, zu vertagen; wenn es aber der Fall ist, so wünsche ich, bei der Erfüllung meiner Pflicht gefunden zu werden. Ich fordere also, dass Licht gebracht werde.“ Genau das ist die Haltung, die wir als Christen einnehmen sollen. Solange das Weltende ausbleibt, haben wir noch genug zu tun – und Spekulationen über den Termin nützen niemandem. Wenn das Weltende aber da ist und Christus wiederkommt, dann soll er uns nicht müßig, sondern bei der Arbeit finden. Wenn er kommt, werden wir uns freuen. Dann lassen wir die Hände sinken und machen Feierabend. Bevor er kommt, tun wir das aber auf keinen Fall. Denn Christus gab uns den Auftrag zu taufen, zu lehren und die Kirche zu erbauen. Wir sollen Hungrige speisen, Nackte kleiden, Familien gründen und Kinder erziehen. Wir sollen Gottes Wort studieren und zu seiner Ehre Gutes tun. Und keiner, als nur er selbst, soll uns davon abhalten. Wenn er dann selbst erscheint und uns unterbricht, so ist es genug, und wir legen die Arbeit weg. Wenn aber nicht, wollen wir bis dahin nicht schläfrig, sondern fleißig sein. Denn – wie steht‘s? Ist da etwa einer, der sagen könnte, seine Aufgabe sei schon ganz erfüllt und sein Haus schon restlos in Ordnung? Ist bei jemandem schon alles aufgeräumt und alles so vorbereitet, dass der Herr jederzeit kommen könnte? Falls aber nicht (falls unser Haus noch nicht bestellt ist, weil der Dreck noch in den Ecken liegt), und plötzlich steht Christus in der Tür – soll er uns da nicht wenigstens antreffen mit einem Besen in der Hand? Er wird überraschend kommen! Darum, klagen wir nicht zu sehr, wenn Gottes Reich auf sich warten lässt. Sondern nutzen wir die Zeit, die uns noch bleibt.